Leitsatz (amtlich)

1. Die Bundesrepublik Deutschland, die am Berufungsverfahren auf Grund des SGG § 75 Abs 1 S 2 beteiligt war, ist berechtigt, gegen das Urteil des LSG selbständig Revision einzulegen. Die Zulässigkeit ihrer Revision ist für sich zu prüfen.

2. Ein Antrag auf Versorgung (BVG § 1 ), insbesondere auf Witwenrente (BVG §§ 38 und 44) ist erforderlich, damit der Anspruch auf Versorgung entsteht.

 

Normenkette

SGG § 75 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03, Abs. 4 S. 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 38 Fassung: 1950-12-20, § 44 S. 1 Fassung: 1953-08-07, § 1 Abs. 5 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

1.) Unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Bremen vom 28. Januar 1955 und des Sozialgerichts Bremen vom 19. März 1954 wird die Klage abgewiesen.

2.) Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin war in erster Ehe mit J H A verheiratet, der seit August 1943 als Angehöriger der früheren deutschen Wehrmacht vermißt ist und durch Beschluß des Amtsgerichts Bremen vom 23. September 1950 rechtskräftig für tot erklärt wurde. Als Zeitpunkt seines Todes wurde der ... August 1945 festgestellt. Am 25. Januar 1951 heiratete die Klägerin wieder. Erst am 6. Mai 1952 beantragte sie beim Versorgungsamt (VersA.) Bremen die Gewährung von Witwenrente und die Zahlung einer Abfindung auf Grund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Ihr Antrag wurde mit Bescheid vom 14. August 1952 abgelehnt. Dagegen legte die Klägerin Berufung beim Oberversicherungsamt (OVA.) Bremen ein.

Das Sozialgericht (SG.) Bremen hat nach dem Übergang des Rechtsstreits vom OVA. durch Urteil vom 19. März 1954 die Beklagte entsprechend dem Antrag der Klägerin unter Aufhebung des Bescheides des VersA. Bremen vom 14. August 1952 verurteilt, ihr eine Witwenabfindung in Höhe von DM 1 200.- zu zahlen. Das SG. hat angenommen, daß der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente nach § 38 BVG mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1.10.1950) entstanden sei. Dieser Anspruch habe am Tage der Wiederverheiratung fortbestanden. Daraus sei nach der Wiederverheiratung der Klägerin für sie ein Anspruch auf Heiratsabfindung (§ 44 BVG) entstanden, den sie rechtzeitig geltend gemacht habe.

Das von der Beklagten angerufene Landessozialgericht (LSG.) Bremen hat die Bundesrepublik Deutschland auf Grund des § 75 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beigeladen und durch Urteil vom 28. Januar 1955 die Berufung der Beklagten mit der Begründung zurückgewiesen, daß nach § 44 BVG a.F. der Abfindungsanspruch an die Stelle des Witwenrentenanspruchs trete; der letztere bedürfe nach § 38 BVG keines Antrags zu seiner Entstehung. Die Revision wurde zugelassen.

Gegen dieses am 21. April 1955 zugestellte Urteil haben die Beklagte und die Beigeladene innerhalb der Revisionsfrist Revision eingelegt und übereinstimmend beantragt,

das angefochtene Urteil und das Urteil des SG. Bremen vom 19. März 1954 aufzuheben und den Bescheid des VersA. Bremen vom 14. August 1952 wiederherzustellen.

In den rechtzeitig eingegangenen Revisionsbegründungsschriften rügen die Revisionskläger die Verletzung sachlichen Rechts, insbesondere der §§ 1 und 44 BVG. Sie sind der Ansicht, Voraussetzung des Anspruchs auf Heiratsabfindung sei ein Anspruch auf Witwenrente. Dieser wiederum setze einen Antrag voraus, der spätestens im Monat der Wiederverheiratung hätte gestellt werden müssen.

Die Revisionsbeklagte hat um Zurückweisung der Revisionen gebeten.

Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen sind form- und fristgerecht eingereicht und begründet worden. Sie sind durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthaft.

Die Bundesrepublik Deutschland ist durch die Beiladung im zweiten Rechtszuge Beteiligte im Sinne des § 69 SGG geworden und hat damit die Befugnis erlangt, gegen das von der Beklagten angefochtene Urteil des LSG. selbständig Revision einzulegen. Ein Beigeladener kann nach § 75 Abs. 4 Satz 1 SGG alle Verfahrenshandlungen wirksam vornehmen, also grundsätzlich auch Rechtsmittel einlegen, soweit sich nicht aus § 75 Abs. 4 SGG oder aus der Rechtsnatur der Beiladung Beschränkungen für ihn ergeben. Ein Hindernis dieser Art steht dem Recht des Beigeladenen, ein Berufungsurteil mit der Revision anzufechten, nicht entgegen. Das Institut der Beiladung soll es einem Dritten ermöglichen, in einem anhängigen Rechtsstreit für den Kläger oder Beklagten mitzustreiten und durch eigene Prozeßhandlungen auf die Entscheidung des Gerichts Einfluß zu nehmen, weil seine berechtigten Interessen durch die Entscheidung berührt werden (§ 75 Abs. 1 SGG). Die Angriffs- und Verteidigungsmittel des Beigeladenen müssen sich in den Grenzen halten, die ihm durch die Anträge der anderen Beteiligten gezogen sind (§ 75 Abs. 4 Satz 1 SGG), außer wenn er auf Grund des § 75 Abs. 2 SGG beigeladen ist. Weder aus diesen Vorschriften noch aus § 168 SGG, wonach Beiladungen im Revisionsverfahren unzulässig sind, läßt sich folgern, daß es dem im Berufungsverfahren Beigeladenen verwehrt sein sollte, gegen eine Entscheidung das an sich statthafte Rechtsmittel zu ergreifen.

Damit im übrigen die Revision des Beigeladenen zulässig ist, muß, wie auch sonst aus allgemeinen Grundsätzen, verlangt werden, daß der Beigeladene durch das angefochtene Urteil beschwert ist. Dies ist hier der Fall. Würde das angefochtene Urteil rechtskräftig werden, so wäre die beigeladene Bundesrepublik im Verhältnis zu den übrigen Beteiligten an das Urteil des LSG. gebunden (§ 141 Abs. 1 SGG) und durch die Pflicht der Beklagten, den Anspruch der Klägerin zu erfüllen, mittelbar belastet. Sie hat ihr Prozeßziel, das im Einklang mit dem der Beklagten steht, im zweiten Rechtszug nicht erreicht; es ist auch jetzt auf die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Abweisung der Klage wegen des Abfindungsanspruchs der Klägerin gerichtet und bleibt innerhalb der durch § 75 Abs. 4 SGG gesetzten Grenze. Gegen die Zulässigkeit der Revision der Beigeladenen bestehen daher keine Bedenken.

Die Revisionen sind auch begründet. Die Beklagte und die Beigeladene rügen mit Recht eine Verletzung der §§ 1, 44 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes vom 20. Dezember 1950 (BGBl. S.791 - BVG a.F. -).

Das LSG. ist zutreffend davon ausgegangen, daß der von der Klägerin erhobene Anspruch nach § 44 Satz 1 BVG a.F. zu beurteilen ist. Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 20. Dezember 1955 - 10 RV 225/54 - im Anschluß an die Urteile des 9. Senats vom 24. August 1955 (BSG 1 S. 189) und vom 20. September 1955 - 9 RV 78/54 - ausgesprochen hat, ist § 44 BVG in der alten Fassung anzuwenden, wenn die Witwe vor dem 11. August 1952 wiedergeheiratet hat. Für den Senat besteht keine Veranlassung, von dieser Auffassung abzuweichen.

Aus § 44 Satz 1 BVG a.F. hat das LSG. mit Recht gefolgert, daß der Anspruch einer Witwe auf Heiratsabfindung einen Anspruch der Witwe auf Hinterbliebenenrente nach § 38 BVG für den Heiratsmonat voraussetzt (vgl. BSG 1 S. 189 (192) und Urteil des BSG vom 20.9.1955 - 9 RV 78/54 -). Es irrt aber darin, daß es für das Entstehen eines Anspruchs auf Rente einen Antrag der Witwe nach § 1 Abs. 5 BVG nicht für erforderlich hält.

Das Gegenteil ergibt sich aus dem Gesetz. Das BVG regelt die Versorgung der Kriegsopfer dadurch, daß es ihnen entweder bestimmte Ansprüche auf die im § 9 BVG genannten Leistungen einräumt (Versorgungsansprüche) oder die Verwaltungsbehörden ermächtigt, ihnen freiwillige Leistungen dieser Art zu gewähren (sogenannte Kann-Leistungen). Im § 9 BVG ist lediglich die gegenständliche Abgrenzung der Leistungen enthalten, wie aus der Überschrift "Umfang der Versorgung" hervorgeht. Die grundlegende Vorschrift für alle Versorgungsansprüche ist § 1 BVG. Durch dessen Überschrift "Anspruch auf Versorgung" und durch dessen Wortlaut "erhält Versorgung" kommt eindeutig zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber nach dem Vorbild des alten Rechts (§ 1 RVG) und nach dem üblichen Sprachgebrauch des Gesetzes, das immer bei Rechtsansprüchen von "erhalten", "gewähren" oder "haben" spricht (vgl. z.B. §§ 10, 13, 17, 26, 32, 34a, 35, 36, 38, 39, 41, 44, 45, 47, 50, 53 BVG), im § 1 die allgemeinen Voraussetzungen des Rechtsanspruchs auf Versorgung normiert. Mit den Worten "erhält Versorgung" meint der Gesetzgeber im § 1 BVG daher nicht die Erfüllung eines Versorgungsanspruchs, sondern den Versorgungsanspruch selbst als Sammelbegriff für die in den folgenden Vorschriften geregelten Ansprüche auf einzelne Versorgungsleistungen. Die Systematik des Gesetzes wäre unverständlich, wenn man dem Gesetzgeber unterstellt, er habe gleich zu Eingang des Gesetzes im § 1 von der Erfüllung des Versorgungsanspruchs gesprochen, ohne vorher oder nachher die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Entstehung des Versorgungsanspruchs selbst zu regeln.

§ 1 BVG schreibt demnach vor, welche allgemeinen Tatbestände einen Versorgungsanspruch erzeugen, und zwar behandeln die Absätze 1 - 4 den Versorgungsanspruch des Beschädigten und der Abs. 5 den Versorgungsanspruch der Hinterbliebenen. Diese Vorschriften sind die verbindlichen Rechtsgrundlagen eines jeden Versorgungsanspruchs und nicht etwa bloß Hinweise auf die nachfolgenden Einzelvorschriften. Wenn das Gesetz in diesen die Ansprüche auf einzelne Versorgungsleistungen (§ 9) näher regelt, so knüpft es an einzelne Ansprüche zum Teil noch besondere Voraussetzungen oder begrenzt den Umfang der Leistungen, geht aber grundsätzlich stets von den allgemeinen Voraussetzungen eines jeden Versorgungsanspruchs gemäß § 1 BVG aus.

Zu den allgemeinen Voraussetzungen eines jeden Versorgungsanspruchs gehört aber nach § 1 Abs. 1 und Abs. 5 BVG der "Antrag". Der Antrag kann eine doppelte Bedeutung haben, nämlich sowohl für den Gang des Verwaltungsverfahrens als auch für die Entstehung des Anspruchs selbst. Das BVG sieht mehrfach vor, daß der Berechtigte irgendwie mitwirken muß, damit ein Recht für ihn begründet oder einem Rechtsverlust zu seinem Nachteil vorgebeugt werden kann. So spricht es auch an anderen Stellen (z.B. in § 36 Abs. 6, § 61 Abs. 4, § 63 Satz 2, § 76 Abs. 2, § 86 Abs. 2, § 88) von einem Antrag, durch den die Verwaltungsbehörde veranlaßt werden soll, Leistungen zu gewähren oder eine Feststellung zu treffen. Ein Antrag im weitesten verfahrensrechtlichen Sinne bedeutet im Versorgungsrecht die an die Verwaltungsbehörde gerichtete Erklärung eines Verlangens, daß sie in einer bestimmten Weise für den Antragsteller tätig wird. Mit einem Antrag auf Versorgung begehrt der Antragsteller von der Verwaltungsbehörde eine Versorgungsleistung, die er wenigstens im Umriß näher bezeichnen muß. § 7 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (VfG - KOV) vom 2. Mai 1955 (BGBl. I S. 202) kann sich mit einer Soll-Vorschrift für den Antragsteller begnügen, weil Abs. 2 der Verwaltungsbehörde zur Pflicht macht, den Antrag nötigenfalls ergänzen zu lassen. Der formgerechte Antrag gibt, unabhängig von seiner sachlich-rechtlichen Bedeutung, der Verwaltungsbehörde somit den Anstoß, die Entscheidung, durch die eine begehrte Leistung bewilligt oder abgelehnt wird, vorzubereiten, insbesondere den Sachverhalt aufzuklären. Ohne einen solchen Antrag wird sie im allgemeinen nicht von Amts wegen tätig, sondern erst im weiteren Verfolg des Antrags (§§ 6, 12 VfG - KOV.).

Darüber hinaus hat der Antrag auf Versorgung im Sinne des § 1 BVG sachlich-rechtliche Bedeutung. Das soll heißen, daß der Anspruch auf Versorgung nicht schon allein mit der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes, soweit er vom Willen des Berechtigten unabhängig ist, wie mit dem Eintritt des schädigenden Ereignisses und der Schädigungsfolgen, entsteht. Zu diesen Tatbestandsmerkmalen muß der Antrag des Berechtigten als weiterer rechtsbegründender Faktor hinzukommen. Dies muß nach dem Wortlaut des § 1 BVG angenommen werden, weil er den Antrag als gleichwertig mit den übrigen sachlich-rechtlichen Voraussetzungen des Versorgungsanspruchs erwähnt.

Für diese Auslegung sprechen die geschichtliche Entwicklung des Versorgungsrechts und die gesetzgeberischen Motive der getroffenen Regelung. Schon § 1 des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) mit der Überschrift "Anspruch auf Versorgung" enthielt die allgemeine Vorschrift, daß bestimmte Personen wegen der Folgen einer Dienstbeschädigung "auf Antrag" Versorgung erhalten. Nach ständiger Rechtsübung und Rechtsprechung ist diesem Antrag im Geltungsbereich des RVG sachlich-rechtliche Bedeutung beigelegt worden (RVG 6 S. 256; 11 S. 180, Kommentar zum RVG von Versorgungsbeamten, Anm. 47 zu § 1, Anm. 5 zu § 24; Arendts, Kommentar zum RVG, 2. Aufl., Anm. 11 zu § 1; G. Wende, KOV. 1952 S. 84 ff.). Auch die nach dem Zusammenbruch in der amerikanischen, britischen und französischen Zone erlassenen Vorschriften über die Entschädigung der Kriegsopfer erhielten, gleichgültig ob sie sich dem Wortlaut nach an den § 1 RVG anlehnten oder nicht, hinsichtlich der sachlich-rechtlichen Bedeutung des Antrags für den Versorgungsanspruch dieselbe Auslegung.

Der Gesetzgeber des BVG hat den Grundsatz des älteren Rechts von der sachlich-rechtlichen Bedeutung des Antrags bewußt und in voller Kenntnis seiner Tragweite in das BVG übernommen. Zu dieser Annahme nötigt die Begründung zu § 1 Abs. 1 des Entwurfs des BVG (BTDrs. 1. Wahlperiode 1949 Nr. 1333 S. 46), die davon spricht, daß die Versorgung nur auf Antrag gewährt werden solle "wie auch nach den bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften". Der § 1 des Entwurfs ist dann wörtlich in das BVG als § 1 übernommen worden, ohne daß bei den Gesetzgebungsverhandlungen zu dieser Vorschrift, was den Antrag betrifft, Änderungsvorschläge gemacht oder Ansichten geäußert worden sind, die von der überlieferten Bedeutung dieses Wortes in dem von der Begründung erläuterten Sinne abweichen.

Jene jahrzehntelang geübte Rechtsauslegung, wonach dem Antrag eine sachlich-rechtliche Bedeutung zukommt, findet ihre Rechtfertigung auch in sozialpolitischen Erwägungen und ist keineswegs Formalismus, der es den Opfern des Krieges nur erschweren soll, zu ihrem Recht zu kommen. Die Versorgungsleistungen, im wesentlichen Geld- und Sachleistungen als Ausgleich für gesundheitliche Schäden oder den Verlust des Ernährers, sollen niemandem aufgedrängt werden. Den Beschädigten und Hinterbliebenen wird nichts Unbilliges dadurch zugemutet, daß sie ihr Verlangen, Versorgung zu erhalten, gegenüber der zuständigen Behörde erklären müssen, um den Anspruch auf Versorgung zur Entstehung zu bringen. Andererseits können die Organe des Staates, der zur Gewährung der Versorgung verpflichtet ist und die erforderlichen Mittel dafür bereitstellen muß, nicht wissen, welche Einzelpersonen durch die im BVG nach allgemeinen Voraussetzungen geregelte Versorgung berechtigt werden, zumal die überwiegende Zahl der anspruchsbegründenden schädigenden Vorgänge schon beim Inkrafttreten des BVG in der Vergangenheit lag. Von den staatlichen Verwaltungsbehörden kann auch nicht erwartet werden, daß sie von Amts wegen die Versorgungsberechtigten ermitteln. Der Gesetzgeber mußte daher davon ausgehen, daß das eigene Interesse an der Versorgung die Beschädigten oder ihre Hinterbliebenen bewegen werde, selbst mit einem Antrag an die Verwaltungsbehörde heranzutreten, um damit die Grundlagen ihrer Versorgungsansprüche zu vervollständigen. Ähnliche Erwägungen haben in der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA.) dazu geführt, auch in der Rentenversicherung den Antrag im Sinne des § 1545 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu den sachlich-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs zu rechnen (EuM. d. RVA. 40 S. 341 ff., insbesondere die in der Fußnote abgedruckte RevE. 289, AN. JuAV . 1893 S. 142).

Die so gewonnene Auffassung ist letztlich vom Gesetzgeber selbst nochmals durch das Zweite Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 862), durch welches der § 44 BVG neu gefaßt wurde, bestätigt worden. Die Heiratsabfindung kann hiernach bis zum Ablauf eines Jahres nach der Wiederverheiratung und "ohne vorherige Geltendmachung" eines Rentenanspruchs bewilligt werden. Es hätte dieser Erwähnung nicht bedurft, wenn der Rentenanspruch der Witwe an sich schon ohne Geltendmachung, d.h. ohne Antrag, entstehen könnte. Andererseits kann es nach der Entstehungsgeschichte des Zweiten Änderungsgesetzes, das bewußt von der bisherigen Rechtslage abweichen wollte, um die Gewährung einer Heiratsabfindung zu erleichtern, keinem Zweifel unterliegen, daß der Gesetzgeber davon ausging, daß es bis dahin für die Entstehung eines Anspruchs auf Heiratsabfindung erforderlich war, den Anspruch auf Witwenrente vorher geltend zu machen. Hätte der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 44 BVG nur eine gesetzliche Auslegung dessen geben wollen, was schon nach § 44 BVG a.F. rechtens war, so hätte er die Neufassung des § 44, wie auch andere durch das Zweite Änderungsgesetz geänderte Vorschriften des BVG, mit dem 1. Oktober 1950 in Kraft setzen müssen und nicht erst mit dem 1. August 1953 (vgl. Art. 5 des Zweiten Änderungsgesetzes). Der Gesetzgeber hat also lediglich für die Heiratsabfindung, die anstelle des Rentenanspruchs tritt, von der vorherigen Geltendmachung des Rentenanspruchs gemäß § 44 BVG n.F. abgesehen, im übrigen aber den allgemeinen Grundsatz des § 1 BVG, wonach der Antrag sachlich-rechtliche Bedeutung für die Entstehung des Versorgungsanspruchs hat, unverändert gelassen.

Diese Auslegung des § 1 BVG steht auch nicht mit anderen Vorschriften des BVG im Widerspruch. Vor allem kann aus den den §§ 56, 58, 59 BVG, nach denen der Beschädigte "seine Versorgungsansprüche", die Hinterbliebenen "den Versorgungsanspruch" zur Vermeidung des Ausschlusses binnen bestimmter Fristen "anmelden" müssen, nicht hergeleitet werden, diese Vorschriften seien sprachlich nur dann sinnvoll, wenn das Vorhandensein eines Versorgungsanspruchs der Anmeldung (dem Antrag) vorhergehe. Die Vertreter dieser Ansicht verkennen den Zweck der Anmeldung und damit zugleich, daß hier künftige Versorgungsansprüche gemeint sind. Die Anmeldung eines Versorgungsanspruchs braucht nicht das Begehren einer Leistung zu enthalten. Wer einen Versorgungsanspruch "anmeldet", bringt damit der Verwaltungsbehörde nur zur Kenntnis, daß, abgesehen von seinem Antrag, die Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind oder künftig sich verwirklichen können, durch die ein Anspruch auf Versorgung für ihn entstehen kann. Von dem Antrag unterscheidet sich die Anmeldung auch dadurch, daß sie unter einem Vorbehalt oder unter einer Bedingung rechtswirksam erfolgen kann, z.B. für den Fall, daß das Leiden des Anmeldenden sich verschlimmert oder seine wirtschaftlichen Verhältnisse sich verschlechtern (vgl. dazu § 1546 RVO, AN. d. RVA. 1913 S. 546 = EuM. d. RVA. 1 S. 393; 26 S. 368). Dem Zweck des § 56 BVG wird schon dadurch genügt, daß die Verwaltungsbehörde über die Möglichkeit, Versorgung gewähren zu müssen, unterrichtet wird; sie wird dadurch in die Lage versetzt, den Sachverhalt rechtzeitig aufzuklären, um eine künftige Entscheidung vorzubereiten. Ein "Antrag" ist immer zugleich eine "Anmeldung" - insoweit ist gegen die Fassung der Nr. 1 VV zu § 1 BVG nichts einzuwenden -, nicht aber notwendig umgekehrt.

Die Abhängigkeit des Beginns der Versorgung von der Anmeldung des Anspruchs (§ 60 Abs. 1 und Abs. 3, § 61 Abs. 2 und Abs. 3 BVG) kann ebenfalls nicht gegen die sachlich-rechtliche Bedeutung des Antrags angeführt werden. Wenn auch nach diesen Vorschriften in gewissen Fällen die Versorgungsleistungen vor der Anmeldung des Anspruchs beginnen, so erklärt sich die Vorverlegung des Anfangstermins nur daraus, daß das Gesetz der Anmeldung, sofern in ihr ein Antrag liegt, aus Gründen der Vereinfachung des Verfahrens und der Billigkeit in engen Grenzen rückwirkende Kraft beilegt.

Die Vorschriften über das Ruhen des Rechts auf Versorgung nach §§ 64, 65 BVG setzen voraus, daß ein Recht auf Versorgung vor Eintritt der das Ruhen bewirkenden Umstände entstanden ist (vgl. RVG 4 S. 166). Aus diesen Vorschriften kann nicht geschlossen werden, daß der Antrag auf Versorgung zum Entstehen eines Anspruchs nicht erforderlich sei. Dasselbe gilt von den Vorschriften über die Übertragung, Verpfändung und Pfändung des Anspruchs auf Versorgungsbezüge nach den §§ 67 bis 71a BVG.

Der erkennende Senat gelangt mithin bei der Auslegung des § 1 BVG zu demselben Ergebnis wie das LSG. Bremen in dem rechtskräftig gewordenen Urteil vom 7. Juli 1955 - KO 474/54 - (BVBl. 1955 S. 172).

Ist somit für die Entstehung eines Versorgungsanspruchs, und im besonderen Fall für die Entstehung des Witwenrentenanspruchs der Klägerin, gemäß § 1 Abs. 5, § 38 BVG ein Antrag erforderlich, so hatte die Klägerin einen solchen Anspruch im Augenblick ihrer Wiederverheiratung (25.1.1951) nicht. Als sie den Antrag am 6. Mai 1952 stellte, war sie seit mehr als 15 Monaten nicht mehr Witwe und konnte deshalb rückwirkend für die Zeit vor ihrer Wiederverheiratung einen Witwenrentenanspruch nicht mehr erwerben. Sie kann sich für den rückwirkenden Erwerb auch weder auf § 61 Abs. 2 noch auf § 88 BVG berufen, da ihr Antrag nicht in die dort vorgeschriebenen Fristen fällt. Die Klägerin mußte jedoch einen Rentenanspruch für die Zeit vor ihrer Wiederverheiratung haben, damit an seine Stelle ein Anspruch auf Heiratsabfindung treten konnte. Dies ist nach der oben angeführten Rechtsprechung des BSG. (BSG 1 S. 189; Urteil des BSG vom 20.9.1955 - 9 RV 78/54) zu fordern. Der Anspruch auf Heiratsabfindung ist, jedenfalls nach der alten Fassung des BVG, ein von einem bestehenden Witwenrentenanspruch abhängiger Anspruch, der durch die Heiratsabfindung abgelöst wird.

Da die Klägerin bei ihrer Wiederverheiratung mangels eines entsprechenden Antrags keinen Witwenrentenanspruch hatte, konnte sie mit dem Antrag vom 6. Mai 1952 auch keinen Anspruch auf Heiratsabfindung erwerben. Das VersA. Bremen hat daher mit Recht den Antrag der Klägerin auf Heiratsabfindung mit Bescheid vom 14. August 1952 abgelehnt. Die dieser Rechtsauffassung widersprechenden Urteile des LSG. Bremen vom 28. Januar 1955 und des SG. Bremen vom 19. März 1954 waren daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1957, 197

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