Leitsatz (redaktionell)
Weder das NVG noch das AVG (die RVO) enthalten eine Vorschrift, durch die eine schuldlos geschiedene Ehefrau nach dem auf einen "Verfolgungstatbestand" beruhenden Tod des früheren Ehemannes im Recht der Rentenversicherung einer Witwe gleichgestellt und der Versicherungsträger (die Versichertengemeinschaft) zum Ausgleich dieses Schadens verpflichtet wird; dieser Schaden wird vielmehr durch die Leistungen nach dem BEG ausgeglichen.
Normenkette
AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Mai 1962 wird zurückgewiesen.
Kosten sind der Klägerin nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin, geboren am 30. Mai 1903, war seit 1928 mit dem jüdischen Bankkaufmann Rudolf B (B.) verheiratet. Beiträge zur Angestelltenversicherung wurden für B. vom 1. Januar 1913 bis 31. Januar 1930 entrichtet. Die Ehe der Klägerin mit B. wurde am 23. Oktober 1939 geschieden, die Ehescheidungsakten sind nicht mehr vorhanden. Das Landessozialgericht (LSG) stellte fest, die Ehe sei aus rassischen Gründen ohne Verschulden der Klägerin geschieden worden, nach der Scheidung habe die Klägerin monatlich rd. 300,- RM verdient, sie habe aus ihrem Arbeitseinkommen auch ihren früheren Ehemann B. unterhalten; am 17. Mai 1943 sei B. deportiert worden und nicht mehr zurückgekommen. Im Entschädigungsverfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) wurde als Todestag des B. der 8. Mai 1945 festgestellt; durch Bescheid vom 11. Dezember 1959 gewährte das Entschädigungsamt Berlin der Klägerin vom 1. November 1953 an Witwenrente und für die Zeit vom 1. Juni 1945 bis 31. Oktober 1953 eine Kapitalentschädigung in Höhe von 21.360,74 DM.
Am 21. Mai 1959 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung des B.. Mit Bescheid vom 2. November 1959 lehnte die Beklagte den Antrag auf Rente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ab. Das Sozialgericht (SG) Stade verneinte sowohl die Voraussetzungen der Geschiedenenrente als auch der Witwenrente (Urteil vom 30. August 1960); die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg (Urteil des LSG Niedersachsen vom 18. Mai 1962). Das LSG führte aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Witwenrente nach § 41 AVG, sie sei durch den Tod des B. nicht Witwe geworden, weil sie von B. rechtskräftig geschieden gewesen sei; § 77 des Ehegesetzes (EheG) ändere hieran nichts. Geschiedenenrente nach § 42 AVG könne die Klägerin nicht beanspruchen, weil B. der Klägerin zur Zeit seines Todes weder nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zur Unterhaltsleistung verpflichtet gewesen sei noch ihr im letzten Jahr vor seinem Tod Unterhalt geleistet habe; es fehle eine gesetzliche Grundlage dafür, den Tatbestand in der Angestelltenversicherung so zu beurteilen, als ob B. nicht verfolgt worden wäre; das Recht der Angestelltenversicherung enthalte auch keine dem § 17 Abs. 2 Nr. 1 BEG entsprechende Vorschrift. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Klägerin am 15. Juni 1962 zugestellt.
Am 13. Juli 1962 legte die Klägerin Revision ein, sie beantragte,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. November 1959 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin Witwen- oder Geschiedenenrente zu zahlen.
Zur Begründung trug sie vor, sie habe nach § 77 EheG Anspruch auf Wiedergutmachung jeden Schadens, der sich aus der allein auf rassemäßigen Gründen beruhenden Scheidung ergebe; es sei unerheblich, daß sie die Klagefrist für die Härtemilderungsklage nach § 77 Abs. 2 EheG nicht gewahrt habe, der Ablauf dieser Frist sei gehemmt gewesen, weil sich die Klägerin damals nicht im Bundesgebiet, sondern im Saargebiet aufgehalten habe, die Beklagte dürfe sie nicht als geschiedene Frau behandeln; auch aus § 17 Abs. 2 Nr. 2 BEG ergebe sich, daß sie einer Witwe gleichzustellen sei; für den Witwenrentenanspruch komme es auf die Unterhaltspflicht oder Unterhaltsleistung des B. nicht an; jedenfalls habe sie aber Anspruch auf Geschiedenenrente nach § 42 AVG, sie erhalte vom Staat "für Rechnung des Verstorbenen bis zu dessen Tode und darüber hinaus" im Wege der Rente nach dem BEG den Unterhalt, den ihr B. geschuldet habe.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist jedoch nicht begründet. Das LSG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Hinterbliebenenrente verneint.
1. Den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente hat das LSG nach dem seit 1. Januar 1957 (Inkrafttreten des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -) maßgebenden Recht, nämlich nach § 41 AVG beurteilt. Dies ist deshalb unzutreffend, weil B. nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG vor dem 1. Januar 1957 gestorben ist; der Versicherungsfall ist sonach vor dem Inkrafttreten des AnVNG eingetreten. Der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente ist grundsätzlich nach den bis zum 31. Dezember 1956 maßgebenden Vorschriften zu beurteilen (Art. 2 § 6 AnVNG), also nach § 28 Abs. 3 Satz 1 AVG aF. Auch nach altem Recht kann die Klägerin aber - ebenso wie dies das LSG zu § 41 AVG ausgeführt hat - Witwenrente nicht beanspruchen, weil ihre Ehe mit B. zur Zeit des Todes des B. - selbst dann, wenn B. früher als an dem vom Entschädigungsamt Berlin als Todeszeitpunkt festgestellten 8. Mai 1945 gestorben wäre - durch das Scheidungsurteil vom 23. Oktober 1939 bereits aufgelöst gewesen ist; die Klägerin ist deshalb nicht infolge des Todes des B. "Witwe" geworden. Hieran ändert nichts, daß es zu der Scheidung nur wegen der Rasse des B. gekommen ist und die Ehe nicht wegen Verschuldens der Klägerin geschieden worden ist. Auch durch die Härtemilderungsklage nach § 77 des Kontrollratsgesetzes Nr. 16 vom 20. Februar 1946 - EheG 46 - hat in der Zeit, in der diese Klage zulässig gewesen ist, die Gestaltungswirkung des Scheidungsurteils, die in der Auflösung der Ehe gelegen hat, nicht beseitigt werden können (vgl. § 77 Abs. 4 EheG 46). Die Klägerin hat im übrigen eine solche Klage nie erhoben; auf die Ausführungen der Revision zu der Frist nach § 77 Abs. 2 EheG 46 kommt es daher nicht an.
2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Geschiedenenrente nach § 42 AVG. Auf diese Vorschrift kommt es hier an, weil B. zwar vor dem Inkrafttreten des AnVNG, aber nach dem 30. April 1942 gestorben ist (Art. 2 § 18 AnVNG). Die Voraussetzungen des § 42 AVG liegen jedoch nicht vor. Da nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt eine Unterhaltspflicht des B. gegenüber der Klägerin "aus sonstigen Gründen", etwa auf Grund einer Unterhaltsvereinbarung oder eines von der Klägerin erwirkten Unterhaltsurteils, ausscheidet, kommt es darauf an, ob B. der Klägerin "zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu leisten hatte oder ob er der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat". Beides ist nicht der Fall. Unter "Zeit des Todes" ist der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten zu verstehen, soweit er nach der Scheidung liegt (Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - vom 23. März 1961, BSG 14, 129 ff und vom 16. Juni 1961, BSG 14, 255 ff). B. ist, auch wenn sein Tod früher als am 8. Mai 1945 eingetreten wäre, jedenfalls nach dem 17. Mai 1943, dem Zeitpunkt seiner Deportierung, gestorben, der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor seinem Tode ist damit der Zustand gewesen, der durch die Scheidung im Jahre 1939 eingetreten ist. Die Frage, ob B. der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt "nach den Vorschriften des EheG" zu leisten gehabt hat, ist nach dem Recht zu beurteilen, das damals gegolten hat (BSG 5, 179 ff, 182, 183; 276 ff, 279); im vorliegenden Fall ist die Unterhaltspflicht des B. damit nach dem Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. Juli 1938 (EheG 38) zu beurteilen. Da das LSG zwar festgestellt hat, eine Schuld der Klägerin an der Scheidung sei im Scheidungsurteil nicht ausgesprochen, im übrigen aber der Inhalt des Scheidungsurteils nicht mehr zu ermitteln ist, käme als Grundlage für die Unterhaltspflicht des B. § 66 Abs. 1 EheG 38 - Scheidung aus alleinigem oder überwiegendem Verschulden des Mannes - oder § 69 EheG 38 - Scheidung aus anderen Gründen - in Betracht. Die Voraussetzungen für eine Unterhaltspflicht des B. nach § 66 Abs. 1 und § 69 Abs. 1 EheG 38 haben schon deshalb nicht vorgelegen, weil die Klägerin nach der Scheidung aus ihrer eigenen Erwerbstätigkeit ein Einkommen von 300,- RM monatlich erzielt und dieses Einkommen damals für ihren angemessenen Unterhalt ausgereicht hat. Nach § 69 Abs. 2 EheG 38 hätte die Klägerin von B. Unterhalt nur zu beanspruchen gehabt, wenn B. die Scheidung verlangt hätte, was das LSG nicht festgestellt hat; selbst wenn dies aber der Fall gewesen wäre, so wäre eine Unterhaltspflicht des B. wiederum schon deshalb nicht in Frage gekommen, weil die Klägerin selbst ein für ihren Unterhalt ausreichendes Einkommen gehabt hat.
3. Die Klägerin kann aber auch nicht, wie sie meint, deshalb von der Beklagten Hinterbliebenenrente - sei es Witwenrente, sei es Geschiedenenrente - beanspruchen, weil es zu der Scheidung nur wegen der Rasse des B. gekommen ist, B. nur deshalb, weil er Jude gewesen ist, nach der Scheidung ein nennenswertes Einkommen nicht mehr hat erwerben können und sein Tod infolge nationalsozialistischer Verfolgung eingetreten ist. Der Ausgleich dafür liegt in der Gewährung von Rente und Kapitalentschädigung nach dem BEG. Durch den Bescheid des Entschädigungsamts Berlin vom 11. Dezember 1959 ist der Klägerin Rente nach § 16 Nr. 1 und Kapitalentschädigung nach § 16 Nr. 3 BEG bewilligt worden, weil sie "Anspruch auf Entschädigung für Schaden an Leben" nach § 15 Abs. 1 und 2 BEG gehabt hat. Unter "Schaden an Leben" versteht das BEG wirtschaftlichen Schaden der Hinterbliebenen, den die Tötung des Verfolgten ausgelöst hat (vgl. Blessin-Ehrig-Wilden, Komm. zum BEG, 1960, Bd. I, Vorbemerkung zu § 15 BEG). Der schuldlos geschiedenen Ehefrau steht nach dem BEG der gleiche Anspruch zu, wie der Witwe (§ 17 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 Nr. 1 BEG), ohne Rücksicht darauf, aus welchen Gründen die Ehe geschieden worden ist. Dieser Anspruch soll auch den Schaden ausgleichen, den eine wegen der Rasse des Ehemannes schuldlos geschiedene Ehefrau durch die Tötung des früheren Ehemannes erlitten hat. Aus dieser Gleichstellung folgt, daß der Entschädigungsanspruch der schuldlos geschiedenen Ehefrau nach dem BEG nicht davon abhängig ist, ob der frühere Ehemann ihr gegenüber unterhaltspflichtig gewesen ist oder sie unterhalten hat; bei der schuldlos geschiedenen Ehefrau wird unterstellt, daß sie ebenso wie die Witwe durch den Tod des Ehemannes Unterhaltsansprüche verloren und insoweit einen wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. Die Gleichstellung hinsichtlich des Entschädigungsanspruchs ändert aber weder für den Anwendungsbereich des BEG noch für andere Rechtsgebiete, insbesondere für das Recht der Rentenversicherung, etwas an der Tatsache der Scheidung. Auch nach dem BEG ist die frühere Ehefrau ebenso wie nach dem Recht der Rentenversicherung nicht Witwe, sie hat nur die gleichen Ansprüche, wie wenn sie durch Verfolgungsmaßnahmen Witwe geworden wäre. Die Rente nach dem BEG, die der schuldlos geschiedenen Ehefrau bis zu ihrem Tode gewährt wird, tritt an die Stelle etwaiger Unterhaltsansprüche gegen den früheren Ehemann, deren Geltendmachung wegen seines Todes nicht mehr möglich ist oder an die Stelle etwaiger tatsächlicher Unterhaltsleistungen des früheren Ehemannes. Dies ist auch zu beachten, wenn geprüft wird, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Geschiedenenrente nach § 42 AVG vorliegen. § 42 AVG setzt nämlich voraus, daß Unterhaltsansprüche der früheren Ehefrau gegen den Versicherten oder Unterhaltsleistungen des Versicherten an die frühere Ehefrau infolge des Todes des Versicherten wegfallen. Die Geschiedenenrente nach § 42 AVG hat auf alle Hinterbliebenenrenten der Rentenversicherung "Unterhaltsersatzfunktion". Für einen "Unterhaltsersatz" durch Gewährung von Rente aus den Rentenversicherungen ist aber kein Raum, wenn der Wegfall des Unterhaltsanspruchs oder der Unterhaltsleistungen auf einem "Verfolgungstatbestand" beruht und der verfolgungsbedingte wirtschaftliche Schaden schon durch Leistungen ausgeglichen wird, die nach besonderen, an den "Verfolgungstatbestand" anknüpfenden Rechtsvorschriften zu gewähren sind. Für diese Auffassung sprechen auch die §§ 5, 138 BEG; nach diesen Vorschriften richtet sich die "Wiedergutmachung für Schaden, den der Verfolgte oder seine Hinterbliebenen in der Sozialversicherung erlitten haben, nach den hierfür geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere nach dem Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung" (VerfolgtenG) ; ein Anspruch auf Entschädigung besteht nicht, soweit der Anspruch auf Wiedergutmachung des Schadens seiner Rechtsnatur nach unter die Rechtsvorschriften zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung fällt; die Regelung nach diesen Rechtsvorschriften geht - auch dann, wenn sich aus diesen Rechtsvorschriften ein Anspruch nicht ergibt - dem Anspruch nach dem BEG vor ("Spezialität" des Anspruchs nach dem BEG, vgl. Blessin-Ehrig-Wilden aaO I zu § 5 BEG). Das VerfolgtenG , das nach Art. 2 § 6 AnVNG für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten des AnVNG maßgebend geblieben ist (vgl. Blessin-Ehrig-Wilden aaO V zu § 138 BEG), regelt aber die Wiedergutmachung für "Schaden an Leben" nicht; auch das AVG in der seit 1. Januar 1957 maßgebenden Fassung erfaßt nicht diesen Schadensfall. Weder das VerfolgtenG noch das AVG enthalten eine Vorschrift, durch die eine schuldlos geschiedene Ehefrau nach dem auf einen "Verfolgungstatbestand" beruhenden Tod des früheren Ehemannes im Recht der Rentenversicherung einer Witwe gleichgestellt und der Versicherungsträger (die Versichertengemeinschaft) zum Ausgleich dieses Schadens verpflichtet wird; dieser Schaden wird vielmehr durch die Leistungen nach dem BEG ausgeglichen. Hiervon ist auch das Entschädigungsamt Berlin in dem Bescheid vom 11. Dezember 1959 ausgegangen; es hat der Klägerin den Anspruch auf Leistungen nach den §§ 15 ff BEG zugebilligt, weil keine besonderen Rechtvorschriften bestehen, die unter dem Gesichtspunkt der "Spezialität" nach § 5 BEG den Anspruch nach dem BEG ausschließen.
Das LSG hat sonach zu Recht die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des LSG ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen