Leitsatz (amtlich)
Bei einer Kiefer- oder Zahnstellungsanomalie, die noch nicht zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der vom Gebiß abhängigen Funktionen geführt hat, ist kieferorthopädische Behandlung auch dann notwendig, wenn die Gefahr der Verschlimmerung zwar nicht wahrscheinlich ist, anderseits aber auch keine entfernte Möglichkeit darstellt, und wenn die Entwicklung des Gebisses nur in bestimmten Phasen des Frühstadiums günstig beeinflußt werden kann, bei rechtzeitiger Einleitung der Behandlung jedoch eine Verbesserung des anomalen Zustands gewährleistet erscheint.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 21. August 1972 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger ist versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK).
Der Zahnarzt P aus L stellte bei dem am 5. März 1959 geborenen Sohn Lutz des Klägers eine "Lückenenge 3+3, 3- durch Mesialstand der 6+6, 6-, Steilstand der Front, Mißverhältnis zwischen Zahn- und Kieferbreiten, Nichtanlage der +5, -5, transversale Kieferenge" bei Rücklage des UK um ungefähr 1/3 Pb fest. In dem am 15. Dezember 1969 aufgestellten kieferorthopädischen Behandlungs- und Gebührenplan hielt er eine "Gegenextraktion 4+ und 4-, Ausformung des Zahnbogens, Einstellung in Neutralbiß" für erforderlich. Die voraussichtliche Behandlungsdauer wurde auf 3 Jahre, die Gesamtkosten der Behandlung wurden auf 1.280,- DM veranschlagt. Nach Meinung von Zahnarzt P war die Behandlung "aus paradontalprophylaktischen, aus kariesprophylaktischen, kosmetischen, kaufunktionellen und psychologischen Gründen erforderlich".
Der Kläger reichte den kieferorthopädischen Behandlungs- und Gebührenplan am 18. Dezember 1969 bei der Beklagten ein. Diese veranlaßte eine gutachtliche Überprüfung durch den Fachzahnarzt für Kieferorthopädie Dr. von D aus L. Dr. von D führte in seiner Stellungnahme vom 29. Dezember 1969 aus, daß eine Behandlung in dem von dem behandelnden Zahnarzt angegebenen Umfange, allerdings ohne Bißverschiebung, die wahrscheinlich nicht notwendig sei, zu erfolgen habe. Er empfahl, zu der Behandlung einen Zuschuß zu gewähren.
Mit Bescheid vom 23. Januar 1970 erklärte sich die Beklagte bereit, zu den Behandlungskosten für jeden Monat der vorgesehenen Behandlungsdauer 12,- DM, insgesamt also 432,- DM, als Zuschuß zu gewähren. Diesem Bescheid widersprach der Kläger am 22. April 1970, weil es sich bei der Kieferanomalie seines Kindes um eine Krankheit im Sinne des § 182 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) handele, für die die Beklagte in vollem Umfange aufzukommen habe. Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies diesen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 1970 zurück: Im vorliegenden Falle handele es sich nicht um eine Krankheit, sondern um eine vorbeugende gesundheitsfürsorgerische Maßnahme. Zu derartigen Maßnahmen könnten gemäß § 187 Nr. 4 RVO in Verbindung mit § 20 Abs. 1 Ziff. 5 der Kassensatzung Zuschüsse gewährt werden.
Mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) beantragte der Kläger, den Ablehnungsbescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die vollen Kosten der kieferorthopädischen Behandlung seines Sohnes Lutz zu übernehmen. Das SG ließ sich von dem behandelnden Zahnarzt P einen Zwischenbericht geben, wonach sich das Gebiß zufriedenstellend entwickelt habe, die kieferorthopädische Behandlung aber noch fortgesetzt werden müsse. Weiterhin hörte das SG den Wissenschaftlichen Oberrat, Facharzt für Kieferorthopädie, Dr. M, als Sachverständigen, der folgendes Gutachten erstattete:
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"1) |
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Aufgrund der Kiefermodelle, die dem Befund vom 8.12.1969 entsprechen, und der Röntgenfilme ist festzustellen, daß ein Wechselgebiß vorlag. Bei einem Engstand der Zahnkronen, der bei einem Frontzahnbreitenwert von 33 mm eine transversale Zahnbogenenge von 3 mm aufweist, ist im besonderen die Nichtanlage der zweiten Backenzähne der linken Seiten des Ober- und Unterkiefers zu erwähnen. Obwohl erhebliche Komponenten mit zwei sich entsprechenden Zahnnichtanlagen die Anomalie kennzeichnen, ist diese als nicht schwerwiegend anzusprechen. |
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2) |
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In der Gegenüberstellung von "notwendig" und "wünschenswert" würde ich nach meinem ärztlichen Ermessen eine kieferorthopädische Behandlung als "wünschenswert" und damit als vorbeugende Maßnahme angeraten erachten. Begründung: Der weitere Entwicklungsablauf des Gebisses konnte zum Zeitpunkt der Befunderhebung nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden. |
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3) |
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Der Beweis einer Verbesserung oder Verschlechterung der Gebißsituation ohne kieferorthopädische Maßnahmen ließe sich nur im individuellen Einzelfall nach dem Abschluß des Wachstums erbringen. Im Falle einer Verschlechterung wären jedoch günstige Phasen der Entwicklungsbeeinflussung versäumt. |
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4) |
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Durch die rechtzeitig eingeleitete kieferorthopädische Behandlung werden die Verbesserungen der infrage stehenden Gebißfunktionen gewährleistet. Im vorliegenden Fall handelt es sich meines Erachtens um begründete gesundheitsfürsorgerische Maßnahmen." |
Das SG wies die Klage ab; die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 6. Januar 1972). Es hat die Behandlung nur als vorbeugende gesundheitsfürsorgerische Maßnahme zur Verhütung von Erkrankungen angesehen.
Mit der Berufung hat der Kläger sein Klageziel weiterverfolgt. Der vom Landessozialgericht (LSG) gehörte Sachverständige, Facharzt für Kieferorthopädie Prof. Dr. Dr. R, Kiel, hat folgende Stellungnahme (18. August 1972) abgegeben:
"Zu den mir im Schreiben vom 18.7.72 vorgelegten Fragen, kann ich wie folgt, schriftlich Stellung nehmen:
In diesem Fall liegt eine Krankheit nicht vor.
Auch nach den jetzt getroffenen Vereinbarungen zwischen Zahnärztekammer und Krankenkassenverband, den sog. Änderungsvereinbarungen zum Bundesmantelvertrag vom 1.1.72, ist die hier vorhandene Abwegigkeit nicht als Krankheit zu bezeichnen. Der bei diesem Bundesmantelvertrag aufgestellte Sachkatalog enthält nicht Abwegigkeiten der Art, wie sie im Fall G vorliegen. Als Krankheit werden nach diesem Katalog nur jene Befunde gewertet, bei denen die Natur keine Möglichkeit hat, ohne zusätzliche ärztliche Maßnahme, schwere Beeinträchtigungen, sofern sie bereits eingetreten sind, auszugleichen, oder deren Entstehung auf die Dauer wirksam zu verhindern.
Die im Falle G vorliegenden Abwegigkeiten sind so relativ gering, daß selbst bei Nichtbehandlung mit stärkerer Beeinträchtigung kaum zu rechnen ist. Dennoch wird in solchen Fällen die Behandlung als "wünschenswert" zu bezeichnen sein, da niemand im voraus absolut feststellen kann, inwieweit dennoch durch Hinzukommen anderer Entwicklungsstörungen nicht doch diese jetzt noch geringe Abwegigkeit zu weiterer Verschlechterung führt. Bei der Gegenüberstellung von "notwendig" und "wünschenswert" ist daher insofern zu unterscheiden, als "notwendig" beinhaltet: bereits vorhandene krankhafte Erscheinungen oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwartende Erkrankungen; während "wünschenswert" in diesem Zusammenhang beinhaltet, daß zwar gewisse Einschränkungen in der Entwicklung eintreten können, indessen nicht "müssen", und daß daher die Ungewißheit es rechtfertigt, eine kieferorthopädische Behandlung einzuleiten im Sinne der Steuerung des Wachstums. Hier ist es dann seitens der Kassen üblich, bei diesen Vorsorgemaßnahmen einen Bezuschussungsbetrag zur Verfügung zu stellen.
Zusammengefaßt kann festgestellt werden, daß hier die Voraussetzungen für den Begriff "Krankheit" nicht gegeben sind, und daß daher seitens der Kasse in der in solchen Fällen üblichen Weise verfahren wurde, indem ein Bezuschussungsbetrag zur Verfügung gestellt wurde."
Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 21. August 1972). Es hat die Kiefer- und Zahnfehlstellung bei Beginn der Behandlung von Lutz G. als relativ geringfügig angesehen. Gestützt auf die gutachtlichen Stellungnahmen von Prof. Dr. R und Dr. M, die eine kieferorthopädische Behandlung als nicht notwendig, jedoch wünschenswert bezeichnet hatten, ist das LSG zu dem Schluß gekommen, bei Lutz G. habe eine Gebißanomalie vorgelegen, deren Korrektur durch kieferorthopädische Maßnahmen zwar zur Vorsorge wünschenswert, jedoch nicht notwendig gewesen sei, um einen bestehenden Krankheitszustand zu beheben oder einen ohne Behandlung wahrscheinlich eintretenden Krankheitszustand zu vermeiden.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt mit dem Antrag,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Ablehnungsbescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung des Sohnes Lutz des Klägers voll zu übernehmen.
Er hat zur Begründung der Revision geltend gemacht: Die im vorliegenden Rechtsstreit erstatteten Gutachten bewegten sich noch in dem Gedankengang der vom Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen beschlossenen "Richtlinien" vom 23. August 1971. Möglicherweise seien sie durch eine Betrachtung beeinflußt, die nicht mit der jetzigen geläuterten Rechtsanschauung übereinstimme, wie sie in den Urteilen des erkennenden Senats vom 20. Oktober 1972 ihren Niederschlag gefunden habe. Dieser habe schon immer den Standpunkt vertreten, es sei sinnvoller, ein Leiden im Keime zu ersticken, als später Schaden zu beseitigen.
Die Beklagte hat um Zurückweisung der Revision gebeten. Sie ist der Auffassung, daß auch nach der vom Kläger zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Kiefer- und Zahnstellungsanomalie des Lutz G. keine behandlungsbedürftige Krankheit sei.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG die Klage als abweisungsreif erachtet.
Zutreffend hat der Kläger gerügt, das LSG habe seine Feststellungen über den Krankheitswert und die Behandlungsbedürftigkeit der Kiefer- und Zahnstellungsanomalie beim Kind des Klägers auf Gutachten gestützt, die den Befund und die Prognose mit unrichtigen rechtlichen Beurteilungen und Erwägungen verquickt hätten. Die gutachtlichen Stellungnahmen der beiden Sachverständigen tragen die Feststellungen des LSG insoweit, als davon auszugehen ist, daß bei Beginn der kieferorthopädischen Behandlung des Lutz G. eine nicht schwerwiegende Kiefer- und Zahnstellungsanomalie vorlag, die noch nicht die Kaufähigkeit wesentlich beeinträchtigte. Des weiteren steht fest, daß für den Fall der Unterlassung einer kieferorthopädischen Behandlung die künftige Entwicklung des Gebisses - im Sinne einer Verbesserung oder Verschlimmerung der Gebißsituation - nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden konnte, daß jedoch bei rechtzeitiger Einleitung der kieferorthopädischen Behandlung eine Verbesserung gewährleistet erschien.
Die hieran geknüpfte Schlußfolgerung der Sachverständigen, die festgestellte Gebißsituation stelle nicht "Krankheit" dar und die kieferorthopädische Behandlung sei in diesem Falle zwar "wünschenswert", aber nicht "notwendig", greift in den Bereich der rechtlichen Beurteilung über und überschreitet somit die Grenzen einer gutachtlichen Stellungnahme aus medizinischer Sicht. Zu Unrecht hat das LSG diese unzulängliche Terminologie, die zur sachgemäßen Abgrenzung des versicherungsrechtlichen Begriffs der Behandlungsbedürftigkeit nicht ausreicht, übernommen und hierauf gestützt die Behandlungsbedürftigkeit schon deshalb verneint, weil die drohende Gefahr der Verschlimmerung nicht nachgewiesen sei.
Der Senat ist allerdings bisher davon ausgegangen, daß Verschlimmerung wahrscheinlich sein müsse, wenn ein Leiden, das zur Zeit noch keine Schmerzen oder Beschwerden verursache, bereits im Frühstadium als behandlungsbedürftig anzuerkennen sei (BSG 13, 134, 136; 30, 151, 153 mit weiteren Nachweisen; vgl. neuerlich im Hinblick auf Kiefer- und Zahnstellungsanomalien Urteil vom 20. Oktober 1972 - 3 RK 93/71 -). Auch bei diesen Entscheidungen lag jedoch das Schwergewicht auf der Erwägung, daß Erkrankungen, die sich zunächst noch nicht sonderlich belastend für den Erkrankten erweisen, in dessen Interesse - aber "auch im wohlverstandenen Interesse der Versichertengemeinschaft" (BSG 13, 134, 136) - so früh wie möglich zu bekämpfen sind, um bei ihm schwere, möglicherweise nicht mehr behebbare Gesundheitsschäden hintanzuhalten.
Unter diesem Gesichtspunkt muß der wahrscheinlichen Gefahr der Verschlimmerung eine Situation gleichgestellt werden, bei der diese Gefahr zwar nicht wahrscheinlich ist, andererseits aber auch keine entfernte Möglichkeit darstellt, bei der ferner die Entwicklung des Gebisses nur in bestimmten Phasen des Frühstadiums günstig beeinflußt werden kann, bei rechtzeitiger Einleitung der Behandlung jedoch eine Verbesserung des anomalen Zustands gewährleistet erscheint. In einem solchen Fall muß das Risiko, das in einer unterlassenen oder zu spät eingeleiteten Behandlung liegt, in Vergleich zu dem Ausmaß und zu der Schwere der Gefährdung gesetzt werden. Bei einer solchen Sachlage, bei der - auf die kieferorthopädische Behandlung bezogen - von einem verantwortungsbewußt handelnden Elternteil erwartet werden muß, daß er ein gefährdetes Kind behandeln läßt, ist die Behandlung notwendig.
Das LSG hat den Sachverhalt unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt noch nicht gewürdigt und deshalb auch davon abgesehen, die entsprechenden Feststellungen zu treffen. Das wird nachzuholen sein, um gestützt auf Diagnose und Prognose - diese sowohl für den Fall der Behandlung als auch des Nichtbehandeltwerdens - die Entscheidung über die Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung im vorliegenden Fall treffen zu können.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen