Entscheidungsstichwort (Thema)
Merkzeichen G. erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. ortsübliche Wegstrecke
Orientierungssatz
Zur Frage der Wegstrecke iS von § 60 Abs 1 S 1 SchwbG nF, die ein Behinderter üblicherweise im Ortsverkehr noch zurückzulegen vermag.
Normenkette
SchwbG § 58 Abs 1 S 1 Fassung: 1979-10-08, § 60 Abs 1 S 1 Fassung: 1986-08-26
Verfahrensgang
Tatbestand
Das Versorgungsamt hatte beim Kläger, der sich dreimal in der Woche einer 4 1/2-stündigen Heimdialyse unterziehen muß, chronische interstitielle Nephritis mit renal bedingter Hypertonie und beginnender Anämie als Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH (jetzt Grad der Behinderung) sowie erhebliche Gehbehinderung/Geh- und Stehbehinderung/erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G") anerkannt (Bescheide vom 23. Mai 1980 und 23. März 1983). Mit Bescheid vom 6. Februar 1984 stellte es fest, der Kläger sei ab 1. April 1984 nicht iS des § 58 Abs 1 Satz 1 (nunmehr § 60 Abs 1 Satz 1) SchwbG erheblich im Straßenverkehr bewegungsbehindert. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Oktober 1984). Auf die - zugelassene - Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den Bescheid des Versorgungsamtes vom 6. Februar 1984 aufgehoben (Urteil vom 22. März 1985) und in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden, betrügen mehr als 1.000 m; der vom SG gehörte Sachverständige habe zum Ausdruck gebracht, daß der Kläger nur eine Strecke von etwa 500 bis 1.000 m gehen könne.
Der Beklagte rügt mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision logische Fehler in der Beweiswürdigung und unzureichende Sachaufklärung; der Sachverständige habe nicht geäußert, daß dem Kläger ein Fußweg nur bis 1.000 m zumutbar sei, sondern lediglich betont, der Kläger könne eine ortsübliche Wegstrecke, die er - der Gutachter - mit etwa 500 bis 1.000 m veranschlage, zweifelsfrei ohne erhebliche Schwierigkeiten bewältigen.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat als Vertreter der Beigeladenen keinen Antrag gestellt. Er hält die Revision iS der Zurückverweisung für begründet.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist insofern erfolgreich, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Für eine Entscheidung über die Zuerkennung des Merkzeichens "G" fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen.
Die gesetzliche Vermutung, nach der alle Schwerbehinderten mit einer MdE von wenigstens 80 vH ohne weitere Prüfung als erheblich bewegungsbehindert zu behandeln waren (§ 58 Abs 2 Satz 2 SchwbG idF des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 - BGBl I 989 -), ist mit Wirkung vom 1. April 1984 entfallen (§ 58 Abs 1 SchwbG idF der Art 20 Nr 2, 39 Abs 8 Haushaltsbegleitgesetz - HBegleitG 1984 - vom 22. Dezember 1983 - BGBl I 1532 -). Seither bedarf es auch bei diesem Personenkreis für die Erteilung eines Ausweises mit dem Merkzeichen "G" und damit für die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr (§ 57 Abs 1 Satz 1 SchwbG aF; § 59 Abs 1 Satz 1 SchwbG nF) der tatsächlichen Feststellung einer erheblichen Bewegungsbehinderung im Straßenverkehr (BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1). Nach § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG aF (§ 60 Abs 1 Satz 1 SchwbG nF) ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Wie lang Wegstrecken im Ortsverkehr sind, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, läßt sich weder dem Gesetz noch einer Verwaltungsvorschrift noch den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1977/1983 (Anhaltspunkte) entnehmen; auch das Bundessozialgericht (BSG) hat hierzu bislang nicht Stellung bezogen. Das LSG ist unter Auswertung mehrerer Literaturstellen (Gottl, VersB 1982, 40; C. Koch/H. Koch, ZfS 1984, 321 jeweils mwN; vgl neuerdings auch Dreher, ZfS 1986, 65) zu der Rechtsauffassung gelangt, daß die allgemein üblichen Fußwegstrecken im Ortsverkehr bei den derzeitigen Verhältnissen "mehr als 1 km" betragen. Unter Hinweis auf das von dem SG eingeholte ärztliche Gutachten hat das LSG festgesetzt, dem Kläger sei "ein Fußweg jedenfalls nur bis zu 1 km zumutbar". Die gegen diese Feststellung vom Beklagten geltend gemachte Verfahrensrüge ist begründet. Das LSG hat im Rahmen seiner Überzeugungsbildung die Grenzen der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) überschritten; es hätte unter Auswertung des erwähnten Gutachtens nicht zu dem Ergebnis kommen dürfen, der Kläger sei erheblich bewegungsbehindert. Denn der Sachverständige hat, wie sowohl vom Beklagten wie von der Beigeladenen richtig gesehen, nicht etwa erklärt, daß dem Kläger ein Fußweg nur bis 1.000 m zumutbar sei, sondern lediglich hervorgehoben, daß der Kläger eine ortsübliche Wegstrecke, die er - der Gutachter - mit etwa 500 bis 1.000 m bemesse, "zweifelsfrei" ohne erhebliche Schwierigkeiten bewerkstelligen könne. Es ist ein Verstoß gegen Denkgesetze, hieraus zu schließen, daß der Sachverständige meine der Kläger könne nicht mehr als 1 km ohne erhebliche Schwierigkeiten gehen. Denn zu dieser Frage hat der Sachverständige gerade nichts gesagt und auch nichts sagen wollen. Er hatte dazu, weil er von einer geringeren ortsüblichen Wegstrecke als das LSG ausging, auch keine Veranlassung. Damit hat er die medizinisch-tatsächliche Frage, welche Wegstrecke der Kläger tatsächlich zurücklegen kann, unbeantwortet gelassen. Das LSG hätte sich zur Einholung einer ergänzenden Stellungnahme oder eines weiteren Gutachtens gedrängt fühlen müssen und hat, indem es dies unterließ, zugleich gegen seine Pflicht zur Ermittlung von Amts wegen (§ 103 SGG) verstoßen.
Sollten die nachzuholenden Ermittlungen ergeben, daß der Kläger zwar mehr als 1.000, nicht aber mehr als 2.000 m ohne erhebliche Schwierigkeiten gehen kann, wird das LSG den Inhalt des Begriffs der ortsüblichen Wegstrecke - gegebenenfalls nach Einholung entsprechender Auskünfte - zu präzisieren haben. Nach dem oben wiedergegebenen Schrifttum und nach den Beratungen, die Nr 30 der Anhaltspunkte 1983 vorausgegangen sind (so die Beigeladene), betragen die im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegten Wegstrecken auf jeden Fall mehr als 1.000 m; nicht auszuschließen ist, daß sie sich auf bis zu 2.000 m belaufen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen