Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsanspruch der Krankenkasse. Versorgungsantrag als Voraussetzung der Feststellung von Schädigungsfolgen. Antragserfordernis als Schutz des Selbstbestimmungsrechts jedes Geschädigten. mutmaßlicher Wille
Leitsatz (amtlich)
Der Krankenkasse steht ein Anspruch auf Erstattung von Heilbehandlungskosten gegen die Versorgungsverwaltung nach § 19 Abs 1 S 2 BVG nur zu, wenn der Versorgungsberechtigte wegen der behandelten Gesundheitsstörung den Entschädigungsantrag tatsächlich gestellt hat. Das gilt auch dann, wenn der Antrag mutmaßlich nur deshalb unterblieben ist, weil ein Gewaltopfer nach der Gewalttat bis zu seinem Tod bewußtlos war.
Orientierungssatz
1. Dem Versorgungsträger ist es grundsätzlich verwehrt, von Amts wegen oder auf Antrag eines Dritten ein Aufklärungsverfahren nach dem OEG einzuleiten. Dem steht das Recht jedes Menschen entgegen, über die Offenbarung persönlicher Verhältnisse aus dem unverletzlichen Bereich freier Entfaltung der Persönlichkeit selber und allein zu bestimmen.
2. Weder der Wortlaut noch der Sinn und Zweck des § 19 BVG geben einen Anhaltspunkt dafür, daß der Krankenkasse das Recht eingeräumt wird, die Feststellung des Versorgungsanspruchs selber unabhängig von dem Geschädigten zu betreiben. Statt dessen macht das Gesetz den Erstattungsanspruch der Krankenkasse von dem Versorgungsantrag des Geschädigten abhängig (§ 1 S 1 OEG), den jede Anerkennung von Schädigungsfolgen voraussetzt. Damit entspricht das Gesetz der höchstpersönlichen Ausgestaltung von Versorgungsansprüchen.
3. Weil das Recht des Geschädigten, Versorgung zu beantragen, im grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich begründet ist (Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 (vgl auch die Urteile des Senats vom 22.10.1986 9a RVs 3/84 = SozR 3870 § 3 Nr 23 und 27.1.1987 9a RV 11/85 = SozR 3100 § 16g Nr 1) und seine Wahrnehmung der freien Entscheidung unterliegt, kann jede Konstruktion eines mutmaßlichen Willens den unantastbaren Persönlichkeitsbereich des Geschädigten verletzen. Denn es liegt auch in der freien Entscheidung des Geschädigten, im entscheidenden Moment aus unerforschlichen oder bewußt verdeckten Gründen keinen Versorgungsantrag zu stellen. Von diesem Grundsatz gibt es keine Ausnahme zugunsten der Krankenkassen.
4. Die leistungsgewährende Krankenkasse muß zum eingeleiteten Aufklärungsverfahren hinzugezogen werden, wenn der Berechtigte einen Antrag gestellt hat. Sie darf den Versorgungsanspruch weiterverfolgen und die Aufhebung eines entgegenstehenden Ablehnungsbescheides im eigenen rechtlichen Interesse fordern.
Normenkette
OEG § 1 S 1, § 6; BVG § 19 Abs 1 S 2; GG Art 1 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 2 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; SGB 1 § 46
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 05.02.1985; Aktenzeichen L 4 Vg 3/84) |
SG Speyer (Entscheidung vom 24.07.1984; Aktenzeichen S 12 Vg 3/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Erstattungsanspruch der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse wegen der Krankenhilfe für ihr durch eine Gewalttat verletztes Mitglied, Frau M. Die Verletzte starb trotz der Behandlung in einem Spezialkrankenhaus, ohne zuvor noch einen Versorgungsantrag nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz -OEG-) stellen zu können.
Die 1962 geborene Frau M wurde im Jahre 1982 nachts von einem jungen Mann (Täter) überfallen, mit Benzin übergossen und in Flammen gesetzt. M verlor das Bewußtsein und verstarb am nächsten Tag in einer Spezialklinik für Verbrennungen, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.
Der Täter wurde rechtskräftig wegen Freiheitsberaubung mit Todesfolge in Tateinheit mit Totschlag zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Unter Berufung auf die Vorschriften des OEG forderte die Klägerin, ihr die wegen der Krankenhauspflege der M nebst Krankentransport entstandenen Aufwendungen in Höhe von 6.624,30 DM zu erstatten. Das lehnte das beklagte Land ab, weil die Geschädigte keinen Antrag auf Versorgung gestellt habe.
Auf die deshalb erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) den Rechtsstreit über die Erstattungsforderung abgetrennt und das Verfahren insoweit bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die seiner Meinung nach vorgreifende Feststellungsklage ausgesetzt (Beschluß vom 24. Juli 1984). Im fortgeführten Rechtsstreit hat es festgestellt, "daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den" streitbetroffenen "Gesundheitsstörungen" der M "und der vorangegangenen Gewalttat bestanden hat" (Urteil vom 24. Juli 1984). Dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Februar 1985): Der Klägerin fehle das Recht, ohne einen Versorgungsantrag der geschädigten M die Feststellung von Schädigungsfolgen nach dem OEG zu betreiben. Insofern sei ihr Erstattungsanspruch vollständig von dem Versorgungsantrag der Geschädigten abhängig.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 1 OEG. Sie habe nach § 12 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, Verwaltungsverfahren (SGB 10), ein Recht darauf, zum Feststellungsverfahren des Geschädigten hinzugezogen zu werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe sie auch ein selbständiges Klagerecht auf Anerkennung der Schädigungsfolgen im eigenen rechtlichen Interesse als Bedingung des Erfolges ihres Erstattungsanspruchs. Dem stehe nicht entgegen, daß M keinen Versorgungsantrag gestellt habe. Der Antrag nach dem OEG habe nur eine anspruchsauslösende, nicht aber anspruchsbegründende Wirkung.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil ebenso wie die beigeladene Bundesrepublik Deutschland für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Der geltend gemachte Feststellungsanspruch steht der klagenden Krankenkasse nicht zu; auch der Zweck, damit die Bedingung eines eigenen Erstattungsanspruchs zu erfüllen, vermag den Klageanspruch nicht zu begründen. Das hat das LSG zu Recht entschieden.
Dem Versorgungsträger ist es grundsätzlich verwehrt, von Amts wegen oder auf Antrag eines Dritten ein Aufklärungsverfahren nach dem OEG einzuleiten. Dem steht das Recht jedes Menschen entgegen, über die Offenbarung persönlicher Verhältnisse aus dem unverletzlichen Bereich freier Entfaltung der Persönlichkeit selber und allein zu bestimmen. Deshalb ist der Versorgungsantrag des Geschädigten unverzichtbar. Ob das selbständige Betreibungsrecht, das der Gesetzgeber allein den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der öffentlichen Jugendhilfe wegen ihrer grundsätzlich nachrangigen Leistungsverpflichtung eingeräumt hat (§ 91a Bundessozialhilfegesetz -BSHG-, § 27i Bundesversorgungsgesetz -BVG-, § 82a Gesetz für Jugendwohlfahrt -JWG-), das Persönlichkeitsrecht der Geschädigten berührt, kann hier unentschieden bleiben. Jedenfalls ist die klagende Krankenkasse nicht vergleichbar nachrangig verpflichtet. Sie hat die Leistungen erbracht, zu denen sie uneingeschränkt verpflichtet war.
Solche Leistungen sind den Krankenkassen von der Versorgungsverwaltung nur nach § 19 BVG zu erstatten. Nach § 19 Abs 1 Satz 1 BVG idF der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982 (BGBl I 21) iVm § 1 Abs 1 Satz 1 OEG werden den Krankenkassen, die nicht nur nach den Vorschriften des OEG iVm dem BVG verpflichtet sind, Heilbehandlung zu gewähren, die Aufwendungen für Krankenhauspflege
Aufwendungen durch die Behandlung anerkannter Schädigungsfolgen entstanden sind (Satz 2 aa0). War die Gesundheitsstörung bei Beginn der Behandlung noch nicht anerkannt, so wird die Erstattung nur nach der Anerkennung gewährt (§ 19 Abs 3 Satz 1 BVG). Ist die Gesundheitsstörung durch die Behandlung beseitigt worden, ist die Erstattung davon abhängig, daß die Anerkennung durch die Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Gesundheitsstörung und der Schädigung ersetzt wird (§ 19 Abs 3 Satz 2 BVG). Ein Verwaltungsverfahren, aufgrund dessen die Versorgungsverwaltung die Schädigungsfolgen anerkannt hat, ist somit die erste Voraussetzung des Erstattungsanspruchs der Krankenkasse. Daran fehlt es hier.
Dem Fehlen dieser Anspruchsvoraussetzung kann die Klägerin nicht aus eigenem Recht abhelfen. Weder der Wortlaut noch der Sinn und Zweck des § 19 BVG geben einen Anhaltspunkt dafür, daß der Krankenkasse das Recht eingeräumt wird, die Feststellung des Versorgungsanspruchs selber unabhängig von dem Geschädigten zu betreiben. Statt dessen macht das Gesetz den Erstattungsanspruch der Krankenkasse von dem Versorgungsantrag des Geschädigten abhängig (§ 1 Satz 1 OEG), den jede Anerkennung von Schädigungsfolgen voraussetzt. Damit entspricht das Gesetz der höchstpersönlichen Ausgestaltung von Versorgungsansprüchen.
Wegen der Abhängigkeit des Erstattungsanspruches von der Anerkennung hat der Senat allerdings den Krankenkassen im Anerkennungsverfahren die weitestgehenden Rechte zugesprochen: Die leistungsgewährende Krankenkasse muß zum eingeleiteten Aufklärungsverfahren hinzugezogen werden, sie darf den Versorgungsanspruch weiterverfolgen und die Aufhebung eines entgegenstehenden Ablehnungsbescheides im eigenen rechtlichen Interesse fordern (SozR 2200 § 205 Nr 5; 3800 § 2 Nr 4; Urteil vom 27. Januar 1982 - 9a/9 RVg 3/81 - USK 82124; BSGE 52, 281, 283 = SozR 3800 § 2 Nr 3). Solche Rechte der Krankenkassen können aber nur entstehen, wenn der rechtsbegründende Versorgungsantrag (§ 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 5 BVG) gestellt worden ist. Der lag als Voraussetzung solcher Rechte der Krankenkasse den angeführten Entscheidungen des Senats stets zugrunde.
Den Versorgungsantrag des Geschädigten selbst verlangt das Gesetz aus zwei Gründen. Zum einen bestimmt sich der Beginn der Versorgung nach dem Antrag (§ 60 BVG). Vor allem aber dient das Antragserfordernis zum anderen dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts jedes Geschädigten. Dadurch wird gewährleistet, daß ein Geschädigter nicht nur auf Leistungen nach dem OEG verzichten (vgl § 46 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch, Allgemeiner Teil -SGB 1-), sondern vor allem auch unerwünschte Ermittlungen der Versorgungsbehörde in seinem unantastbaren persönlichen Intimbereich verhindern kann. Wenn er keinen Einblick der Versorgungsbehörde in seinen geschützten Persönlichkeitsbereich wünscht und bereit ist, deswegen auch auf Leistungen nach dem OEG zu verzichten, dann darf das Feststellungsverfahren nach dem OEG grundsätzlich nicht durchgeführt werden (vgl die Urteile des Senats zum Schwerbehindertenrecht vom 22. Oktober 1986 - 9a RVs 3/84 - und zur Soldatenversorgung vom 27. Januar 1987 - 9a RV 11/85 -, beide zur Veröffentlichung bestimmt). Dieses Selbstbestimmungsrecht kann besonders unter den Voraussetzungen des § 2 Abs 1 OEG wichtig werden, wonach Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Der Geschädigte kann danach ein Interesse daran haben, Nachforschungen etwa in der Richtung zu verhüten, ob die Gewalttat provoziert worden ist. Dem allen entspricht der Sinn des OEG als Versorgungsgesetz. Versorgung wird ausschließlich im Einzelinteresse des Bürgers zur Verfügung gestellt und nur auf Antrag gewährt (vgl auch - im Gegensatz zur nach § 5 BSHG ohne Antrag einsetzenden Sozialhilfe - § 1 Abs 1 BVG, § 80 Soldatenversorgungsgesetz -SVG-, § 5 Bundesgesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Kriegsopferversorgung -BWK-, § 3 Abs 1 Schwerbehindertengesetz -SchwbG-, § 3 Abs 3 Gesetz über die Unterhaltsbeihilfe für Angehörige von Kriegsgefangenen, § 9 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz -KgfEG-, § 4 Häftlingshilfegesetz, § 51 Abs 1 Bundes-Seuchengesetz, § 47 Abs 1 Zivildienstgesetz -ZDG-). Ohne das zwingend vorgeschriebene Verwaltungsverfahren ist ein Bescheid über die Leistungsverpflichtung des Versorgungsträgers und damit jede Entscheidung über den Versorgungsanspruch ausgeschlossen (§ 6 Abs 3 OEG, §§ 1, 8, 31 SGB 10, § 22 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung). Darin liegt eine Rechtswirkung des Versorgungsantrags, die der Senat als rechtsbegründend bezeichnet hat (BSG SozR 3100 § 35 Nr 1 und § 89 Nr 8).
Danach hat die Klägerin nicht das Recht, von dem Beklagten die Anerkennung von Schädigungsfolgen der M zu verlangen, die als gesundheitliche Schädigung noch zu Lebzeiten der M versorgungspflichtig waren. Denn dazu fehlt der Versorgungsantrag der M. Weder hat die geschädigte M die Klägerin bevollmächtigt, an ihrer Stelle Versorgung nach dem OEG zu beantragen, noch räumt ihr das Gesetz dieses Recht ein, wie es das für die Träger der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der öffentlichen Jugendhilfe eigens regelt (§ 91a BSHG, § 27i BVG und § 82a JWG, jeweils idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl I 1532, Art 26 Nr 7, Art 16 Nr 8 und Art 27).
Der Versorgungsantrag der M kann als persönlichkeitsgebundenes Recht nicht nach dem mutmaßlichen Willen oder dem objektiven Interesse der Geschädigten oder der Versichertengemeinschaft ersetzt werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Geschädigte wie hier bewußtlos war und sich deshalb nicht erklären konnte. Weil das Recht des Geschädigten, Versorgung zu beantragen, im grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich begründet ist (Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland -GG-, vgl auch die Urteile des Senats vom 22. Oktober 1986 und 27. Januar 1987, aa0) und seine Wahrnehmung der freien Entscheidung unterliegt, kann jede Konstruktion eines mutmaßlichen Willens den unantastbaren Persönlichkeitsbereich des Geschädigten verletzen. Denn es liegt auch in der freien Entscheidung des Geschädigten, im entscheidenden Moment aus unerforschlichen oder bewußt verdeckten Gründen keinen Versorgungsantrag zu stellen. Von diesem Grundsatz gibt es keine Ausnahme zugunsten der Krankenkasse. Die Ausnahmen, die unter Abwägung mit anderen Interessen geboten sind, hat das Gesetz selbst geregelt: Gehen die Heilbehandlungskosten eines Geschädigten, der vor seinem Tod keinen Antrag auf soziale Entschädigung mehr stellte, zu seinen Lasten oder zu Lasten seiner Erben, etwa der Eltern, so ist der Kostenersatz in § 18 Abs 8 BVG vorgesehen. Hat der Geschädigte einen gesetzlichen Vertreter, so ist dieser nach den Vorschriften über die Personensorge befugt, den Versorgungsantrag zu stellen (vgl BSG SozR 2200 § 205 Nr 55). Die Hinterbliebenenversorgung ist ohnehin unabhängig von dem Versorgungsantrag des unmittelbar Geschädigten (§ 1 Abs 5 BVG).
Unter diesen Umständen muß es dabei bleiben, daß die klagende Krankenkasse und ihre Versichertengemeinschaft als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung am Ende das zu tragen hat, was in der Krankenversicherung als Hauptrisiko versichert ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1662875 |
BSGE, 180 |