Leitsatz (amtlich)

Bei einer oberarmamputierten Ehefrau und Mutter eines kleinen Kindes ist für die Hilflosigkeit im Sinne des BVG § 35 allein der Leidenszustand infolge der Beschädigung und die hierdurch bedingte persönliche Wartung und Pflege maßgebend.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1957-07-01

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Bremen vom 8. August 1958 und des Sozialgerichts Bremen vom 12. Februar 1958 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die im Jahre 1922 geborene Klägerin ist verheiratet und Mutter eines 1958 geborenen Kindes. Sie erhält wegen Verlustes des linken Oberarms und wegen reizloser Narben an der rechten Bauchseite und am Oberschenkel Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 70 v.H. Bei der Berechnung ihrer Ausgleichsrente läßt die Versorgungsbehörde als Ausgleich für Mehraufwendungen im Haushalt, die durch die Schädigung bedingt sind, einen Teil des Einkommens des Ehemannes der Klägerin unberücksichtigt.

Im September 1956 hat die Klägerin beantragt, ihr eine Pflegezulage zu gewähren, weil sie als Hausfrau nicht das leisten könne, was eine andere Hausfrau mit zwei gesunden Armen zu leisten vermöge. Das Versorgungsamt (VersorgA.) hat diesen Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin bedürfe nur für einzelne Verrichtungen einer Hilfe und sei daher nicht hilflos im Sinne des § 35 BVG. Das Landesversorgungsamt ( LandesversorgA .) hat den Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG.) die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. September 1956 die einfache Pflegezulage zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG.) hat die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten nach Anhörung der Klägerin und Vernehmung der Sachverständigen Dr. S als unbegründet zurückgewiesen. Es hat die Klägerin als hilflos angesehen, weil sie täglich bei einer ganzen Reihe von Verrichtungen auf fremde Hilfe angewiesen sei. Die Klägerin habe Schwierigkeiten nicht nur bei der Wäsche und Pflege des verbliebenen Armes und beim Bestreichen von Broten, sie könne sich auch nicht allein an- und auskleiden, da bei der Art der Kleidung und Unterwäsche, die eine Frau zu tragen pflege, stets irgendwelche Ösen und Häkchen zu öffnen oder zu schließen seien. Darüber hinaus entspreche es dem normalen Ablauf des Lebens auch einer alleinstehenden, für sich selbst sorgenden Frau, daß sie - im Gegensatz zum Mann, der sich dabei üblicherweise der Hilfe Dritter bediene - einen kleinen häuslichen Bereich selbst bewirtschafte, insbesondere ihre Wohnung in Ordnung halte, die Mahlzeiten im wesentlichen selbst zubereite, das Geschirr säubere sowie ihre Kleidung selbst wasche und instandhalte. Diesem Unterschied in der Lebensweise von Mann und Frau habe auch das Bundesarbeitsgericht mit seiner Rechtsprechung zum Hausarbeitstag Rechnung getragen. Die Klägerin könne die erwähnten Tätigkeiten ohne fremde Hilfe gar nicht oder nur mit einem nicht zumutbaren Zeitaufwand verrichten. Zur höchstpersönlichen Lebenssphäre einer Frau gehöre schließlich auch die Pflege des Kleinkindes. Auch hierbei sei die Klägerin weitgehend auf Hilfe angewiesen.

Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision hat die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG. Bremen vom 8. August 1958 und des SG. Bremen vom 12. Februar 1958 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG. Bremen vom 8. August 1958 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 35 BVG: Das LSG. habe den Begriff der Hilflosigkeit verkannt, es hätte allein auf den Leidenszustand der Klägerin und die dadurch bedingte persönliche Pflege abstellen müssen und die Stellung der Beschädigten in ihrer Lebensführung - im weiteren Sinne - nicht berücksichtigen dürfen. Das LSG. habe bei der Prüfung der Hilflosigkeit zu Unrecht die Pflege des Kindes und die Tätigkeit der Klägerin als Hausfrau mitbewertet. Lasse man diese Umstände unberücksichtigt, so seien die notwendigen täglichen Verrichtungen, bei denen die Klägerin behindert sei, nicht so zahlreich, daß Hilflosigkeit angenommen werden könne. Zum mindesten rechtfertige der Umfang der erforderlichen Hilfe nicht, für die Pflege der Klägerin eine fremde Person in so erheblichem Maße in Anspruch zu nehmen, daß deren Hilfe oder Hilfsbereitschaft einen wirtschaftlichen meßbaren Wert haben würde, welcher durch die Rente nicht als mit abgegolten angesehen werden könnte.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die vom LSG. gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164 Abs. 1, 166 Abs. 1 SGG). Sie mußte Erfolg haben.

Mit Recht hat das LSG. die Berufung der Beklagten als zulässig angesehen. Die Berufung war nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen; denn das Urteil des SG. betrifft nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse, sondern die Erstfeststellung der Pflegezulage nach dem BVG; dem angefochtenen Bescheid ist ein anderer Bescheid, in dem erkennbar über die Gewährung der Pflegezulage entschieden worden ist, nicht vorausgegangen (vgl. BSG. 3 S. 271 (274), BSG. 8 S. 97; BSG. in SozR. SGG § 148 Bl. Da 5 Nr. 13 und Bl. Da 6 Nr. 17).

Das Berufungsgericht hat jedoch § 35 BVG verkannt. Nach dieser Vorschrift wird eine Pflegezulage gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Der Begriff der Hilflosigkeit ist im Gesetz nicht erläutert. Er ist dahin zu verstehen, daß derjenige Beschädigte hilflos im Sinne des § 35 BVG ist, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, also nicht nur für einzelne Verrichtungen, ganz oder in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt vielmehr, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSG. 8 S. 97, BSG. in SozR. BVG § 35 Bl. Ca 3 Nr. 7, BSG., Urteil vom 29.10.1959 - 8 RV 1019/57 - im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts - RVGer. - zu dem mit § 35 BVG fast wörtlich übereinstimmenden § 31 des Reichsversorgungsgesetzes, RVGer. 2 S. 188 und 207, 6 S. 43, 7 S. 218; vgl. ferner die Verwaltungsvorschrift Nr. 1 zu § 35 BVG, in der die Rechtsprechung des RVGer. zu § 31 RVG ihren Niederschlag gefunden hat).

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des RVGer. (a.a.O., ferner RVGer. 9 S. 267 und 12 S. 218) und des BSG. (a.a.O.) kommt es nach dem Wortlaut des § 35 BVG für die Entscheidung darüber, ob Hilflosigkeit vorliegt, allein auf den Leidenszustand des Beschädigten infolge der Schädigung und die hierdurch bedingte persönliche Wartung und Pflege an, während die Stellung des Beschädigten in seiner Lebensführung im weiteren Sinne unberücksichtigt bleiben muß. So ist es z.B. grundsätzlich unbeachtlich, ob der Beschädigte verheiratet ist oder nicht oder ob er sich - als männlicher Beschädigter - in einem frauenlosen Haushalt befindet (RVGer. 9 S. 267 und 12 S. 218; BSG. 8 S. 97). Die Pflegezulage ist mithin auf den höchstpersönlichen Lebensbereich des Beschädigten abgestellt. Alles, was außerhalb dieses höchstpersönlichen Bereichs liegt - z.B. Verpflichtungen des Beschädigten gegenüber anderen Personen und insbesondere gegenüber seiner Familie - muß für die Entscheidung nach § 35 BVG außer Betracht bleiben. Insoweit hat der Gesetzgeber andere Möglichkeiten des Ausgleichs vorgesehen, wie etwa die höhere Bewertung der MdE. bei besonderem beruflichen Betroffensein (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG), das auch bei einer Beschädigten in ihrer Stellung als Hausfrau und Mutter vorliegen kann, und wie bei der Gewährung orthopädischer Hilfsmittel (§ 13 BVG). Darüber hinaus verlangt § 35 BVG für die Gewährung der Pflegezulage einen solchen Grad von Hilflosigkeit, daß der Beschädigte nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Wesentlich für die nach § 35 BVG zu treffende Entscheidung sind daher allein die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die für die körperliche Existenz des Beschädigten, für die Pflege seiner Person notwendig sind, ohne die er nicht bestehen kann. Dabei handelt es sich z.B. um das An- und Auskleiden, Essen und Trinken, Waschen, Verrichten der Notdurft, die notwendige und mögliche körperliche Bewegung, geistige Erholung usw. Wenn auch der Begriff der notwendigen Verrichtungen in diesem Sinne nicht eng auszulegen sein wird, so müssen jedoch bei der Prüfung, ob ein Beschädigter hilflos ist, jedenfalls diejenigen Verrichtungen außer Betracht bleiben, die mit der Pflege und Wartung seiner Person nicht unmittelbar zusammenhängen. Insoweit kann es auch keinen Unterschied machen, ob es sich bei dem Beschädigten um eine Frau oder um einen Mann handelt. Zu den bei der Beurteilung der Hilflosigkeit der Klägerin zu berücksichtigenden Verrichtungen gehört danach entgegen der Ansicht des LSG. weder die Pflege des Kindes noch die Bewirtschaftung des Haushalts oder eines kleinen häuslichen Bereichs. Zwar fällt die Pflege der Kleinkinder in den Lebensbereich der Frau als Mutter, aber sie gehört nicht zur Pflege der Person der Beschädigten, für die allein die Pflegezulage bestimmt ist. Im übrigen handelt es sich bei dem Verhältnis zwischen der Klägerin und ihrem Kind um eine Auswirkung der Eigenschaft der Klägerin als Ehefrau, also um die Stellung der Beschädigten in ihrer Lebensführung im weiteren Sinne, die bei der Beurteilung der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG außer Betracht bleiben muß. Soweit es sich um Verrichtungen im Haushalt handelt, ist das LSG. zunächst mit Recht davon ausgegangen, daß die Führung des Familienhaushalts als Ausfluß der Stellung der Klägerin als Ehefrau bei der Prüfung der Hilflosigkeit nicht zu berücksichtigen ist. Dies wäre allenfalls im Rahmen der Prüfung, ob ein besonderes berufliches Betroffensein vorliegt, von Bedeutung. Dem Berufungsgericht kann jedoch darin nicht gefolgt werden, daß bei einer Frau im Gegensatz zum Mann grundsätzlich die Bewirtschaftung eines kleinen häuslichen Bereichs zu den für die Entscheidung nach § 35 BVG wesentlichen gewöhnlichen Verrichtungen gehört. Es mag zwar zutreffen, daß auch eine alleinstehende, für sich selbst sorgende Frau üblicherweise einen kleinen häuslichen Bereich selbst in Ordnung hält und bewirtschaftet, während ein Mann sich dazu in der Regel der Hilfe Dritter bedient. Diese unterschiedliche Lebensweise der Geschlechter ist für die Entscheidung, ob ein Beschädigter hilflos ist, rechtlich ohne Bedeutung; denn auch bei einer alleinstehenden Frau gehört die Bewirtschaftung des eigenen häuslichen Bereichs nur insoweit zu den notwendigen Verrichtungen im Sinne des § 35 BVG, als sie der Pflege und Wartung der Person der Beschädigten allein und unmittelbar dient. Das ist jedenfalls bei der Instandhaltung und Reinigung der Wohnung allgemein nicht der Fall. Das Berufungsgericht hat insoweit den Begriff der Hilflosigkeit verkannt und damit § 35 BVG verletzt. Sein Urteil war deshalb aufzuheben.

Der Senat konnte in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG), da die vom LSG. getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die mit der Revision nicht angegriffen und daher für das BSG. bindend sind (§ 163 SGG), für die Entscheidung über den Anspruch der Klägerin ausreichen. Nach diesen Feststellungen - soweit sie die notwendigen Verrichtungen betreffen - bedarf die Klägerin fremder Hilfe bei der Wäsche und Pflege des verbliebenen Armes, beim An- und Auskleiden, beim Bestreichen von Broten und bei der Zubereitung von Mahlzeiten sowie bei der Pflege ihrer Bekleidung und Wäsche. Die Notwendigkeit von Hilfe bei diesen Verrichtungen reicht jedoch nicht aus, Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG zu begründen; denn es sind nur einzelne, nicht aber "die" gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, bei denen die Klägerin Hilfe benötigt, und sie bedarf der Hilfe nicht dauernd und in erheblichem Umfang, sondern nur gelegentlich in verhältnismäßig geringfügigem Maße. Der durch die Schädigung bedingte Leidenszustand der Klägerin macht es weder erforderlich, daß die Hilfe fortwährend geleistet wird, noch daß sie jederzeit bereit sein muß. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage sind daher bei der Klägerin nicht erfüllt. Ihre Klage war mithin auf die Revision der Beklagten unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 20

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