Leitsatz (amtlich)

ArVNG Art 2 § 10 Abs 1 Buchst a steht der Anwendung der - die Erfüllung der Wartezeit fingierenden - Vorschrift des RVO § 1263a Abs 1 Nr 1 aF auf vor dem 1942-05-01 eingetretene Versicherungsfälle selbst dann nicht entgegen, wenn der Rentenantrag erst nach dem 1956-12-31 (Inkrafttreten des ArVNG) gestellt worden ist (Fortführung von BSG 1962-03-16 12/3 RJ 64/59 = SozR Nr 13 zu § 1263a RVO aF).

 

Normenkette

RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17; ArVNG Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die 1899 geborene, seit 1915 als Hilfsarbeiterin beschäftigt und invalidenversichert gewesene Klägerin hat am 1. Juli 1919 durch einen Arbeitsunfall beide Beine bis zum Knie verloren. Sie ist seither keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung mehr nachgegangen.

Die Klägerin, die die Unfallvollrente bezieht und deren wiederholte, zwischen 1948 und 1965 gestellte Rentenanträge die Ruhrknappschaft unter Verneinung ihrer Zuständigkeit abgelehnt hatte, beantragte am 11. November 1965 bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 18. März 1966 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil die seit 1955 erwerbsunfähige Klägerin die Wartezeit nicht erfüllt habe.

Mit der hiergegen erhobenen Klage ist die Klägerin in den Vorinstanzen durchgedrungen. Im Urteil vom 23. März 1971 hat das Landessozialgericht (LSG) die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Dezember 1965 zusprechende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) bestätigt und ausgeführt: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei die Klägerin durch den Arbeitsunfall am 1. Juli 1919 invalide im Sinne des seinerzeitigen Rechts geworden. Sie habe damals aus den von September 1915 bis Juli 1919 zur Invalidenversicherung geleisteten 166 Pflichtwochenbeiträgen die Anwartschaft erhalten gehabt. Die seinerzeit erforderliche Wartezeit von 200 Pflichtbeitragswochen gelte gemäß dem durch die Vereinfachungsverordnung (VVO) vom 17. März 1945 in die Reichsversicherungsordnung (RVO) eingefügten § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. der durch Art. 26 VVO rückwirkend verfügten zeitlichen Erstreckung als erfüllt. Die hiergegen von der Beklagten unter Bezug auf Art. 2 § 10 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vorgetragenen Einwände könnten nicht durchdringen. Die Revision hat das LSG im Urteil zugelassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie trägt vor:

Das Berufungsgericht habe Art. 2 § 10 ArVNG verletzt, weil es zu Unrecht davon ausgegangen sei, § 1263 a RVO aF gelte auch noch für nach dem Inkrafttreten des ArVNG geltend gemachte Rentenansprüche. Mit dem Inkrafttreten des ArVNG seien vielmehr die bis dahin geltenden Vorschriften, die die Erfüllung der Wartezeit fingierten, außer Kraft getreten. Hinsichtlich der die Auffassung des LSG stützenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) mache sie sich die in zwei Entscheidungen des erkennenden Senats herausgestellten Bedenken zu eigen.

Die Beklagte beantragt,

die Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1971 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25. April 1969 abzuändern und die Klage gegen den Bescheid vom 18. März 1966 abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen und der Beklagten die Kosten auch des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.

Sie schließt sich der von der Vorinstanz vertretenen Rechtsauffassung an.

II.

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Nach Art. 2 § 5 des am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen ArVNG vom 23. Februar 1957 sind für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor Inkrafttreten dieses Gesetzes die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften maßgebend, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist. Die Klägerin ist am 1. Juli 1919 invalide geworden. Nach § 1278 RVO in der zu dieser Zeit gültig gewesenen Fassung betrug die Wartezeit für eine Versichertenrente 200 Pflichtbeitragswochen. Da die Klägerin nur 166 Beitragswochen zurückgelegt hat, kann der von ihr erhobene Rentenanspruch nur begründet sein, wenn eine Vorschrift besteht, die für im Jahre 1919 eingetretene Versicherungsfälle die Erfüllung der Wartezeit fingiert. Das ist der Fall.

Die RVO in der am 1. Juli 1919 geltenden Fassung enthält zwar keine solche Vorschrift. Indessen ist durch das Urteil des 4. Senats des BSG vom 24. April 1958 (BSG 7, 146) bereits geklärt, daß § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO in der - alten - Fassung des Art. 17 VVO, welcher bei Invalidität infolge Arbeitsunfalls die Erfüllung der Wartezeit fingiert, auf Grund der ihm durch Art. 26 VVO beigelegten Rückwirkung auf alle vor dem 1. April 1945 eingetretenen Versicherungsfälle anzuwenden ist, sofern nur, was hier zutrifft, bis zu diesem Zeitpunkt ein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid noch nicht ergangen ist. Der 12. Senat ist dieser Auffassung in der Entscheidung vom 16. März 1962 (SozR Nr. 13 zu § 1263 a RVO aF) beigetreten; er hat zudem herausgestellt, daß der Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG in bezug auf alte Versicherungsfälle den 1. Mai 1942 nicht wieder einengend als Stichtag eingeführt hat, von dem die Anwendung der die Erfüllung der Wartezeit fingierenden Vorschriften abhängt. Art. 2 § 10 Abs. 1 ArVNG regele allein die Anwendung der neuen Wartezeitfiktion des § 1252 RVO nF auf nach dem 30. April 1942 eingetretene Versicherungsfälle, schreibe aber nicht vor, daß § 1263 a RVO aF nur vom 1. Mai 1942 an anzuwenden sei. Der erkennende Senat hat sich in seinem Urteil vom 14. April 1964 (5 RKn 81/61) der erstgenannten Entscheidung des 4. Senats bereits grundsätzlich angeschlossen und in einem weiteren Urteil vom 5. November 1965 (BSG 24, 85) gewisse Bedenken an diese Rechtsprechung nur noch insoweit aufrechterhalten, als es sich um ihre Übernahme speziell auf das Knappschaftsrecht handelt. Entgegen der Auffassung der Beklagten scheitert der Anspruch der Klägerin nicht daran, daß sie den Rentenantrag erst nach dem Außerkrafttreten des bis zum 31. Dezember 1956 geltenden - alten - Rechts gestellt hat. Zwar trifft zu, daß nach § 1286 Abs. 1 RVO aF die Rente erst mit Ablauf des Antragsmonats beginnen konnte, sofern sie nach dem Ende des Kalendermonats beantragt wurde, das dem Monat folgt, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt waren. Da sich indessen die Abhängigkeit des Rentenanspruchs vom Rentenantrag nach altem Recht auf den Rentenbeginn beschränkte und der fehlende Antrag insbesondere die zentrale rentenrechtliche Bedeutung des Versicherungsfalles nicht zu schmälern vermochte, hatte die seit 1919 auf Grund Arbeitsunfalls invalide Klägerin nach dem mit Rückwirkung ausgestatteten § 1263 a Abs. 1 Nr. 1 RVO aF schon vor dem 1. Januar 1957 einen Anspruch auf Invalidenrente, die mangels eines Antrages nur noch nicht beginnen konnte. Diesen bereits nach altem Recht erworbenen und nur noch hinsichtlich des Zahlungsbeginns in der Schwebe befindlichen Rentenanspruch hat Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG nicht beseitigt: Diese vom alten auf das neue, ab 1. Januar 1957 geltende Recht überleitende Vorschrift zielt ersichtlichermaßen auf eine Begünstigung der Versicherten und ihrer Hinterbliebenen ab, indem sie z.B. für die Fiktion der Wartezeiterfüllung nach § 1252 Nr. 1 RVO nF schon für Zeiten vor dem 1. Januar 1957 den Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit genügen läßt. Sie findet auf die vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfälle der Invalidität auch dann keine Anwendung, wenn wegen des nach dem 31. Dezember 1956 gestellten Antrags die Rente erst nach diesem Zeitpunkt als Rente neuen Rechts gewährt werden kann. In diesen Fällen richtet sich die Frage der Wartezeitfiktion gemäß Art. 2 § 5 ArVNG nach wie vor nach altem Recht, d.h. nach § 1263 a RVO aF.

Hat nach allem Art. 2 § 10 Abs. 1 ArVNG der Klägerin die schon vor dem 1. Januar 1957 erworbene rentenrechtliche Position nicht entzogen, so haben ihr, nachdem sie nunmehr den bis dahin fehlenden Rentenantrag gestellt hat, die Vorinstanzen zu Recht die Versichertenrente zugesprochen.

Das Urteil des LSG trifft also zu. Die Revision hiergegen war als unbegründet zurückzuweisen und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten (§ 193 des Sozialgerichtsgesetzes).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669767

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