Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung eines Facharbeiters
Orientierungssatz
Zur Verweisung eines Facharbeiters:
Es ist einem Facharbeiter, der im Arbeiterverhältnis als Kolonnenführer eingesetzt war, zuzumuten, eine Tätigkeit zu verrichten (hier: Werkzeugausgabe), die nach ihrer tariflichen Einstufung als Facharbeitertätigkeit gewertet wird.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 2. Februar 1976 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Umstritten ist, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der 1920 geborene Kläger ist gelernter Zimmerer und war mit Unterbrechung durch den Wehrdienst in diesem Beruf beschäftigt. Seit 1950 arbeitete er in den H.-Werken, K. Er war als Stellagenbauer, beim Ablauf und in der Schiffsaufstellung tätig. Von 1959 bis Januar 1973 war er als Kolonnenführer eingesetzt (Lohngruppe 8). Seitdem wurde er aus gesundheitlichen Gründen in der Werkzeugausgabe beschäftigt. Er ist dort für die Ausgabe und die Instandhaltung von Werkzeugen verantwortlich (Lohngruppe 6). Er kann noch vollschichtig leichte Arbeiten im Sitzen und Stehen sowie mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt zu ebener Erde verrichten.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit ab (Bescheid vom 2. Oktober 1973), da der Kläger nicht berufsunfähig sei. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. April 1973 an verpflichtet (Urteil vom 24. Oktober 1974), da der Kläger auf die Tätigkeit als Materialausgeber nicht zu verweisen sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 2. Februar 1976). Das LSG hat den Kläger in die obere Gruppe der Arbeiterberufe eingeordnet. Es sei ihm zumutbar, Tätigkeiten aus der Gruppe der ungelernten Berufe, die sich aus dem allgemeinen Kreis der ungelernten Tätigkeiten durch besondere Verantwortung, Stellung im Betrieb und ähnliche Merkmale hervorheben, zu übernehmen. Die von ihm ausgeübte Tätigkeit erfordere nach der Auskunft des Arbeitgebers umfassende Kenntnisse über alle im Lager enthaltenen Werkzeuge sowie Zuverlässigkeit und Verantwortungsbewußtsein, damit ein reibungsloser Ablauf im Betrieb gewährleistet sei. Er habe die Werkzeuge nicht nur auszugeben, sondern auch instandzuhalten. Entsprechend hoch sei die tarifliche Einstufung in die Tarifgruppe 6. Sie sei maßgebend für Facharbeiten, die Arbeitskenntnisse und Handfertigkeiten verlangen, wie sie durch eine abgeschlossene fachentsprechende Berufslehre oder durch eine abgeschlossene Anlernausbildung und zusätzliche Berufserfahrung erzielt werden. Eine derart qualifizierte und vergütete Beschäftigung zu übernehmen, sei für jeden Arbeiter sozial zumutbar, möge er auch, wie der Kläger, bis zum Beginn der gesundheitlichen Beeinträchtigung in der höchsten Tarifgruppe 8 entlohnt worden sein. Die qualitative Einordnung des beruflichen Werdegangs sei auf die drei Gruppen mit den Leitberufen der gelernten, angelernten und ungelernten Arbeiter zu beschränken. Eine zusätzliche Differenzierung innerhalb dieser Gruppe sei für die Frage der zumutbaren Verweisungstätigkeiten generell nicht erforderlich.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Kiel vom 24. Oktober 1974 zurückzuweisen.
Er beanstandet, daß das LSG seiner langjährigen Tätigkeit als Vorarbeiter und Kolonnenführer im Stellagenbau keine Bedeutung bei der Zumutbarkeitsprüfung beigemessen habe.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat ohne Gesetzesverletzung Berufsunfähigkeit verneint, weil die Tätigkeit im Werkzeuglager, die die Ausgabe und die Instandhaltung der Werkzeuge umfaßt, dem Kläger gesundheitlich und beruflich zuzumuten ist. Zu Recht hat das LSG den Kläger der oberen Gruppe der Ausbildungsberufe für Arbeiter zugeordnet. Der Einsatz als Kolonnenführer hebt diesen zwar aus den in seiner Kolonne tätigen Fachkräften heraus; er ändert aber nicht den Beruf, der beim Kläger der eines gelernten Zimmerers ist. Der Einsatz als Kolonnenführer zeigt, auf welche Art und Weise der Facharbeiter im Rahmen seines Berufs in dem Betrieb verwendet wurde. Jedoch ist "Kolonnenführer" nicht ein besonderer Beruf, der über dem des Facharbeiters stände.
In der Beschreibung der Tätigkeitsmerkmale der einzelnen Tätigkeitsgruppen in der Metallindustrie (einschließlich Werften) in Schleswig-Holstein nach dem Lohnrahmentarifvertrag vom 18. Oktober 1973 (ebenso vorher nach den Tarifverträgen von 1967) ist eine Tätigkeit als Kolonnenführer nicht aufgeführt. Die Tätigkeitsgruppe 6 (100 % des Ecklohnes), der der Kläger jetzt zugeordnet ist, erfaßt "Facharbeiten, die Arbeitskenntnisse und Handfertigkeiten verlangen, wie sie durch eine abgeschlossene fachentsprechende Berufslehre oder eine abgeschlossene Anlernausbildung und zusätzliche Berufserfahrung erzielt werden". Zur Tätigkeitsgruppe 7 (108 % des Ecklohnes) gehören "schwierige Facharbeiten, die an die Arbeitskenntnisse, Handfertigkeiten und Erfahrungen besondere Anforderungen stellen" (oder erschwerende Umstände...). Tätigkeitsgruppe 8 (117 % des Ecklohnes) ist bestimmt für "hochwertige Facharbeiten, die an die Arbeitskenntnisse, Handfertigkeiten und Erfahrungen besonders hohe Anforderungen stellen und erhöhte Selbständigkeit und erhöhte Verantwortung voraussetzen" (oder schwierige Facharbeiten unter erschwerenden Umständen, Arbeiten der Tätigkeitsgruppe 7 mit schwerer körperlicher Belastung). Darüber steht noch die Tätigkeitsgruppe 9 (133 % des Ecklohnes) für "Zeitlohnarbeiten höchstwertiger Art, die meisterliches Können, völlige Selbständigkeit, Dispositionsvermögen, hohes Verantwortungsbewußtsein und entsprechende theoretische Kenntnisse voraussetzen". Bei diesen Tätigkeitsgruppen handelt es sich nicht um jeweils unterschiedliche, mehr oder weniger hoch qualifizierte Berufe, sondern um nach Schwierigkeiten abgestufte Tätigkeiten im selben Beruf. Vergleichsweise ist auf die Anlage 1 zur Versicherungsunterlagenverordnung vom 3. März 1960 zu verweisen. Bei der Definition der Leistungsgruppen in der Arbeiterrentenversicherung sind in Leistungsgruppe 1 der Arbeiter außerhalb der Land- und Forstwirtschaft sowohl gelernte Facharbeiter als auch Meister und Vorarbeiter im Stundenlohn eingeordnet. Der Beruf eines Meisters, der im Angestelltenverhältnis beschäftigt ist, kann beim Kläger nicht die Grundlage der Verweisbarkeit bilden.
§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO schreibt außer der Berücksichtigung des bisherigen Berufs auch die Berücksichtigung der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit vor. Diese können die Qualität insbesondere eines Berufs, für den generell keine Ausbildung festgelegt ist, bestimmen. Dies gilt sowohl für die Bewertung des ausgeübten Berufs als auch für die Beurteilung der Berufe, auf die der Versicherte verwiesen werden soll. Die "besonderen Anforderungen" sind, da sie im Gesetz zusätzlich zur Berücksichtigung des bisherigen Berufs mit seinen Kenntnissen und Fähigkeiten aufgeführt sind, nicht identisch mit den beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten. Es kann offenbleiben, welche besonderen Anforderungen über die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Facharbeiters hinaus an einen Einsatz als Kolonnenführer im Einzelfall gestellt werden und inwieweit sie die Zumutbarkeit auf andere Tätigkeiten der oberen, mittleren und unteren Gruppe im Rahmen der Arbeiterausbildungsberufe beschränken. Auf jeden Fall ist es einem Facharbeiter, der im Arbeiterverhältnis als Kolonnenführer eingesetzt war, zuzumuten, eine Tätigkeit zu verrichten, die nach ihrer tariflichen Einstufung als Facharbeitertätigkeit gewertet wird. Beim Kläger trifft dies, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, für seine Tätigkeit in der Werkzeugausgabe zu. Seine Tätigkeit erfordert nach den Feststellungen des LSG die Kenntnis aller im Lager vorhandenen Werkzeuge. Sie besteht nicht nur in der Ausgabe der Werkzeuge, sondern auch in deren Instandhaltung. Diese Tätigkeit ist von besonderer Bedeutung für den Betrieb, denn der pünktliche und reibungslose Arbeitsablauf im Werk wird durch die ordnungsgemäße Tätigkeit in der Werkzeugausgabe beeinflußt. Sie verlangt deshalb Arbeitskräfte mit besonderem Verantwortungsbewußtsein. Diese Bedeutung kommt in der Zuordnung der Tätigkeit zu der für Facharbeiter bestimmten Tätigkeitsgruppe 6 zum Ausdruck. Die Tätigkeit in der Werkzeugausgabe stellt nach alledem eine Tätigkeit dar, die dem Kläger als Zimmerer zuzumuten ist. Er ist somit nicht berufsunfähig, denn er hat einen ihm zumutbaren Arbeitsplatz inne. Aus diesem Grunde ist die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen