Leitsatz (amtlich)
Das Tatsachengericht verstößt gegen seine Amtsermittlungspflicht, wenn es unterläßt, eine Auskunft der BA darüber einzuholen, ob der eingeschränkte Teilzeitarbeitsmarkt des gesamten Bundesgebietes für männliche Versicherte, die noch halbschichtig bis unter vollschichtig tätig sein können, iS der Beschlüsse des GrS vom 1969-12-11 GS 4/69 und GS 2/68 (BSGE 30, 180, 206) für den Versicherten als "stark" eingeschränkt anzusehen ist. Das Tatsachengericht kann von der Einholung einer solchen Auskunft nur absehen, wenn die BA über einen gleichliegenden Fall bereits eine zeitlich nicht allzulange zurückliegende Auskunft erteilt hat, die dem Gericht bekannt ist und die es seiner Entscheidung zugrunde legt.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Juni 1971 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Jahre 1914 geborene Kläger erlernte nach seinen Angaben den Bäckerberuf und legte im Jahre 1934 die Gehilfenprüfung ab. Er war als Bauhilfsarbeiter, Hausbursche, Fensterputzer, Reichsbahnarbeiter, Rangierarbeiter und Hilfszugschaffner tätig bis er am 1. Dezember 1941 als Zugschaffner in das Beamtenverhältnis übernommen wurde. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1969 wurde er als Oberzugführer in den Ruhestand versetzt.
Den Antrag des Klägers, ihm Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Juli 1969 ab. Die vom Kläger erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Augsburg mit Urteil vom 13. April 1970 abgewiesen, die dagegen eingelegte Berufung hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 30. Juni 1971 zurückgewiesen. Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger noch täglich 5 bis 6 Stunden leichte Arbeiten im Sitzen verrichten. Das gelte insbesondere dann, wenn die Möglichkeit gegeben sei, die sitzende Tätigkeit öfter einmal durch Aufstehen und Gehen von kurzen Wegstrecken zu unterbrechen. Da sich der Kläger vor seiner Übernahme in das Beamtenverhältnis vom Bäckerberuf gelöst und nur noch Hilfsarbeiten verrichtet habe, könne er auf den gesamten allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden. Eine starke Einschränkung des für den Kläger in Betracht kommenden Arbeitsmarktes sei nicht gegeben. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision nicht zugelassen.
Der Kläger hat gegen das Urteil Revision eingelegt und als Verfahrensfehler eine unzureichende Sachaufklärung (Verstoß gegen § 103 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) gerügt. Es sei nicht ausreichend geklärt, ob der Kläger, der über die zeitliche Einschränkung der Arbeitszeit hinaus noch weiteren Einschränkungen unterliege, nur auf einen so stark eingeschränkten Teil des Teilzeitarbeitsmarktes verwiesen werden könne, daß ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 30. Juni 1971, das Urteil des SG Augsburg vom 13. April 1970 und den Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1969 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Juni 1969 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Sie ist der Ansicht, daß der gerügte Verfahrensfehler nicht vorliegt und daher die Revision nicht statthaft ist.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der gerügte Verfahrensmangel vorliegt. Das LSG hätte, wie der Kläger zutreffend rügt, zur Frage, ob der Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger im Sinne der Anhaltspunkte im Abschnitt V des Beschlusses des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - (BSG 30, 192, 206) i.V.m. Abschnitt C V 2 b bb des Beschlusses GS 4/69 (BSG 30, 167, 190) stark eingeschränkt ist, durch Einholung einer Auskunft bei der Bundesanstalt für Arbeit (BA) in N den Sachverhalt weiter aufklären müssen.
Die Revision ist aus diesem Grunde insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird.
Das LSG hat zudem bei seiner Entscheidung die Grundsätze des Großen Senats des BSG in den oben angeführten Beschlüssen nicht in vollem Umfange berücksichtigt. Der Große Senat des BSG hat in diesen Beschlüssen entschieden, es sei bei Anwendung der §§ 1246 Abs. 2 und 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erheblich, daß - freie oder besetzte - Arbeitsplätze, die der Versicherte noch ausfüllen kann, vorhanden sind, und daß der Versicherte auf solche Tätigkeiten nur verwiesen werden kann, wenn ihm das Arbeitsfeld nicht praktisch verschlossen ist, d.h. wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen nicht ungünstiger ist als 75:100. Das LSG ist davon ausgegangen, der Kläger könne noch täglich 5 bis 6 Stunden leichte Arbeiten im Sitzen verrichten, wobei sich die Möglichkeit, öfters einmal aufzustehen und kurze Wege zu gehen, vorteilhaft auswirken würde.
Könnte der Kläger auf den gesamten allgemeinen halbschichtigen bis untervollschichtigen Teilzeitarbeitsmarkt (leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, im Stehen und im Gehen in geschlossenen Räumen und im Freien - BSG 30, 188 -) verwiesen werden, so wäre der Arbeitsmarkt für ihn - jedenfalls nach den den Beschlüssen des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 zugrundeliegenden Auskünften der BA - nach Abschnitt C V 1 des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - (BSG 30, 206) i.V.m. Abschnitt C V 2 des Beschlusses GS 4/69 (BSG 30, 180, 189) grundsätzlich offen. Davon kann jedoch im vorliegenden Falle nicht ausgegangen werden, weil der Kläger gesundheitlich nicht in der Lage ist, alle Tätigkeiten des allgemeinen Teilzeitarbeitsmarktes zu verrichten. Auf Grund der vom LSG getroffenen Feststellungen kann noch nicht entschieden werden, ob dieser eingeschränkte Teilzeitarbeitsmarkt gegenüber dem uneingeschränkten allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt "stark" eingeschränkt im Sinne der vom Großen Senat gegebenen Anhaltspunkte und damit für den Kläger praktisch verschlossen ist.
Der Senat hat bereits in einem Urteil vom 10. Dezember 1970 (BSG in SozR Nr. 93 zu § 1246 RVO) darauf hingewiesen, daß es bei einem eingeschränkten Teilzeitarbeitsmarkt nicht möglich ist, das Verhältnis der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten (Arbeitssuchende und Beschäftigte) zu ermitteln. Zwar ist die Anzahl derartiger Arbeitsplätze feststellbar, nicht aber die Zahl der Interessenten, weil an diesen Teilzeitarbeitsplätzen nicht nur diejenigen Teilzeitarbeitskräfte interessiert sind, die aus gesundheitlichen Gründen ausschließlich diese Tätigkeit ausüben können, sondern auch ein nicht bestimmbarer Teil der sonstigen Teilzeitarbeitsuchenden. Der Senat ist jedoch, wie er bereits mehrfach entschieden hat, der Ansicht, daß schon aus dem Verhältnis der Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze des eingeschränkten Teilzeitarbeitsmarktes zur Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze des betreffenden, uneingeschränkten Teilzeitarbeitsmarktes geschlossen werden kann, ob eine starke Einschränkung in diesem Sinne anzunehmen ist. Da es selbst auf dem nach den Grundsätzen der o.a. Beschlüsse des Großen Senats offenen uneingeschränkten allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt für den Arbeitsuchenden im Einzelfall schwer ist, einen offenen Arbeitsplatz zu finden, ist der Senat zu dem Ergebnis gekommen, daß eine starke Einschränkung in diesem Sinne dann anzunehmen ist, wenn die Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze des betreffenden eingeschränkten Teilzeitarbeitsmarktes niedriger als zwei Drittel der Zahl der offenen und besetzten Teilzeitarbeitsplätze des uneingeschränkten Teilzeitarbeitsmarktes ist (vgl. Urteile des erkennenden Senats in SozR Nr. 87 und 93 zu § 1246 RVO). Wenn also von den offenen und besetzten halbschichtigen Teilzeitarbeitsplätzen des uneingeschränkten Teilzeitarbeitsmarktes für Männer zwei Drittel oder mehr ohnehin Arbeitsplätze mit leichten, vorwiegend im Sitzen auszuführenden Arbeiten sind, wäre dieser eingeschränkte Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger offen. Das wird das LSG zu ermitteln haben.
Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat, kommt bei Teilzeitarbeitskräften, die noch halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten können, für die Einholung von Auskünften über die für die zu treffende Entscheidung erforderliche Zahl der Teilzeitarbeitsplätze - wenn, wie hier, das gesamte Bundesgebiet Verweisungsgebiet ist - zunächst die BA in Nürnberg in Betracht, da sie erfahrungsgemäß in aller Regel allein in der Lage ist, die für diese Entscheidungen erforderlichen Zahlen zu nennen, sofern diese Zahlen nach dem derzeitigen Wissensstand überhaupt feststellbar sind. Allerdings erübrigt sich die wiederholte Einholung einer solchen Auskunft dann, wenn die BA für einen gleichliegenden Fall bereits eine zeitlich nicht allzulange zurückliegende Auskunft erteilt hat, diese dem Gericht bekannt ist und sie dieses für den zu entscheidenden Fall verwertet (vgl. SozR Nr. 87 zu § 1246 RVO). Wenn die BA allerdings nicht in der Lage sein sollte, die für diese Entscheidung erforderliche Zahl zu nennen, ist nach den Grundsätzen des Großen Senats für den Kläger dieser - schematisch - eingeschränkte Teilzeitarbeitsmarkt auch als praktisch verschlossen anzusehen, weil er nicht als funktionsfähig gilt (vgl. Beschluß des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 -). Allerdings sind dann, wenn die Auskunft der BA negativ oder lückenhaft ausfällt und ein hinreichender Anhalt dafür besteht, daß andere zentrale Behörden, Organisationen oder sonstige Stellen diese Zahlen angeben können, Ermittlungen bei diesen Stellen nicht ausgeschlossen, falls sich das Tatsachengericht hiervon Erfolg verspricht. Sollten diese Stellen die erforderlichen Zahlen nennen können, würde allerdings der Arbeitsmarkt nicht deshalb als verschlossen zu gelten haben, weil die BA ihrerseits diese Zahlen nicht nennen konnte. Da aber in den Fällen, in denen der Versicherte nur halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten kann, ausschließlich der Wirtschaftsraum des gesamten Bundesgebietes in Betracht kommt, werden solche Ermittlungen bei anderen zentralen Stellen nach den bisherigen Erfahrungen kaum zum Ziele führen. Wenn die BA als die für die Beurteilung des Arbeitsmarktes berufene Stelle schon nicht in der Lage ist, diese Zahlen zu nennen, werden sonstige zentrale Stellen auch ihrerseits kaum dazu in der Lage sein.
Da der Senat als Revisionsgericht die Ermittlungen, die das LSG vor seiner Entscheidung zur Vermeidung wesentlicher Verfahrensmängel hätte anstellen müssen, nicht selbst nachholen kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen