Verfahrensgang
LSG Hamburg (Urteil vom 28.04.1976) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. April 1976 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger betreibt auf der Reeperbahn in Hamburg die Discothek „Top Ten Club”. In dieser Discothek treten auch Show-Kapellen auf. Die Beteiligten streiten darüber, ob für die Mitglieder dieser Kapellen Beiträge zur Sozialversicherung zu entrichten sind.
Die Beklagte forderte aufgrund einer Betriebsprüfung von dem Kläger Beiträge für die Mitglieder der Kapellen in Höhe von 60.706,50 DM für die Zeit vom 1. Dezember 1968 bis 31. August 1971 nach. Sie legte dabei die jeweils an die Kapellen ausgezahlte Gesamtgage zugrunde. Für welche Personen im einzelnen diese Beiträge erhoben wurden, war in dem Bescheid nicht ausgewiesen, da aus den Unterlagen des Klägers lediglich die Namen der Kapellen, nicht aber die Namen und Anschriften der Mitglieder ersichtlich waren.
In seinem Widerspruch wies der Kläger daraufhin, daß die Gesamtgage nicht nur aus dem Lohn für die Mitglieder der Kapelle bestehe, sondern auch noch 10 % Maklercourtage sowie einen Unkostenbeitrag für Musikinstrumente, Gerätschaften, Berufskleidung, Fahrtkosten, Unterbringung, Verpflegung, eigenes Fahrzeug, Podiumsdiener und Noten enthalte. Im übrigen seien die Musiker versicherungsfrei gewesen, da sie nicht zu ihm in einem Abhängigkeitsverhältnis gestanden hätten. Sie seien nicht nur bei ihm auf getreten, sondern hätten in der gleichen Zeit auch Schallplatten aufgenommen und seien bei privaten Veranstaltungen aufgetreten. Die englischen Kapellen seien auch deshalb versicherungsfrei gewesen, weil für sie Steuern und Sozialversicherungsabgaben in England entrichtet worden seien. Im einzelnen lasse sich das allerdings nicht mehr feststellen, da ihm die Namen der Musiker unbekannt seien.
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten aufgehoben (Urteil vom 9. Dezember 1974). Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts –LSG– Hamburg vom 28. April 1976). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Die Beitragspflicht des Arbeitgebers setze die Entscheidung über die Versicherungspflicht bestimmter, namentlich bezeichneter Beschäftigter voraus. Anders sei nicht festzustellen, welche Lohnsumme auf jeden Beschäftigten entfalle und ob nicht vielleicht teilweise Versicherungsfreiheit bestehe. Auch werde es den Versicherten unmöglich, aus den Beiträgen Leistungen zu erhalten, wenn die Beiträge nicht auf einem auf ihren Namen geführten Beitragskonto gebucht würden. Die Folgen von Ermittlungsschwierigkeiten seien nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast von der Beklagten zu tragen.
Mit der Revision macht die Beklagte geltend, daß eine Umkehrung der Beweislast eintrete, wenn der Arbeitgeber durch sein Verhalten die Feststellung der für die Entscheidung über die Versicherungspflicht erforderlichen Tatsachen schuldhaft vereitelt habe. Sie beruft sich dazu auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 6. Februar 1974 (12 RK 30/72) und 29. April 1976 (12/3 RK 38/75). Ein solcher Fall liege hier vor. Im übrigen komme eine Versicherungsfreiheit nicht in Betracht, da es sich bei den beim Kläger aufgetretenen Kapellenmitgliedern um Berufsmusiker gehandelt habe.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Hamburg vom 28. April 1976 und des SG Hamburg vom 9. Dezember 1974 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf das angefochtene Urteil. Für den Fall, daß dem Urteil nicht gefolgt wird, weist er daraufhin, daß eine Zurückverweisung erforderlich sei. Er macht geltend, daß bisher der Einwand unberücksichtigt geblieben sei, daß in der Gage auch Teile enthalten gewesen seien, die nicht dem Lohn zugerechnet werden könnten. Im übrigen sei noch aufzuklären, daß ihn nicht in erster Linie ein Verschulden dafür treffe, daß Aufzeichnungen über die Namen der einzelnen Musiker nicht vorgenommen worden seien. Die Beklagte habe anläßlich der Prüfungen im Jahre 1968, 1971 und 1973 nicht darauf hingewiesen, daß die bisherige Praxis zu beanstanden sei. Im übrigen habe sich der Kläger bei Auftritten von Ausländern in jedem Einzelfall ausdrücklich bestätigen lassen, daß ausländische Sozial Versicherungsbeiträge für die in den Kapellen beschäftigten Musiker bezahlt würden.
Die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) hat sich dem Antrag der Beklagten angeschlossen. Sie bezieht sieh auf die Urteile des BSG vom 29. April 1976 (12/3 RK 66/75 und 12/3 RK 58/75).
Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit (BA) hat keinen Antrag gestellt.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Zutreffend wendet sich die Revision dagegen, daß das Berufungsgericht aufgrund seiner Feststellungen die Pflicht des Klägers zur Beitragsentrichtung verneint hat. Die Beitragsforderung der Beklagten setzt voraus, daß Beiträge für abhängig Beschäftigte zu entrichten waren, die gleichzeitig kranken-, rentenversicherungs- und arbeitslosenversicherungspflichtig waren (§§ 393 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung –RVO–, 119 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes –AVG–, 176 des Arbeitsförderungsgesetzes –AFG–). Insoweit hängt die jeweilige Beitragspflicht von der Versicherungspflicht der betroffenen Arbeitnehmer ab. Die Beitragspflicht ist die zwingende Rechtsfolge der Versicherungspflicht (BSGE 37, 114, 115; BSGE 15, 118, 122 f). Wer in den Versicherungszweigen der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig ist, richtet sich nach den gesetzlichen Vorschriften über die Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit. Erst wenn danach die Voraussetzungen der Versicherungspflicht erfüllt sind, entsteht ein Sozialversicherungsverhältnis, aus welchem die Pflicht entsteht, Beiträge zu leisten (vgl. Bley, Sozialrecht, 1975, S. 70). Daraus folgt, daß der Beitragsbescheid mehrere voneinander abhängige und in ihrer Reihenfolge nicht austauschbare Einzelentscheidungen enthält, nämlich zunächst die Entscheidung über die Versicherungspflicht, dann diejenige über die Beitragspflicht, die Entscheidung über die Beitragshöhe und die Entscheidung über den Zahlungspflichtigen. Um diese Entscheidungen fällen zu können, ist es erforderlich, Feststellungen darüber zu treffen, ob es sich nach den Umständen, unter denen die Tätigkeit verrichtet wurde, um eine abhängige Beschäftigung handelte. Darüberhinaus ist zu prüfen, ob ein Tatbestand vorliegt, der Versicherungsfreiheit begründet, die Beitragshöhe ist zu ermitteln und schließlich kommt es darauf an, ob es sich etwa um eine unständige Beschäftigung handelte (§ 441 RVO), die neben der Beitragsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung (§ 169 Nr. 7 AFG) zur Folge hätte, daß die Beiträge zur Krankenversicherung nicht vom Arbeitgeber zu entrichten wären (§§ 450 Abs. 2, 453 RVO). Schließlich muß aber auch möglichst weitgehend sichergestellt werden, daß die Beiträge einer bestimmten Person zugerechnet werden können, damit diese hieraus erforderlichenfalls sozialversicherungsrechtliche Ansprüche herleiten kann.
Diesen Verpflichtungen kann die Beklagte größtenteils nur dann nachkommen, wenn ihr Name und Anschrift der tätig gewordenen Personen bekannt sind.
In der überwiegenden Zahl aller Fälle tritt die Einzugsstelle allerdings wegen der Eigenart des hierbei entwickelten Verfahrens beim Beitragseinzug nicht unmittelbar in Erscheinung. Der Arbeitgeber entscheidet nämlich zunächst selbst darüber, welche der für ihn tätigen Personen als abhängig Beschäftigte anzusehen sind und berechnet ohne Mitwirkung der Einzugsstelle die Beiträge. Er behält den Arbeitnehmeranteil vom Arbeitsentgelt der Beschäftigten ein und führt die vollen Beiträge an die Einzugsstelle ab, die sie regelmäßig – zumindest zunächst – ungeprüft entgegen nimmt (§ 1399 Abs. 2 Satz 1 RVO). Für die Einzugsstelle vollzieht sich der Beitragseinzug zumeist durch „schlichte Verwaltungshandlungen”, ohne daß sie durch Verwaltungsakt über die Versicherungspflicht, die Beitragspflicht und die Beitragshöhe entscheidet (BSGE 15, 118, 124).
Mit dieser Heranziehung des Arbeitgebers sind ihm jedoch noch nicht die Aufgaben der Einzugsstelle übertragen, die Versicherungspflicht, Versicherungsfreiheit, Versicherungsbefreiung, Beitragspflicht, Beitragshöhe und Beitragszahlungspflicht eigenständig festzustellen. Auch wenn er in der beschriebenen Weise tätig wird, setzt er keinen Verwaltungsakt. Wenn er Beiträge berechnet, den Beitrag des abhängig Beschäftigten einbehält und die vollen Beiträge an die Einzugsstelle abführt, hat dies alles nicht den Charakter einer Verwaltungsentscheidung. Das vom Arbeitgeber Veranlaßte ist nur vorläufig gültig und voll überprüfbar. Es steht unter dem Vorbehalt, daß die Einzugsstelle das Geschehene zu überprüfen und gegebenenfalls durch eigene Verwaltungsentscheidung richtig zu stellen hat. Gerade um eine derartige Entscheidung einer Einzugsstelle handelt es sich hier.
Der Grundsatz, daß Beiträge von der Einzugsstelle nur gefordert werden können, wenn sie vorher über die Versicherungspflicht namentlich bekannter Personen entschieden hat, wird, wie der Senat inzwischen mehrfach entschieden hat (Urteile vom 29. April 1976 – 12/3 RK 66/75 und 12/3 RK 38/75 – sowie Urteil vom 23. Februar 1977 – 12 RK 34/76) lediglich dann durchbrochen, wenn ein typischer Geschehensablauf eine bestimmte Folgerung aufdrängt (Beweis des ersten Anscheins) oder wenn die erforderliche Aufklärung durch den Arbeitgeber schuldhaft vereitelt worden ist. Letzteres wäre der Fall, wenn der Kläger die ihm als Arbeitgeber gesetzlich auferlegten Mitwirkungspflichten bei der Feststellung der Versicherungspflicht (vorsätzlich oder fahrlässig) verletzt und damit die erforderliche Aufklärung unmöglich gemacht hätte. Die Einzugsstellen können nämlich den von ihnen verlangten Beweis der für ihre Entscheidung notwendigen Tatsachen nur führen, wenn die Arbeitgeber ihren Pflichten zur Aufzeichnung, Auskunft, Meldung und Vorlage von Unterlagen nachkommen. Wenn auch die Aufzeichnungspflicht als solche nicht ausdrücklich im Gesetz genannt ist, so ergibt sie sich doch zwingend aus dem Zusammenhang der übrigen gesetzlich bestimmten Melde- (§§ 317 Abs. 1, 449 Abs. 1, 1427 Abs. 1 RVO), Auskunfts- (§§ 318 a Abs. 1 Satz 1, 1427 Abs. 1 Satz 1, 1427 Abs. 5 RVO i.V.m. § 2 der Verordnung über die Überwachung der Entrichtung der Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen [Beitragsüberwachungsverordnung – BÜVO –] vom 28. Juni 1963 [BGBl I S. 445, berichtigt S. 768] und Vorlagepflichten (§§ 318 Abs. 1 Sätze 2 und 3, 1427 Abs. 1 Sätze 2 und 3, 1427 Abs. 5 RVO i.V.m. § 3 BÜVO). Es ist nämlich ausgeschlossen, die zuletzt genannten Pflichten ordnungsgemäß zu erfüllen, wenn nicht vorher der Arbeitgeber vor allem die in § 2 BÜVO im einzelnen aufgeführten Angaben aufgezeichnet hat. Diese gesamten Mitwirkungspflichten treffen den Arbeitgeber auch dann, wenn er Personen lediglich unständig beschäftigt (§§ 416, 441 RVO; noch anders für die Meldepflicht unständig Beschäftigter: BSGE 17, 182, 185). Wird die als Grundlage der Entscheidung der Einzugsstelle unentbehrliche Aufzeichnungspflicht durch den Arbeitgeber schuldhaft verletzt und damit die Beweisführung zu der Frage der Versicherungspflicht usw. vereitelt, so muß dem dadurch Rechnung getragen werden, daß der Beweis als von der Einzugsstelle geführt anzusehen ist.
Diese Umkehrung der Beweislast setzt allerdings voraus, daß die betroffenen Personen nach den Umständen, unter denen sie tätig geworden sind, eine abhängige Beschäftigung ausgeübt haben und es sich nicht um eine selbständige Tätigkeit, etwa im Rahmen eines Werkvertrages gehandelt hat. Das LSG muß dementsprechend in erster Linie feststellen, ob nicht einzelne der beim Kläger auf getretenen Musiker selbständig tätig geworden sind.
Soweit davon ausgegangen werden kann, daß es sich um Arbeitnehmertätigkeiten handelt, kommt eine Umkehrung der Beweislast hier noch nicht ohne weiteres in Betracht, weil die bestehenden Möglichkeiten, die betreffenden Musiker zu ermitteln, nicht ausgeschöpft worden sind. Dem Kläger waren immerhin die Namen der Kapellen und die Agenturen bekannt, so daß nicht auszuschließen ist, daß die Beklagte durch entsprechende Rückfragen zumindestens einen Teil der Musiker, die beim Kläger tätig geworden sind, namentlich ermitteln könnte. Soweit dies möglich ist, ist der Bescheid der Beklagten rechtswidrig, weil sie zunächst einmal Ermittlungen über die Versicherungspflicht dieser Personen anstellen und alsdann über die Versicherungspflicht entscheiden muß.
Lediglich soweit die Musiker nicht mehr ermittelt werden können, kann eine Umkehrung der Beweislast erwogen werden.
Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen indessen nicht aus, um entscheiden zu können, ob der Kläger seine Mitwirkungspflichten, vor allen die Aufzeichnungspflicht, schuldhaft verletzt und so der Beklagten den Beweis der Versicherungspflicht der Musiker unmöglich gemacht hat. Eine schuldhafte Verletzung der Aufzeichnungspflicht kann nicht allein damit begründet werden, daß Aufzeichnungen nicht vorhanden waren. Der Kläger behauptet neulich, daß bei früheren Betriebsprüfungen keine Beanstandungen erhoben worden seien. Hat aber die Beklagte trotz Kenntnis des Sachverhalts den Kläger nicht auf seine Aufzeichnungspflichten hingewiesen, so kann ihm die Verletzung der Aufzeichnungspflicht für die Vergangenheit nicht angelastet werden, weil er sich auf das Ergebnis der Betriebsprüfungen verlassen durfte.
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß das LSG dementsprechend für die Entscheidung des Falles noch Feststellungen darüber zu treffen hat, inwieweit die Musiker selbständig, etwa im Rahmen eines Werkvertrages tätig waren, inwieweit sie namentlich zu ermitteln sind und, sofern dies nicht möglich ist, inwieweit den Kläger ein Verschulden dafür trifft, daß Aufzeichnungen über die tätig gewordenen Personen nicht vorhanden sind.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen