Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. wesentlicher Verfahrensmangel als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision. vorschriftswidrige Senatsbesetzung im Berufungsverfahren
Orientierungssatz
1. Eine Klägerin, die wegen ihrer Mittellosigkeit zunächst verhindert war, die Revisionsfrist einzuhalten, handelt nicht schuldhaft und kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangen.
2. Ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Revision statthaft macht, liegt vor bei gleichzeitiger Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Senat eines Landessozialgerichts.
Normenkette
SGG §§ 33-34, 210, 67, 162 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 24.02.1959) |
Tenor
1. Der Klägerin wird die Wiedereinsetzung inden vorigen Stand gewährt.
2. Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. Februar 1959 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin wohnt in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Sie erstrebt die Gewährung einer Witwenrente aus der Rentenversicherung ins Ausland. Die Beklagte lehnte den darauf gerichteten Antrag ab (Bescheid vom 11.4.1957). Beide Vorinstanzen bestätigten diese Entscheidung. Das Landessozialgericht (LSG.) ließ die Revision nicht zu (Urteil vom 24.2.1959). Das Urteil wurde der Klägerin am 18. April 1959 zugestellt. Sie beantragte am 2. Mai 1959, ihr für eine beabsichtigte Revision das Armenrecht zu bewilligen. Diesem Antrag wurde durch Beschluß des Senats vom 17. Februar 1960 entsprochen. Daraufhin bat sie am 7. März 1960, ihr wegen der Versäumnis der Revisionsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren; gleichzeitig legte sie Revision gegen das Urteil des LSG. ein und beantragte, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Sie rügte als wesentlichen Mangel des Verfahrens eine Verletzung des § 33 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch eine vorschriftswidrige Besetzung des Senats beim LSG.: Bei der Entscheidung hätten, wie sich aus dem Urteil und der Sitzungsniederschrift ergäbe, unzulässigerweise zwei Sozialgerichtsräte als Hilfsrichter mitgewirkt. Die Beklagte beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Nach ihrer Meinung ist ein Senat des LSG. nicht allein dadurch vorschriftswidrig besetzt, daß ihm bei der Entscheidung zwei Sozialgerichtsräte als Hilfsrichter angehört haben.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) sind gegeben. Die Klägerin, die wegen ihrer Mittellosigkeit - also ohne Verschulden - zunächst verhindert war, die Revisionsfrist einzuhalten, hat nach der Bewilligung des Armenrechts innerhalb eines Monats die Revision in der gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 164 SGG) eingelegt und damit die versäumte Rechtshandlung nachgeholt. Die Revision ist statthaft, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt ist und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG. 1 S. 150).
Der Senat eines LSG. muß mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei Landessozialrichtern als ehrenamtlichen Beisitzern besetzt sein (§§ 33, 34, 210 SGG). An der angefochtenen Entscheidung haben als weitere Berufsrichter zwei Sozialgerichtsräte, die damals Hilfsrichter beim LSG. waren, mitgewirkt. Das war nicht zulässig. Die Spruchkörper jedes Gerichts müssen - abgesehen von den ehrenamtlichen Beisitzern - in der Regel aus den ordentlichen Mitgliedern dieses Gerichts gebildet werden. Die Mitwirkung von Hilfsrichtern in den Kammern und Senaten soll eine Ausnahme sein; das folgt aus dem Wortlaut des Gesetzes (§ 11 Abs. 3 SGG i. Verb. mit § 10 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes), aus der grundsätzlichen Unversetzbarkeit der Richter (Art. 97 Abs. 2 des Grundgesetzes) und ergibt sich auch daraus, daß bereits in der zweiten Instanz als Hilfsrichter nur Richter mitwirken dürfen, die bei einem anderen Gericht auf Lebenszeit ernannt sind, und daß Hilfsrichter für die dritte Instanz überhaupt nicht vorgesehen sind (§§ 32, 40, 210 SGG). Der Einsatz von zwei Hilfsrichtern in einem Senat entspricht nicht den Vorstellungen des Gesetzgebers über die Besetzung der Spruchkörper. In der Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960 ist deshalb ausdrücklich vorgesehen, daß in einem Senat nicht mehr als ein Hilfsrichter tätig sein darf (§ 18). Der Rechtsuchende kann erwarten, daß in den Kammern und Senaten des für ihn zuständigen Gerichts jeweils möglichst nur Richter dieses Gerichts mitwirken und daß insbesondere beim Instanzgericht grundsätzlich Richter entscheiden, die planmäßig zu dieser Instanz gehören. Das Bundessozialgericht (BSG.) legt deshalb die Vorschriften, nach denen bei Entscheidungen ausnahmsweise Hilfsrichter mit tätig werden dürfen, eng aus und hat bereits mehrfach entschieden, daß die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Senat eines LSG. vorschriftswidrig ist (BSG. 9 S. 137; Sozialrecht § 210 SGG Bl. Da 1 Nr. 4). Der erkennende Senat hat sich dieser von anderen Senaten entwickelten Rechtsprechung im Ergebnis angeschlossen (Urteil vom 23.3.1960 - 1 RA 143/59). Er hält das Verfahren eines mit zwei Hilfsrichtern besetzten Senats für fehlerhaft. Dieser Fehler macht, weil die Klägerin ihn ausdrücklich gerügt hat, die Revision statthaft.
Die Revision ist auch begründet. Auf dem genannten Verfahrensmangel beruht das angefochtene Urteil (§ 162 Abs. 2 SGG). Das LSG. muß in vorschriftsmäßiger Besetzung den Rechtsstreit noch einmal verhandeln und entscheiden (§ 170 Abs. 2 SGG). Hinsichtlich des Wunsches der Klägerin, im Berufungsverfahren einen Rechtsanwalt beigeordnet zu erhalten, wird auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen, nach der im Sozialgerichtsverfahren erster und zweiter Instanz die Verwirklichung hinreichenden Rechtsschutzes auch ohne die Möglichkeit der Anwaltsbeiordnung gewährleistet ist (Bundesverfassungsgericht 9 S. 124). Der Vorsitzende des Senats beim LSG. sollte jedoch prüfen, ob nicht die Bestellung eines besonderen Vertreters (§ 72 Abs. 3 SGG) für die im Ausland lebende Klägerin ratsam erscheint.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen