Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente. Antragstellung. Fristversäumnis
Orientierungssatz
Ein Geschäftsunfähiger verliert seine Rechte nicht durch Fristablauf, sofern sie innerhalb von sechs Monaten seit Wegfall des Hindernisses geltend gemacht worden sind; wird diese Frist nicht gewahrt, so verliert auch die Person, die während des Laufs der Ausschlußfrist geschäftsunfähig und ohne gesetzlichen Vertreter gewesen ist, ihre Rechte.
Normenkette
KBLG WB Art. 12 Abs. 1-2, Art. 9 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 27.04.1959) |
SG Ulm (Entscheidung vom 26.07.1957) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. April 1959 und des Sozialgerichts Ulm vom 26. Juli 1957 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger wurde am 21. November 1940 in M... (Tschechoslowakei) als unehelicher Sohn der E... H... geboren. Im Juni 1946 kam er nach der Vertreibung aus der Tschechoslowakei mit seiner Mutter zunächst nach Oberbayern, im April 1948 dann nach H.... Der Vater des Klägers, F... C..., ist seit September 1943 vermißt. Die Vormundschaft wurde bis 1945 vom Jugendamt H... geführt, im Juni 1948 nahm das Kreisjugendamt H... die Amtsvormundschaft auf, es beantragte im März 1949 Waisenrente. Das Versorgungsamt bewilligte die Rente durch Bescheid vom 8. Dezember 1954 vom 1. März 1949 an. Der Kläger legte Widerspruch ein und begehrte die Waisenrente bereits vom 1. Februar 1947 an; der Widerspruch blieb jedoch erfolglos (Bescheid vom 19. September 1955). Auf die Klage hin verurteilte das Sozialgericht (SG) den Beklagten, dem Kläger auch für die Zeit vom 1. Februar 1947 bis 28. Februar 1949 Waisenrente zu gewähren; es ließ die Berufung zu (Urteil vom 26. Juli 1957). Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Berufung ein. Nachdem der Kläger seinen Antrag auf die Zeit vom 1. April 1948 an beschränkt hatte, verurteilte das Landessozialgericht (LSG) den Beklagten, die Waisenrente von diesem Zeitpunkt an zu gewähren (Urteil vom 27. April 1959). Zur Begründung führte es aus, nach Art. 12 Abs. 1 und 2 des württemberg-badischen Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) entstehe der Anspruch auf Hinterbliebenenrente frühestens mit dem auf den Sterbetag folgenden Tag. Werde der Anspruch erst nach Ablauf eines Jahres nach dem Tode geltend gemacht, so beginne die Zahlung mit dem Monat, in dem die Voraussetzungen der Rente erfüllt seien, frühestens mit dem Monat, in dem die Anmeldung erfolgt sei. Als mutmaßlicher Todestag sei im vorliegenden Falle der 30. September 1943 anzusehen. Der Kläger habe nicht innerhalb eines Jahres nach diesem Zeitpunkt seinen Anspruch geltend gemacht, obwohl damals das Jugendamt H... die Vormundschaft noch ausgeübt habe. Trotzdem habe der Kläger nicht erst vom Monat März 1949 - dem Anmeldemonat - an Anspruch auf Waisenrente, denn es dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, daß er zeitweise ohne gesetzlichen Vertreter gewesen sei und deshalb den Anspruch nicht habe anmelden können. Nach der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5287 des Reichsversicherungsamts (RVA) - AN 1939 S. 208 -, der ein allgemeiner Rechtsgedanke zugrunde liege, dürfe ein Geschäftsunfähiger seine Rechte nicht deshalb verlieren, weil er keinen gesetzlichen Vertreter gehabt habe und seine Rechte aus diesem Grunde nicht habe wahrnehmen können; der Kläger müsse deshalb so gestellt werden, wie wenn er beim Inkrafttreten des KBLG am 1. Februar 1947 einen gesetzlichen Vertreter gehabt hätte; wenn der Vertreter den Antrag nicht im Februar 1947 gestellt hätte, hätte der Kläger die Rente ebenfalls erst vom Antragsmonat an erhalten können. Verzögerungen, die der später bestellte gesetzliche Vertreter verursacht habe, seien nicht zu berücksichtigen. Die Rente habe daher erst um so viele Monate nach dem 1. Februar 1957 beginnen können, wie vergangen seien zwischen dem Wegfall des Fehlens des gesetzlichen Vertreters und der tatsächlichen Antragstellung. Zwischen der Aufnahme der Vormundschaft durch das Kreisjugendamt H... im Juni 1948 und der Anmeldung im März 1949 seien neun Monate vergangen, danach könne die Rente nicht vom 1. Februar 1947, sondern frühestens vom 1. November 1947 an gewährt werden. Da das beklagte Land zur Zahlung von Waisenrente aber erst mit dem Zuzug nach H... im April 1948 zuständig geworden sei und der Kläger seinen Anspruch auf die Zeit vom 1. April 1948 an beschränkt habe, sei der Beklagte zur Zahlung der Waisenrente vom 1. April 1948 an zu verurteilen. Das LSG ließ die Revision zu.
Gegen das am 8. Juni 1959 zugestellte Urteil legte der Beklagte am 19. Juni 1959 Revision ein und begründete sie innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist am 8. August 1959. Er trug vor, das LSG habe die Art. 11 und 12 KBLG verletzt; der Antrag sei eine materiell-rechtliche Voraussetzung für das Entstehen jedes Versorgungsanspruchs; dies gelte auch dann, wenn der Anspruch nicht deshalb habe früher angemeldet und wenn der Antrag deshalb nicht früher habe gestellt werden können, weil es an der gesetzlichen Vertretung des Klägers gefehlt habe; eine rückwirkende Zubilligung der Waisenrente sei daher gesetzlich nicht möglich.
Der Beklagte beantragte,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 27. April 1959 und das Urteil des SG Ulm vom 26. Juli 1957 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Sie ist auch begründet.
Die Revision kann auf eine Verletzung von Vorschriften des in einem Teil des Landes Baden-Württemberg geltenden KBLG gestützt werden, da dieses Gesetz inhaltsgleich in allen Ländern der früheren amerikanischen Besatzungszone gegolten hat und damit über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus geltendes Recht gewesen ist (vgl. BSG 1, 56, 59).
Da der Beklagte dem Kläger Waisenrente vom 1. März 1949 an bewilligt hat, geht der Streit der Beteiligten nur noch darum, ob dem Kläger die Rente bereits vom 1. April 1948 an zusteht.
Nach Art. 12 Abs. 1 KBLG entsteht der Anspruch auf Hinterbliebenenrente frühestens mit dem auf den Sterbetag folgenden Tag. Wenn der Anspruch auf Hinterbliebenenrente erst nach Ablauf eines Jahres nach dem Tode geltend gemacht wird, beginnt nach Art. 12 Abs. 2 KBLG die Zahlung mit dem Monat, in dem die Voraussetzungen für die Gewährung der Rente erfüllt sind, frühestens mit dem Monat, in dem die Anmeldung erfolgt ist. Nur dann, wenn der Anspruch innerhalb der Frist von einem Jahr nach dem Tode geltend gemacht worden ist, besteht Anspruch auf Zahlung der Rente von einem früheren Zeitpunkt an, nämlich vom Inkrafttreten des KBLG am 1. Februar 1947 an, frühestens von dem auf den Sterbetag folgenden Tag an. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so darf die Rente nicht rückwirkend bewilligt werden; es kommt grundsätzlich nicht darauf an, aus welchen Gründen die Anmeldung innerhalb der Jahresfrist unterblieben ist. Zwar sind in Art. 9 Abs. 1 KBLG die Fälle geregelt, in denen nach Ablauf der Ausschlußfrist für die Anmeldung des Anspruchs, die in Art. 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 KBLG bestimmt ist, der Anspruch noch geltend gemacht werden kann; hierzu gehört auch der Fall, daß der Berechtigte an der Wahrung der Ausschlußfrist durch Umstände gehindert worden ist, "die außerhalb seines Willens lagen" (Art. 9 Abs. 1 Nr. 3 KBLG). Art. 12 KBLG, der den Beginn der Zahlung der Hinterbliebenenrente regelt, enthält jedoch keine dem Art. 9 Abs. 1 Nr. 3 KBLG entsprechende Vorschrift, er läßt nach dem Gesetzeswortlaut keine Ausnahme von dem Grundsatz zu, daß für den Beginn der Zahlung der Anmeldemonat maßgebend ist.
Selbst wenn man aber der Meinung ist, der Berechtigte müsse sich ebenso wie für die Wahrung der Ausschlußfrist in Art. 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 KBLG auch für den Beginn der Zahlung der Rente, der in Art. 12 Abs. 1 und 2 KBLG geregelt ist, darauf berufen können, daß er an der Anmeldung durch Umstände gehindert worden sei, die "außerhalb seines Willens lagen", so kann dies im vorliegenden Fall nicht dazu führen, den Beginn des Anspruchs auf Zahlung der Rente auf den 1. April 1948 festzusetzen. Soweit Art. 9 Abs. 1 Nr. 3 KBLG, ebenso wie § 57 Abs. 1 Nr. 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960, einen allgemeinen Rechtsgedanken enthält, besagt er nur, daß dann, wenn die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 Nr. 3 KBLG, § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG alter Fassung vorliegen, eine Frist nicht vor Ablauf von sechs Monaten abläuft, nachdem das Hindernis weggefallen ist; eine entsprechende Regelung auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts findet sich für den Ablauf der Verjährungsfrist in § 206 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), wonach dann, wenn eine geschäftsunfähige oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkte Person ohne gesetzlichen Vertreter ist, die gegen sie laufende Verjährung - im Regelfalle - nicht vor dem Ablauf von sechs Monaten nach dem Zeitpunkt vollendet wird, in dem die Person unbeschränkt geschäftsfähig wird oder der Mangel der Vertretung aufhört. Der allgemeine Rechtsgedanke, auf den das LSG sich berufen hat, könnte also nur dahin gehen, daß ein Geschäftsunfähiger seine Rechte nicht durch Fristablauf verliert, sofern sie innerhalb von sechs Monaten seit Wegfall des Hindernisses geltend gemacht worden sind; wird diese Frist nicht gewahrt, so verliert auch die Person, die während des Laufs der Ausschlußfrist geschäftsunfähig und ohne gesetzlichen Vertreter gewesen ist, ihre Rechte. Selbst wenn man also - obwohl Art. 12 KBLG sich nicht auf die Wahrung der Ausschlußfrist für die Anmeldung bezieht - diesen allgemeinen Rechtsgedanken auf die Regelung für den Beginn des Anspruchs auf Zahlung übertragen wollte, so könnte der Zahlungsbeginn nur dann über den Anmeldemonat hinaus vorverlegt werden, wenn der gesetzliche Vertreter "nach Wegfall des Hindernisses", das in dem Mangel der gesetzlichen Vertretung oder wie im vorliegenden Fall in der Unmöglichkeit der Ausübung der gesetzlichen Vertretung bestanden hat, binnen sechs Monaten tätig geworden ist. Das ist hier nicht geschehen, das Kreisjugendamt hat den Anspruch erst nach neun Monaten geltend gemacht, auch unter diesem Gesichtspunkt hat der Zahlungsbeginn nicht auf einen früheren Monat als den Anmeldemonat vorverlegt werden können. Auch wenn das RVA in der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5287 aaO für den Beginn einer Invalidenrente nach § 1286 Reichsversicherungsordnung (RVO) alter Fassung ausgeführt hat, die in dieser Vorschrift vorgesehene Antragsfrist von einem Monat beginne mit der Beseitigung des Hindernisses, das in dem Fehlen eines gesetzlichen Vertreters bestanden habe, so hat das RVA doch ebenfalls nach Wegfall dieses Hindernisses die Wahrung der Fristen für erforderlich gehalten, die die betreffende Vorschrift selbst enthält; die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn diese Fristen nicht eingehalten sind, hat das RVA nicht zu entscheiden gehabt.
Da das LSG sonach, ebenso wie das SG, Art. 12 Abs. 2 KBLG unrichtig angewandt hat, sind die Urteile des LSG und des SG aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, da weitere Ermittlungen nicht erforderlich sind (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Klage ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen