Entscheidungsstichwort (Thema)
Beiziehung der Personalakten oder Anhörung eines Dienstvorgesetzten
Leitsatz (redaktionell)
Das LSG darf nicht lediglich aus der Rechtsstellung des Klägers als Beamter Schlüsse auf seine Leistungsfähigkeit in seinem Beruf ziehen.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 1965 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger begehrt eine Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten wegen Berufsunfähigkeit. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) ist er vom 2. Januar bis 31. März 1939 Praktikant bei der D Kupferhütte und dort nacheinander in mehreren Abteilungen beschäftigt gewesen. Nach einer im Jahre 1962 ausgestellten Bescheinigung des Werkes hat Sozialversicherungspflicht bestanden; die Beiträge seien über die Betriebskrankenkasse an die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) abgeführt worden. Später hat der Kläger Rechtswissenschaften studiert und die erste und zweite juristische Staatsprüfung abgelegt. Im März 1955 ist er mehrere Tage lang beim VdK beschäftigt gewesen. Seit April 1955 ist er Beamter im gehobenen Justizdienst; im Jahre 1964 ist er zum Justizoberinspektor ernannt worden.
Der Kläger hält sich für berufsunfähig wegen des Zustands seiner Augen, nämlich Sehschwäche des rechten und Erblindung des linken Auges. Die Beklagte lehnte, den im August 1956 gestellten Rentenantrag ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei (Bescheid vom 9. Oktober 1958). Vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf berief sich der Kläger auf seine dreimonatige Beschäftigung im Jahre 1939; die Wartezeit gelte als erfüllt, weil er während eines Luftangriffs im Jahre 1942 an Kopf und Augen verletzt worden und 1945 auf dem linken Auge erblindet sei. Die Beigeladene erklärte sich bereit, eine Beitragsleistung von Januar bis März 1939 als glaubhaft gemacht anzusehen.
Das SG wies die Klage ab (Urteil vom 8. November 1962); das LSG Nordrhein-Westfalen wies die Berufung des Klägers zurück: Der Kläger könne die beanspruchte Rente nur erhalten, wenn er infolge Feindeinwirkung (§ 31 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - aF, § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) berufsunfähig geworden sei. Es werde unterstellt, daß durch Feindeinwirkung (Luftangriff) eine Schädigung des linken Auges bei Vorschädigung des rechten Auges eingetreten sei. Die Feststellungen aus dem beim LSG ebenfalls anhängig gewesenen Versorgungsrentenverfahren könnten nicht übernommen werden, weil § 1263 a RVO aF nicht die für das Versorgungsrentenverfahren gegebenen Beweiserleichterungen enthalte.
Es bestünden erhebliche Bedenken, ob für den Kläger im Jahre 1939 Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtet worden seien; weder die Abführung an die Betriebskrankenkasse der Kupferhütte noch ein Einkleben von Beitragsmarken in eine Quittungskarte seien wahrscheinlich. Aber auch wenn man von einer Beitragsleistung im Jahre 1939 ausgehe, bestehe kein Rentenanspruch. Für die Zeit vor 1957 schon deshalb nicht, weil der Kläger die Anwartschaft aus jenen Beiträgen nicht erhalten habe; für die Zeit seit 1957 deshalb nicht, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei. Hierbei sei von dem Beruf eines Laboranten auszugehen, der wegen nur dreimonatiger Tätigkeit keine besonderen Kenntnisse und Erfahrungen erlangt habe. In seiner jetzigen Stellung als Oberinspektor im Justizdienst könne der Kläger mehr als die Hälfte dessen erwerben, was ein vergleichbarer Laborarbeiter verdienen könne. Der Kläger entspreche nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten den Anforderungen des gehobenen Justizdienstes; dies ergebe sich auch daraus, daß er im Jahre 1964 zum Oberinspektor befördert worden sei. Im übrigen könne er auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden, die keine besonderen Anforderungen an das Sehvermögen stellen, wie das Falten von Kartons, Verpackungs- oder Stanzarbeiten (Urteil vom 14. Mai 1965).
Der Kläger legte die - vom LSG nicht zugelassene - Revision ein mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der vorausgegangenen Entscheidungen die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. September 1956 an zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er machte geltend, das LSG habe die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten und den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt (Verstöße gegen §§ 103 und 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Dies führte er in der Revisionsbegründung näher aus.
Die Beklagte beantragte die Verwerfung,
die Beigeladene die Zurückweisung der Revision.
Der Senat konnte nach Lage der Akten entscheiden (§ 126 SGG), nachdem der allein in der mündlichen Verhandlung erschienene Vertreter der Beklagten dies beantragt hatte.
Die Revision des Klägers ist statthaft, weil er einen tatsächlich vorliegenden wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG); das LSG hat seine Annahme, der Kläger sei nicht berufsunfähig, auf einen unzulänglich geklärten Sachverhalt gestützt.
Die Revision trägt vor, das LSG sei bei der Prüfung der Frage, ob der Kläger berufsunfähig ist, davon ausgegangen, daß der Kläger nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten den Anforderungen im gehobenen Justizdienst genüge. Es habe diesen Schluß hauptsächlich daraus gezogen, daß der Kläger im Jahre 1964 zum Oberinspektor befördert worden sei. Die Annahme des LSG beruhe jedoch auf einer Unterstellung, die durch den festgestellten Tatbestand nicht erhärtet werde. Zur Aufklärung dieses Umstandes hätten - was nicht geschehen sei - die Personalakten des Klägers beigezogen werden müssen. Aus ihnen hätte sich ergeben, daß der Kläger auf Grund seines Leidens den Anforderungen keineswegs genüge und nur aus sozialen Erwägungen und vergönnungsweise beschäftigt werde. Wenn das LSG die Beiziehung der Personalakten unterlassen habe, obwohl es sich hierzu durch den Sachvortrag des Klägers gedrängt fühlen mußte, so habe es seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts nicht genügt.
Der Vortrag des Klägers wird durch die Gründe des angefochtenen Urteils und durch den Akteninhalt im wesentlichen bestätigt. Insbesondere ergibt sich daraus nicht, daß das LSG vor der Entscheidung irgendwelche Ermittlungen über die tatsächlichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers angestellt und zum Beispiel die Personalakten des Klägers beigezogen und eingesehen hat. Ohne Kenntnis des Inhalts der Personalakten oder sonstige Erkundigungen, zum Beispiel Anhörung von Vorgesetzten konnte aber das LSG keinen sicheren Schluß darauf ziehen, daß der Kläger - wie das angefochtene Urteil ausdrücklich sagt - den Anforderungen im gehobenen Justizdienst genüge. Es ist dem LSG zwar zuzugeben, daß im allgemeinen die Befähigung zum Richteramt, die der Kläger nach Ablegung der ersten und zweiten juristischen Staatsprüfung formell besitzt, auch die Befähigung für die Aufgaben des gehobenen Justizdienstes mitumfaßt; auch scheint der Umstand, daß der Kläger die Stellung eines gehobenen Beamten im Justizdienst bereits seit 1955 innehat und im Jahre 1964 zum Oberinspektor befördert worden ist, gegen eine mangelnde Eignung des Klägers in seinem jetzigen Berufe zu sprechen. Zwingend ist dieser Schluß mindestens aber insoweit nicht, als die körperliche Leistungsfähigkeit zu beurteilen ist. Nach der Art des Leidens, von dem der Kläger betroffen ist - das Urteil des LSG enthält darüber allerdings keine eigenen erschöpfenden Feststellungen -, ist es nicht ausgeschlossen, daß er in der Justizverwaltung - was das LSG auf Seite 12 der Entscheidungsgründe selbst für möglich hält - lediglich aus fürsorgerischen Gründen und sozialen Erwägungen in der seiner Ausbildung nicht voll entsprechenden Stellung beschäftigt wird. Das LSG hat nicht geprüft und im einzelnen Feststellungen darüber getroffen, ob und inwieweit das Gehalt, das der Kläger als Beamter erhält, der von ihm erbrachten Leistung entspricht und bis zu welchem Maße er nach seinem Gesundheitszustand eine Tätigkeit im gehobenen Justizdienst ausfüllen kann. Was das LSG hierzu ausführt, sind bloße Vermutungen und Verallgemeinerungen, die - wie der Kläger mit Recht rügt - nicht auf tatsächlichen Feststellungen beruhen. Zu einer sorgfältigen Prüfung in diesem Punkte war aber das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus um so mehr verpflichtet, als der Kläger behauptet hatte, daß er - wenn auch erst neuerdings - täglich nur von 9 bis 12 Uhr bei der Rechtsantragsstelle eines Amtsgerichts tätig sei. Gerade diese Behauptung, der das LSG nicht ersichtlich nachgegangen und die es nicht auf ihre Richtigkeit hin geprüft hat, hätte ihm Anlaß geben müssen, an den dienstlichen Fähigkeiten des Klägers zu zweifeln und sich über die Gründe einer so ungewöhnlichen Diensterleichterung zu vergewissern. Hierzu bestand aber die Möglichkeit durch Beiziehung der Personalakten des Klägers oder durch die Anhörung eines Dienstvorgesetzten des Klägers als Zeugen. Wenn das LSG von solchen Ermittlungen abgesehen und lediglich aus der Rechtsstellung des Klägers als Beamter Schlüsse auf seine Leistungsfähigkeit in seinem Beruf gezogen hat, so hat es seiner Entscheidung einen nicht vollständig geklärten Sachverhalt zugrunde gelegt und damit gegen die §§ 103, 128 Abs. 1 SGG verstoßen.
Das LSG begründet seine Auffassung, daß der Kläger nicht berufsunfähig sei, allerdings noch damit, der Kläger könne auch körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verrichten, die kein gutes Sehvermögen verlangen, wie Falten von Kartons, Verpackungs- und Stanzarbeiten. Der Verrichtung solcher im wesentlichen mechanischer und in gleichförmig wiederkehrenden Bewegungen verlaufender Arbeiten stehe nicht entgegen, daß der Kläger nach dem Gutachten eines Sachverständigen beim Lesen Schwierigkeiten habe, einen zusammenhängenden Text zu erfassen. Die Revision macht geltend, daß auch diese Annahme des LSG auf einem Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht beruhe, weil nicht geprüft worden sei, ob der Kläger aus gesundheitlichen Gründen auf die genannten Tätigkeiten verwiesen werden könne. Hierzu hätte für das LSG deshalb Anlaß bestanden, weil beim Kläger - wie bereits in der Berufungsbegründung vorgetragen - ein sekundäres Glaukom vorliege, weshalb er nicht ohne Gefahr für den Verlust seiner restlichen Sehkraft auf körperliche Arbeiten verwiesen werden könne. Auch dieser Vortrag des Klägers wird durch die Gründe des angefochtenen Urteils und den Akteninhalt, insbesondere durch die Berufungsbegründung vom 7. April 1965 im wesentlichen bestätigt. Das angefochtene Urteil nimmt aber zu der Behauptung des Klägers keine Stellung, daß er bei auch nur mit geringem körperlichen Einsatz verbundenen Arbeiten der Gefahr einer Verschlechterung seines Augenzustandes ausgesetzt sei. Es hat diese Frage auch nicht ersichtlich geprüft.
Die Revision erweist sich danach wegen der vom Kläger ordnungsgemäß (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) unter Angabe der Tatsachen und Beweismittel gerügten Verfahrensverstöße als statthaft. Es kann dahinstehen, ob auch die übrigen von ihm gerügten Mängel zu dieser Statthaftigkeit führen können. Die Revision ist auch begründet; es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG, wenn es den Sachverhalt in den angegebenen Punkten weiter geklärt und das danach vollständige Beweisergebnis gewürdigt hätte, zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben werden. Der Senat ist in Ermangelung von ausreichenden tatsächlichen Feststellungen nicht in der Lage, den Rechtsstreit selbst zu entscheiden. Die Sache muß deshalb an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG dürfte, wenn es sich nunmehr erneut mit dem Rechtsstreit befassen wird, zweckmäßigerweise zunächst zu klären haben, ob der Kläger, der 1942 bei einem Luftangriff eine Beschädigung erlitten und durch deren Folgen 1945 berufsunfähig geworden sein will, in dieser Zeit Versicherter im Sinne von § 1263 a RVO aF gewesen ist (vgl. hierzu BSG 11, 295; 16, 26, 29; BSG im SozR Bl. Aa 17 zu § 1263 a RVO aF). In den Gründen seines Urteils äußert das LSG ausführliche Bedenken gegen die Richtigkeit des Inhalts der Bescheinigung, die von der Duisburger Kupferhütte dem Kläger am 26. März 1962 ausgestellt wurde; es hält eine Beitragsleistung für den Kläger in den Monaten Januar bis März 1939 für wenig wahrscheinlich, ohne daß es aber zu diesem Punkt endgültige Feststellungen getroffen hätte. Die Stichhaltigkeit dieser Bedenken lassen sich aber nach Auffassung des Senats unschwer durch die Vernehmung des Ausstellers der Bescheinigung oder einer sonstigen Auskunftsperson der Duisburger Kupferhütte als Zeugen klären. Diese Klärung, die möglicherweise weitere Erörterungen entbehrlich macht, erübrigt sich auch nicht etwa deshalb, weil die Beigeladene sich bereit erklärt hat, eine Beitragsleistung in der fraglichen Zeit als glaubhaft gemacht anzusehen. Darin liegt, wie das LSG richtig erkannt hat, kein für das Gericht beachtliches Anerkenntnis des geltend gemachten Klageanspruchs.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen