Entscheidungsstichwort (Thema)

Gutachterbenennung. grobe Nachlässigkeit

 

Orientierungssatz

1. Eine grobe Nachlässigkeit im Sinne des § 109 Abs 2 SGG liegt nicht schon darin, daß der Berechtigte den Antrag erst in der mündlichen Verhandlung stellt, es sei denn, daß besondere Umstände ihn zu einer früheren Antragstellung hätten veranlassen müssen (vgl BSG 1958-06-10 9 RV 836/55 = SozR Nr 19 zu § 109 SGG).

2. Kündigt ein Kläger zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung einen Antrag nach § 109 SGG an und erbittet er wegen eines Kuraufenthalts eine "gehörige Frist", so muß das Gericht dieser Bitte entsprechen. Tut es das nicht, so kann es nicht den kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellten und in ihr wiederholten Antrag als verspätet zurückweisen.

 

Normenkette

SGG § 109 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.10.1965)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Oktober 1965 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Mit Bescheid des Versorgungsamtes vom 26. Oktober 1960 wurden beim Kläger Narben an den Füßen nach Granatsplitterverletzung und ein kleiner Metallsplitter in der Leber als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anerkannt. Für Verlust der rechten Niere wurde eine Schädigungsfolge verneint. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Im Berufungsverfahren wurde ein Gutachten des Urologen Dr. H eingeholt, der für die Nierenschädigung einen Zusammenhang mit schädigenden Einwirkungen für den Fall bejahte, daß ein Lungenfacharzt das Bestehen einer Lungen-Tbc in der Gefangenschaft für wahrscheinlich halte. Lungenfacharzt Dr. S verneinte dies im Gutachten vom 26. Mai 1965. Hierauf teilte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers am 18. August 1965 dem Landessozialgericht (LSG) mit, daß sich der Kläger seit dem 1. Juli 1965 für drei Monate in der Hochgebirgsklinik R. zum Heilverfahren befinde. Durch seine Ehefrau lasse er einen Antrag nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ankündigen. Zur Präzisierung des Antrags werde eine gehörige Frist erbeten. Das LSG gab hierauf keine Antwort, sondern beraumte am 4. Oktober 1965 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 27. Oktober 1965 an. Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 1965 - beim LSG eingegangen am 26. Oktober 1965 - benannte der Kläger mit dem Bemerken, daß weiterhin eine Begutachtung gemäß § 109 SGG beantragt werde, den Facharzt für Tbc Dr. G als Gutachter. Dieser Antrag wurde in der mündlichen Verhandlung vom 27. Oktober 1965 aufrechterhalten. Mit Urteil vom gleichen Tage wies das LSG die Berufung zurück. Ein Zusammenhang zwischen dem Verlust der rechten Niere und dem Wehrdienst bzw. der Kriegsgefangenschaft sei nicht wahrscheinlich. Der Antrag des Klägers, gemäß § 109 SGG noch einen Arzt seines Vertrauens zur Frage der Lungen-Tbc gutachtlich zu hören, habe zurückgewiesen werden müssen, da durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden sei. Die vom Kläger erbetene "gehörige" Frist zur Präzisierung seines angekündigten Antrages nach § 109 SGG sei ihm stillschweigend gewährt worden. Diese Ankündigung habe noch nicht als Antrag nach § 109 SGG aufgefaßt werden können, zumal sie nicht den Namen des zu hörenden Arztes enthalte und außerdem nicht erkennen lasse, ob zur Frage des Zusammenhanges der Nierenerkrankung mit dem Wehrdienst bzw. der Kriegsgefangenschaft oder zur Frage des Vorliegens einer Lungen-Tbc ein Gutachten gewünscht werde. Die Benennung des Dr. G sei dann erst am 26. Oktober 1965 - wiederum ohne Angabe des Beweisthemas -, also nach mehr als zwei Monaten, erfolgt. Bei dem vom Kläger zu fordernden guten Willen bei der Förderung des Verfahrens mitzuwirken, hätte er den Antrag früher stellen können, auch wenn er zunächst habe ermitteln müssen, ob Dr. B von der Hochgebirgsklinik zur Begutachtung bereit war. Eine Frist von sechs Wochen sei zur Klärung der Vorfragen und zur Entschließung des Klägers angemessen und ausreichend gewesen.

Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 109 SGG. Das LSG hätte dem Antrag nach § 109 SGG stattgeben müssen. Aus der Benennung eines Lungenfacharztes im Schriftsatz vom 21. Oktober 1965 sei im Zusammenhang mit den Gutachten des Dr. H und des Lungenfacharztes Dr. S für das LSG erkennbar gewesen, daß Dr. G zur Frage des Bestehens einer Lungen-Tbc während der Militärzeit und der Gefangenschaft habe Stellung nehmen sollen; deshalb habe der Schriftsatz ein Beweisthema nicht ausdrücklich bezeichnen müssen. Aus dem Hinweis des Klägers im Schriftsatz vom 18. August 1965 habe das LSG ersehen können, daß der Kläger erst nach seiner Rückkehr aus der Heilstätte die zur genauen Antragstellung erforderlichen Fragen würde klären können, unabhängig hiervon hätte das LSG dem Kläger auf seinen Antrag eine Frist setzen müssen. Nur dann hätte es nach erfolglosem Fristablauf den Antrag als verspätet ablehnen dürfen.

Die angebliche stillschweigende Fristsetzung könne die Ablehnung des Antrags nicht rechtfertigen. Der Kläger habe nach dem Schweigen des LSG darauf vertrauen dürfen, daß das LSG von der Anberaumung eines Entscheidungstermins solange absehen werde, bis er den angekündigten Antrag nach § 109 SGG präzisiert habe und das nach § 109 SGG beantragte Gutachten vorliege. Das LSG habe nicht berücksichtigt, daß der Kläger erst im Oktober 1965 aus der Heilstättenbehandlung zurückgekehrt und ihm schon deshalb eine frühere Entschließung nicht möglich gewesen, sowie daß der genaue Antrag unverzüglich nach Abschluß der Erörterungen am 21. Oktober 1965 gestellt worden sei. Das LSG habe bei seiner Annahme, der Antrag sei aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt werden, die Grenzen seines Rechts, hierüber nach freier Überzeugung zu entscheiden, überschritten.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des Urteils des LSG vom 27. Oktober 1965 die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Der Beklagte hat keinen Gegenantrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164, 166 SGG).

Zutreffend rügt die Revision, daß das LSG den vom Kläger gemäß § 109 SGG gestellten Antrag auf gutachtliche Anhörung des Dr. G nicht mit der Begründung hätte ablehnen dürfen, der Antrag sei aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt werden.

Nach § 109 Abs. 1 SGG muß auf Antrag des Versorgungsberechtigten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Hierbei handelt es sich um eine zwingende Verfahrensvorschrift, ein Verstoß hiergegen stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar (vgl. BSG in SozR Nr. 1 zu § 109 SGG). Zwar kann das Gericht nach § 109 Abs. 2 SGG einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Das Verfahren des LSG leidet aber an einem wesentlichen Mangel, wenn das Gericht mit der Annahme einer groben Nachlässigkeit die Grenzen seines Rechts, hierüber nach freier Überzeugung zu entscheiden, überschritten hat (BSG aaO Nr. 4). Dies ist hier der Fall. Eine grobe Nachlässigkeit liegt, wie der erkennende Senat entschieden hat (vgl. BSG aaO Nr. 19), nicht schon darin, daß der Berechtigte den Antrag erst in der mündlichen Verhandlung stellt, es sei denn, daß besondere Umstände ihn zu einer früheren Antragstellung hätten veranlassen müssen. Erkennt jedoch ein Beteiligter oder muß er erkennen, daß von Amts wegen keine Gutachten mehr eingeholt werden, so handelt er grob nachlässig, wenn er den Antrag nach § 109 SGG nicht in angemessener Frist stellt; er darf, falls diese Frist vor der mündlichen Verhandlung endet, mit der Antragstellung nicht bis zur mündlichen Verhandlung warten (BSG aaO Nr. 24). Im vorliegenden Falle hat der Kläger nicht erst in der mündlichen Verhandlung vom 27. Oktober 1965, sondern schon mit Schriftsatz vom 21. Oktober 1965, der allerdings erst am 26. Oktober 1965 beim LSG eingegangen ist, den Antrag nach § 109 SGG gestellt. Er hat darüber hinaus schon über zwei Monate vorher, nämlich mit Schreiben vom 18. August 1965, beim LSG eingegangen am 24. August 1965, einen Antrag nach § 109 SGG ankündigen lassen. Bei dieser Ankündigung handelte es sich zwar, wie das LSG zutreffend angenommen hat, noch nicht um einen Antrag nach § 109 SGG, da der Arzt weder namentlich bezeichnet noch aus den sonstigen Angaben bestimmbar war (vgl. BSG aaO Nr. 5). Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat jedoch eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß er seinen Antrag präzisieren werde und hierzu eine "gehörige Frist" erbeten. Er hat das LSG ferner darüber unterrichtet, daß sich der Kläger im Juli, August und September 1965 in einem Heilverfahren im Kleinen Walsertal befinde. Diese Mitteilung wurde ersichtlich zu dem Zweck gemacht, um dem Gericht eine Verhinderung des Klägers während dieser Zeit darzutun. Zwar war das LSG ohne Angabe näherer Gründe nicht genötigt, den Kläger während dieser ganzen Zeit als tatsächlich an der Antragstellung verhindert anzusehen. Wenn es jedoch der Meinung gewesen sein sollte, daß der Kläger auch während seiner dreimonatigen Abwesenheit - etwa durch seinen Prozeßbevollmächtigten - den Antrag stellen könne, so hätte es eine vor Oktober 1965 endende Frist setzen müssen, dies umsomehr , als der Kläger ausdrücklich um eine "gehörige Frist" gebeten hatte. Wenn das LSG davon absah, dem Kläger eine Frist zu setzen, so mußte es bei verständiger Würdigung des klägerischen Vorbringens davon ausgehen, daß der Kläger frühestens im Laufe des Oktober 1965 einen formgerechten Antrag nach § 109 SGG stellen werde. Es konnte schon deshalb den noch im Laufe des Oktober 1965 gestellten Antrag nicht wegen grober Nachlässigkeit als verspätet ablehnen. Andererseits durfte der Kläger aus dem Schweigen des LSG unter den gegebenen Umständen den Schluß ziehen, daß das Gericht zunächst seine Rückkehr aus dem Heilverfahren abwarten und allenfalls danach den angekündigten Antrag uU anmahnen, nicht aber, daß es schon am 4. Oktober 1965 Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumen werde, um ohne Anhörung eines weiteren Gutachters nach § 109 SGG in der Sache zu entscheiden. Der Kläger konnte deshalb darauf vertrauen, daß der am 21. Oktober 1965 gestellte Antrag vom LSG noch berücksichtigt werde. Da es im wesentlichen nur noch darum ging, ob der Kläger entgegen der Beurteilung des Lungenfacharztes Dr. S doch eine Lungen-Tbc in der Gefangenschaft durchgemacht hatte, war mit der Benennung des "Facharzt(es) für Tbc" Dr. med. G das Beweisthema in ausreichender Weise kenntlich gemacht, außerdem hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung das Beweisthema ausdrücklich angegeben. Auch zu diesem noch im Oktober liegenden Zeitpunkt war der Antrag nach § 109 SGG aus den obigen Gründen noch nicht aus grober Nachlässigkeit verspätet vorgebracht.

Nach alledem hat das LSG bei seiner Annahme, der Antrag sei aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden, die Grenzen seines Rechts freier richterlicher Entscheidung überschritten und den Antrag zu Unrecht nach § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt. Dieser wesentliche Verfahrensmangel macht die Revision statthaft. Das Urteil beruht auch auf diesem wesentlichen Mangel, da nicht auszuschließen ist, daß das LSG, wenn es dem Antrag stattgegeben hätte, zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache, da der Senat über den Anspruch bei dieser Sachlage nicht selbst entscheiden konnte, zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2149272

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