Entscheidungsstichwort (Thema)
Fehlende Entscheidung über Beweisantrag
Orientierungssatz
§ 109 SGG ist auf jeden Fall verletzt, wenn das Tatsachengericht weder durch besonderen Beschluß noch in den Urteilsgründen über einen - auch hilfsweise gestellten - Antrag nach § 109 SGG entscheidet (vgl BSG 1959-11-04 9 RV 862/56 = SozR Nr 26 zu § 109 SGG).
Normenkette
SGG § 109
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.10.1969) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Oktober 1969 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger bezieht in Ausführung des am 25. September 1957 vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) abgeschlossenen Vergleichs auf Grund des rechtsverbindlichen Bescheides vom 30. Juli 1958 für "leichte Herzmuskelschädigung ohne Beeinträchtigung der Herzleistung und geringfügige Veränderungen an den Schulter- und Kniegelenken nach abgeklungenem Gelenkrheumatismus" als Schädigungsfolgen i. S. der Entstehung seit 1. August 1952 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Nach Beiziehung zahlreicher ärztlicher Gutachten lehnte das Versorgungsamt die Verschlimmerungs- und Neufeststellungsanträge des Klägers vom Mai, Oktober und November 1962 mit Bescheid vom 10. September 1963 ab. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Während des Berufungsverfahrens erging am 7. März 1966 ein weiterer Bescheid, mit dem ein vor dem Sozialgericht (SG) am 10. November 1965 neu geltend gemachtes Nervenleiden als nicht schädigungsbedingt bezeichnet wurde. Das LSG hat Gutachten des Prof. Dr. A und des Prof. Dr. B nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eingeholt. Letzterem hat Dr. K vom Ärztlichen Dienst des Beklagten widersprochen, worauf der Kläger die erneute Anhörung des Prof. Dr. B (Schriftsatz vom 1. September 1969) beantragt hat. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG vom 21. Oktober 1969 hat der Kläger unter Übergabe eines Zeugnisses der Frau Dr. R vom 8. Oktober 1969 neben seinem Hauptantrag (Sachantrag) den Beweisantrag gestellt, Prof. Dr. B ergänzend zu seinem Gutachten vom 1. Juli 1969 von Amts wegen, hilfsweise nach § 109 SGG zu hören. Das LSG hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 21. Oktober 1969 zurückgewiesen und die Klage gegen den Bescheid vom 7. März 1966 abgewiesen. Es hat u. a. ausgeführt, die vom Kläger seit Mai 1962 gestellten Anträge hätten keine Grundlage für eine erneute Aufrollung und sachliche Prüfung seines gesamten bisherigen Vorbringens geschaffen. Soweit gegen die Nichtanerkennung einer Gesundheitsstörung Rechtsbehelfe nicht oder erfolglos eingelegt worden seien, seien diese Entscheidungen gemäß § 77 SGG für das Gericht bindend. Rechtskräftig abgelehnt sei die Anerkennung von Fuß- und Zehenverbildungen an beiden Füßen sowie der chronischen Gastritis mit Begleiterscheinungen. Der Versorgungsanspruch könne gemäß § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nur dann neu festgestellt werden, wenn in den Verhältnissen, die für seine Feststellung maßgebend gewesen seien, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Das sei nur der Fall, wenn sich anerkannte Schädigungsfolgen verschlimmert hätten oder weitere Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen anzuerkennen wären. Diese Voraussetzungen hätten nicht festgestellt werden können. Auszugehen sei von der durch das Urteil des Bayerischen LSG vom 16. Mai 1961 geschaffenen Rechts- und Sachlage, denn dieses habe den Versorgungsanspruch des Klägers auf der Grundlage des sozialgerichtlichen Urteils vom 16. März 1960 sowie des angefochtenen Bescheides vom 30. Juli 1958 i. S. des § 62 Abs. 1 BVG festgestellt. Für die Frage der Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen seien somit die damals erhobenen Befunde Vergleichsgrundlage, wie sie aus den Gutachten vom 11. Februar 1958 (Dr. K), vom 1. August 1959 (Dr. H/Dr. R) und vom 23. Dezember 1959 (Dr. B/Dr. K) ersichtlich seien. Dr E habe in seinem ärztlichen Zeugnis vom 4. Oktober 1963 die Befunde des orthopädischen Fachgebietes als seit dem Jahre 1956 unverändert bezeichnet. Dasselbe gelte für das Herzleiden. Dr. W habe insoweit die MdE zwar damals schon höher eingeschätzt, eine wesentliche Änderung aber sei seinen späteren Äußerungen hinsichtlich des Objektivbefundes nicht zu entnehmen und eine dahingehende Feststellung könne auf die Angabe vermehrter Beschwerden seitens des Patienten allein nicht gestützt werden. Das Gutachten des Prof. Dr. A begründe vielmehr die Überzeugung des Senates, daß hinsichtlich des anerkannten Herzleidens eine wesentliche Änderung (Verschlimmerung) nicht eingetreten sei. Den dargelegten ärztlichen Befunden sei auch kein Anhalt dafür zu entnehmen, daß die akute gelenkrheumatische Erkrankung vom Jahre 1942 fortbestanden und sich neuerlich verschlimmert habe. Aus dem Gutachten von Prof. Dr. B, Dr. B und Dr. Sp habe der Senat die Überzeugung gewonnen, daß die gelenkrheumatische Erkrankung des Jahres 1942 ausgeheilt gewesen sei und nur die als Schädigungsfolgen anerkannten unverändert gebliebenen Restschäden hinterlassen habe, so daß nur zu prüfen sei, ob gegenwärtig eine neue gelenkrheumatische Erkrankung entstanden sei und ob diese in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Wehrdienst oder mit den anerkannten Schädigungsfolgen stehe. Die hierzu in den ärztlichen Äußerungen vorgebrachten Anhaltspunkte seien in dem Gutachten des Prof. Dr. B, Dr. B und Dr. S erschöpfend gewürdigt worden. Die Gutachter seien zur Annahme eines im Frühstadium beginnenden primär chronischen Gelenkrheumatismus gelangt, hätten aber zugleich eingeräumt, daß nach den gegenwärtigen Befunden eine sichere Diagnose nicht möglich sei, und daß erst nach weiteren Jahren darüber entschieden werden könne, ob und welches Krankheitsbild sich etwa entwickle; somit handele es sich derzeit nur um eine Vermutungsdiagnose. Es fehle - wie Dr. K zutreffend dargelegt habe - an einer objektiv feststellbaren, nach § 1 BVG versorgungsrechtlich zu würdigenden Gesundheitsstörung, so daß insoweit über eine ursächliche Bedeutung des Wehrdienstes oder der anerkannten Schädigungsfolgen für den gegenwärtigen Gesundheitszustand des Klägers nicht entschieden werden könne. Dasselbe gelte für das vom Kläger als Schädigungsfolge geltend gemachte organische Nervenleiden, denn der ärztliche Sachverständige Dr. N habe ein solches nicht feststellen können. Die angefochtenen Bescheide hätten das Neufeststellungsbegehren des Klägers gemäß § 62 Abs. 1 BVG somit zu Recht abgelehnt. Sie seien deshalb zutreffend vom SG durch Klageabweisung bestätigt worden, die Berufung des Klägers sei zurückzuweisen. Der Bescheid vom 7. März 1966 sei nicht zu beanstanden und die gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gewordene Klage sei abzuweisen.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger u. a. die Verletzung des § 109 SGG. Das LSG habe ohne ausreichende Begründung Prof. Dr. B nicht gehört; eine Entscheidung über den am 21. Oktober 1969 hilfsweise nach § 109 SGG gestellten Antrag sei nicht ergangen.
Der Kläger beantragt,
1. die Urteile des LSG und des SG sowie die Bescheide vom 6. September 1963 (gemeint ist: 10. September 1963) und 7. März 1966 sowie den Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 1963 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger unter zusätzlicher Anerkennung von "Fuß- und Zehenverbildungen an beiden Füßen, Pilzerkrankung an der linken Hand und an beiden Füßen, chronischer rezidivierender Gastritis mit Hypersekretion und Subacidität; als Schädigungsfolgen i. S. der Entstehung sowie "geringfügiger Veränderungen an den Schultergelenken und Kniegelenken sowie Gelenkrheumatismus" als Schädigungsfolgen i. S. der Entstehung und "leichter Herzmuskelschädigung" i. S. der Verschlimmerung ab 1. Mai 1962 Rente nach einer MdE um 60 v. H. zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.
Er ist u. a. der Auffassung, daß nach dem Tatbestand des angefochtenen Urteils kein Antrag auf ergänzende Anhörung des Prof. Dr. B nach § 109 SGG gestellt worden sei, weshalb auch keine Entscheidung über einen derartigen Antrag habe ergehen können und müssen. Wegen der Einzelheiten des Vorbringens wird auf den Inhalt der Revisionsgegenäußerung vom 5. März 1970 verwiesen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164, 166 SGG). Sie ist i. S. einer Zurückverweisung der Sache an das LSG auch begründet.
Zutreffend rügt die Revision, das LSG habe ohne Begründung Prof. Dr. B zu seinem Gutachten vom 1. Juli 1969 nicht noch einmal gehört und eine Entscheidung über den dahingehend nach § 109 SGG gestellten Antrag nicht getroffen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG vom 21. Oktober 1969 zu seinem gestellten Sachantrag noch weiter beantragt, "Prof. Dr. B als ärztlichen Sachverständigen ergänzend zu seinem Gutachten vom 1. Juli 1969 zu hören", und zwar primär von Amts wegen, "hilfsweise nach § 109 SGG". Das LSG hat diesen Beweisantrag nach § 109 SGG weder im Urteilstatbestand erwähnt noch sich in den Urteilsgründen mit ihm auseinandergesetzt, es hat über ihn auch nicht durch besonderen Beschluß entschieden, sondern ihn einfach übergangen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG in SozR Nr. 26 zu § 109 SGG), ist aber § 109 SGG auf jeden Fall verletzt, wenn das Tatsachengericht wie hier weder durch besonderen Beschluß noch in den Urteilsgründen über einen Antrag nach § 109 SGG entschieden hat. Der Umstand, daß die Anhörung des bestimmten Arztes nach § 109 SGG nur hilfsweise vom Kläger beantragt worden war, begegnet keinen rechtlichen Bedenken (vgl. BSG aaO Nr. 17). Auch darauf, ob das LSG den Antrag nach § 109 SGG nur versehentlich oder nur deshalb nicht beachtet hat, weil Prof. Dr. B bereits nach § 109 SGG gehört worden war und - nach Auffassung des Berufungsgerichts - besondere Umstände das Verlangen des Klägers auf erneute Anhörung des Gutachters nicht rechtfertigten, oder weil es die Beweisfrage nicht mehr für rechtserheblich oder gar den Antrag als verspätet angesehen hat (vgl. BSG aaO Nr. 25 zu § 109 SGG), kann es bei dieser Sachlage ebensowenig ankommen wie darauf, ob sich der gestellte Antrag auch bei objektiver Betrachtungsweise in den Grenzen zweckentsprechender Rechtsverfolgung gehalten hat (vgl. BSG aaO Nr. 18). Ebensowenig braucht auf die Frage eingegangen zu werden, ob das LSG den Antrag, Prof. Dr. B von Amts wegen als ärztlichen Sachverständigen zu hören, im Urteilstatbestand hätte erwähnen und sich mit ihm vorweg hätte auseinandersetzen müssen. Denn auf Verfahrensmängel, die in dieser Unterlassung erblickt werden könnten, kommt es nicht mehr an, wenngleich sich das LSG mit dem Hauptantrag, Prof. Dr. B ergänzend von Amts wegen zu hören, vorweg hätte befassen müssen.
Da die festgestellte Verletzung des § 109 SGG die Revision bereits statthaft macht, braucht nicht geprüft zu werden, ob noch weitere Verfahrensverstöße des LSG vorliegen. Einer Erörterung des weiteren Revisionsvorbringens und einer Auseinandersetzung mit der Revisionsgegenäußerung bedarf es deshalb insoweit nicht.
Die Revision erweist sich auch als begründet, da nicht auszuschließen ist, daß das Urteil, wenn das LSG über den von ihm übergangenem Antrag nach § 109 SGG entschieden hätte, anders ausgefallen wäre und zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung geführt hätte. Da die vom LSG unterlassene Entscheidung im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen