Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörung im Verwaltungsverfahren. Nachholen der Anhörung. Mitteilung unzutreffender Tatsachen
Leitsatz (amtlich)
Zu den Voraussetzungen einer Anhörung nach § 24 Abs 1 SGB 10.
Orientierungssatz
1. Die nach § 41 Abs 1 und 2 SGB 10 nachgeholte Anhörung muß dieselbe rechtliche Qualität haben wie die vor Erteilung des Bescheides durchgeführte.
2. Die Anhörung muß jedenfalls für den Bürger ersichtlich machen, ob er sich zur Ausschöpfung seines Rechts auf rechtliches Gehör noch weitere Tatsachenkenntnis verschaffen kann oder sollte (vgl BSG 1982-03-30 2 RU 15/81 = USK 8238). Diesen Anforderungen entspricht die Anhörung nicht, die infolge objektiver Unrichtigkeit geeignet ist, den Beteiligten von der Beschaffung der Kenntnis über entscheidungserhebliche Tatsachen abzuhalten.
Normenkette
SGB 10 § 24 Abs 1 Fassung: 1980-08-18, § 41 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1980-08-18, § 41 Abs 2 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger im Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß angehört wurde.
Der Kläger bezog wegen der Folgen seines Arbeitsunfalles am 2. Februar 1979 vorläufige Verletztenrente in Höhe von zuletzt 10 vH der Vollrente. Vor der erstmaligen Feststellung einer Dauerrente ließ die Beklagte den Kläger von dem Facharzt für Chirurgie Oberarzt Dr. N. untersuchen und begutachten. In dem Gutachten vom 4. Dezember 1980, das am 12. Dezember 1980 einging, bezeichnete der Sachverständige die noch bestehenden Unfallfolgen wie folgt: "Leichte Schwellung des rechten Handgelenkes, Herabsetzung der groben Kraft rechts gegenüber links glaubhaft subjektive Beschwerden und röntgenologische Veränderungen"; die hierdurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bewertete er mit 10 vH. Der beratende Arzt der Beklagten Dr. W. gab am 22. Januar 1981 die folgende Beurteilung ab: "MdE auf Dauer weniger als zehn = - 10 %". Am selben Tage übersandte die Beklagte dem Kläger das folgende Schreiben: "... nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung bedingen die Folgen des Unfalls vom 02.02.79 keine meßbare MdE mehr. Wir beabsichtigen daher, durch Bescheid die Rente zu entziehen. Bezüglich des Unfalles vom 23.06.76 kündigen wir an, daß die 10 %ige Rente wegen dieses Unfalles ebenfalls zu entziehen ist, weil die Voraussetzung des § 581 Abs. 3 RVO - die MdE wegen mehrerer Unfälle muß zusammen wenigstens 20 v.H. ergeben - nicht mehr gegeben ist. Die jetzt vorgenommene Bewertung der Unfallfolgen zur Beurteilung der Dauerrente hat die oben genannte Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben. Diese Bewertung setzt eine Besserung gegenüber dem bisherigen Zustand nicht voraus. Entscheidend ist allein die neue Beurteilung der nachstehend aufgeführten Unfallfolgen: Leichte Schwellung des rechten Handgelenks. Sie haben Gelegenheit, sich innerhalb von 2 Wochen zu beiden Tatbeständen zu äußern (§ 24 des Sozialgesetzbuches (SGB X)".
Vor Ablauf der dem Kläger gewährten Frist, nämlich am 27. Januar 1981, übersandte die Beklagte den nunmehr angefochtenen Bescheid von demselben Tage, mit welchem sie die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats Februar 1981 entzog und die Zahlung einer Dauerrente ablehnte. Die Unfallfolgen beschrieb sie folgendermaßen: "Leichte Schwellung und geringfügige Bewegungseinschränkung des rechten Handgelenks nach mit geringer Stufenbildung knöchern ausgeheiltem Speichenbruch rechts." Dem Bescheid war ein Anschreiben beigegeben, in welchem es ua heißt: "Unter Hinweis auf unser Schreiben vom 22.01.81 geben wir Ihnen hiermit nochmals Gelegenheit, sich zu beiden Fällen zu äußern (§ 24 SGB X). Sofern Sie von Ihrem Recht, sich zu äußern, Gebrauch machen wollen, bitten wir um Nachricht bis 09.02.81, machen aber noch einmal darauf aufmerksam, daß Ihre evtl. Erwiderung nicht den Charakter eines Widerspruches oder einer Klage besitzen würde (siehe auch den letzten Absatz unseres Schreibens vom 22.01.81)".
Die gegen den Bescheid vom 27. Januar 1981 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Münster durch Urteil vom 17. Februar 1982 abgewiesen. Zwar habe die Beklagte den Kläger vor Erlaß des Bescheides nicht ordnungsgemäß angehört; dies sei jedoch durch das Schreiben vom 27. Januar 1981 in zulässiger Weise (§ 41 Abs 1 und 2 des Sozialgesetzbuches für das Verwaltungsverfahren -SGB X-) nachgeholt worden. Ein Rentenanspruch bestehe angesichts der schlüssigen Feststellungen des vom SG gehörten Sachverständigen nicht mehr.
Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat dieses Urteil geändert und den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 1981 aufgehoben (Urteil vom 10. August 1983). Zwar habe die durch die Folgen des Unfalles am 2. Februar 1979 bedingte MdE ab 1. Februar weniger als 10 vH betragen; die vorgeschriebene Anhörung des Klägers sei jedoch nicht ordnungsgemäß erfolgt. Die Beklagte habe dem Kläger nicht das Ergebnis der durchgeführten ärztlichen Untersuchung bei Dr. N. mitgeteilt. Die entsprechende Mitteilung in dem Schreiben vom 22. Januar 1981 sei unvollständig gewesen, so daß der Kläger davon habe ausgehen müssen, daß der Gutachter das Vorliegen einer rentenberechtigenden MdE verneint habe. Die Beklagte habe damit die für sie maßgebende Entscheidungsgrundlage bei ihrer Anhörung nicht unterbreitet. Dieses Versäumnis habe sie im Schreiben vom 27. Januar 1981 nicht nachgeholt. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet. Sie habe die vom Bundessozialgericht (BSG) herausgearbeiteten die Anhörung im Verwaltungsverfahren betreffenden Rechtsgrundsätze beachtet. Danach seien ungebührlich weit ausholende bzw uferlose Mitteilungen an den Verfahrensbeteiligten nicht erforderlich. Hierzu zähle aber die Bekanntgabe des ärztlichen Untersuchungsergebnisses ebenso wie die von dem Gutachter vorgeschlagene MdE. Das Schreiben vom 22. Januar 1981 habe es dem Kläger ermöglicht, die darin mitgeteilten Befunde mit denen in dem ersten Bescheid zu vergleichen. Diese allein seien entscheidungserheblich gewesen. Die Bewertung der dadurch bedingten MdE sei die zu treffende Entscheidung selbst gewesen und habe demgemäß nicht unterbreitet zu werden brauchen. Der Kläger habe der Mitteilung vom 22. Januar 1981 nicht entnehmen können, Dr. N. habe die MdE auf weniger als 10 vH geschätzt.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. August 1983 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 17. Februar 1982 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er ist nach seiner Meinung von der Beklagten nicht ordnungsgemäß angehört worden. Ihm hätte angesichts der unterschiedlichen Bewertung der MdE durch die von der Beklagten gehörten Gutachter mitgeteilt werden müssen, warum überhaupt noch ein Aktengutachten erforderlich gewesen war und die Beklagte diesem folgen wollte. Das Anhörungsschreiben habe den unrichtigen Eindruck erweckt, Dr. N. habe die MdE aufgrund seiner Untersuchung auf weniger als 10 vH eingeschätzt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat im angefochtenen Urteil aus Gründen, denen der erkennende Senat in allen Einzelheiten zustimmt, entschieden, daß der Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 1981 wegen Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 24 Abs 1 SGB X) rechtswidrig und folglich aufzuheben war.
Die hier maßgebliche Frage, ob der Kläger ordnungsgemäß angehört wurde, richtet sich bei Bescheiden, die seit dem 1. Januar 1981 erlassen worden sind, nach den Vorschriften des SGB X (Art II § 40 Abs 1 des Gesetzes vom 18. August 1980 - BGBl I 1469 -). Nach § 24 Abs 1 SGB X, welcher der bis dahin geltenden Vorschrift des § 34 Abs 1 SGB I entspricht, ist einem am Verwaltungsverfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in seine Rechte eingreift. Findet, wie hier, ein Vorverfahren nicht statt, darf die erforderliche Anhörung bis zur Klageerhebung nachgeholt werden (§ 41 Abs 1 Nr 3 und Abs 2 SGB X). SG und LSG haben demzufolge zutreffend geprüft, ob die Beklagte entweder durch ihre Mitteilungen im Schreiben vom 22. Januar 1981 oder diejenigen im Schreiben vom 27. Januar 1981 den Kläger ordnungsgemäß angehört hat. Dabei teilt der erkennende Senat die Meinung des LSG, daß die nach § 41 Abs 1 und 2 SGB X nachgeholte Anhörung dieselbe rechtliche Qualität haben muß wie die vor Erteilung des Bescheides durchgeführte. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X. Danach darf die "erforderliche" Anhörung des Beteiligten nachgeholt werden. Welche Anhörung erforderlich ist, bestimmt sich nach § 24 SGB X. Zudem hat der Gesetzgeber in § 42 Satz 2 SGB X die - gemäß § 24 SGB X - "erforderliche" der "wirksam nachgeholten" Anhörung gleichgesetzt und auch dadurch klargestellt, daß die Anhörung, welche nicht vor Erlaß des Verwaltungsaktes erfolgt, die Wirkung der vorherigen Anhörung haben muß.
Die gesetzliche Festlegung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Verfahren der Sozialverwaltung hat ähnliches Gewicht wie das Grundrecht des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren (BSGE 46, 57, 58; BSG Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 15/81 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl, S 231a ff). So wie Urteile nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden dürfen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (s zB § 128 Abs 2 SGG und § 108 Abs 2 der Verwaltungsgerichtsordnung), ist dem am Verwaltungsverfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 24 Abs 1 SGB X). Es soll vermeidbaren Eingriffen in die Rechte der Betroffenen grundsätzlich dadurch vorgebeugt werden, daß sie entweder vor Erlaß des Verwaltungsaktes oder jedenfalls in dem Zeitraum, in welchem sich die Entscheidung noch im Verantwortungsbereich der Behörde befindet und ggfs im Widerspruchsverfahren (§ 78 Abs 1 und 2 SGG) dem berechtigten Vorbringen des Beteiligten angepaßt werden kann, gehört werden (s hierzu schon BSG SozR 1200 § 34 Nrn 1, 4 und 12; BSG USK 7827). Der Versicherungsträger soll den beabsichtigten Eingriff und die hierfür erheblichen Tatsachen ankündigen bzw mitteilen oder den schon erlassenen Verwaltungsakt aufgrund des Vorbringens des Betroffenen ändern. Hierzu ist es notwendig, die entscheidungserheblichen Tatsachen dem Betroffenen in einer Weise zu unterbreiten, daß er sie als solche erkennen und sich zu ihnen sachgerecht äußern kann. Dabei genügt es, daß die Anhörung die Kenntnis der entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnisse so weit vermittelt, daß "Gelegenheit" zur Kenntnis- und Stellungnahme gegeben wird; dh die Anhörung muß jedenfalls für den Bürger ersichtlich machen, ob er sich zur Ausschöpfung seines Rechts auf rechtliches Gehör noch weitere Tatsachenkenntnis verschaffen kann oder sollte (BSG vom 30. März 1982 aa0 mit umfangreichen Nachweisen).
Diesen Anforderungen entspricht die Anhörung durch das Schreiben der Beklagten vom 22. Januar 1981 nicht, weil dieses Schreiben infolge objektiver Unrichtigkeit geeignet war, den Kläger von der Beschaffung der Kenntnis über entscheidungserhebliche Tatsachen abzuhalten (Brackmann, aaO, S 231 r).
Der Kläger ist am 25. November 1980 von Dr. N. untersucht worden. Die Untersuchung hat zu einer Einschätzung der MdE in Höhe von 10 vH im Gutachten vom 4. Dezember 1980 geführt. Demgegenüber heißt es in dem Schreiben der Beklagten vom 22. Januar 1981, "nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung bedingen die Folgen des Unfalles vom 02.02.79 keine meßbare MdE mehr". Da eine andere Untersuchung des Klägers als die durch den genannten Sachverständigen nicht durchgeführt und im Schreiben der Beklagten nicht ersichtlich gemacht worden war, daß die mitgeteilte MdE in Wirklichkeit in Abweichung von dem Ergebnis der Untersuchung durch Dr. N. geschätzt worden war, stimmten die Mitteilungen im Anhörungsschreiben und die erheblichen Tatsachen und Wertungen, welche der beabsichtigten Entscheidung zugrunde gelegt werden sollten, nicht überein. Dies widerspricht Sinn und Zweck der erforderlichen Anhörung. Der erkennende Senat hat wiederholt auf den engen Zusammenhang zwischen § 24 Abs 1 SGB X und der Absicht des Gesetzgebers, das Vertrauensverhältnis des Bürgers zum Träger hoheitlicher Gewalt zu festigen, hingewiesen (BSG SozR aaO Nr 4 und USK aa0). Hierzu ist eine zutreffende Unterrichtung vordringlich notwendig. Nur sie ermöglicht eine sachgerechte Entscheidung des Beteiligten darüber, ob er sich äußern oder sich zunächst weitere Tatsachenkenntnis verschaffen soll. Durch die in ihrem objektiven Erklärungsinhalt unzutreffende Mitteilung, der untersuchende Sachverständige habe das Vorhandensein einer rentenberechtigenden MdE verneint, wird dieser Entscheidung des Betroffenen im entscheidenden Punkte eine unrichtige Grundlage gegeben. Das Vorbringen der Revision im Schriftsatz vom 2. Januar 1984 liegt daher neben der Sache.
Das Anhörungsschreiben war in einem weiteren Punkte objektiv unrichtig. Während der Gutachter die oben aufgeführten Leiden als Unfallfolgen ansah und der beratende Arzt der Beklagten insoweit trotz Befragung keine Äußerung abgegeben hatte, wurden in dem Schreiben der Beklagten vom 22. Januar 1981 die Unfallfolgen anders als in dem Gutachten beschrieben, ohne daß ersichtlich ist, wer diese Formulierung festlegte. Der Kläger mußte dagegen aus den oben angeführten Gründen davon ausgehen, daß auch insoweit das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung und Bewertung mitgeteilt wurde.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der zuletzt genannte Mangel der Anhörung dadurch geheilt worden ist, daß dem Kläger zusammen mit dem weiteren Anhörungsschreiben vom 27. Januar 1981 der Bescheid am gleichen Tage übersandt wurde, in welchem die Unfallfolgen - allerdings entgegen seinem Wortlaut nicht aufgrund "ärztlicher Begutachtung" - genauer umschrieben sind. Denn das erneute Anhörungsschreiben hat die "erforderliche Anhörung" nicht "wirksam" nachgeholt, weil es bezüglich der MdE-Schätzung bei der unrichtigen Darlegung im Schreiben vom 22. Januar 1981 verblieb.
Soweit die Revision die erforderliche Aufklärung des Klägers im Rahmen des § 24 Abs 1 SGB X als uferlos und ungebührlich weit ausholend empfindet, erübrigt sich auf Grund des hier maßgebenden Sachverhalts und der bereits vom LSG dargelegten und vom BSG nun schon in ständiger Rechtsprechung näher begründeten Rechtsauffassung eine weitere juristische Diskussion.
Die Revision war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen