Leitsatz (amtlich)

1. Hat der Versicherungsträger dem Berechtigten unter Hinweis auf AVG § 79 einen neuen Rentenbescheid (Zugunstenbescheid) erteilt, so ist von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig nicht nachzuprüfen, ob er sich zu Recht von der Unrichtigkeit des früheren Bescheids überzeugt hat. Nachprüfbar bleibt nur, ob Beginn und Höhe der neu berechneten Rente richtig festgesetzt wurden.

2. Bei der Neufeststellung einer Rente nach AVG § 79 tritt der neue Bescheid an die Stelle des ursprünglichen, als unrichtig erkannten Bescheids. Die neu festgestellten Leistungen sind daher regelmäßig von Anfang an (ex tunc) zu gewähren.

3. Bei der Neufeststellung einer Rente nach AVG § 79 ist die Berücksichtigung der Verjährung nach RVO § 29 Abs 3 (AVG § 205) nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

 

Normenkette

AVG § 79 Fassung: 1957-02-23, § 205 Fassung: 1937-12-21; RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1938-09-01, § 1300 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. September 1959 wird dahin geändert, daß der Klägerin die erhöhte Rente für die Zeit vom 1. Mai 1953 an zu gewähren ist;

die weitergehende Revision der Beklagten wird zurückgewiesen.

Die Beklagte und die Beigeladene haben der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens als Gesamtschuldner zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten über den Beginn einer nach § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) neu festgestellten Rente.

Der Ehemann der Klägerin bezog auf Grund des seinerzeit rechtskräftig gewordenen Bescheids der Beigeladenen (vom 18. September 1945) seit 1. August 1945 Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung. Der Bescheid enthielt den Zusatz: "Steigerungsbeträge aus der Invalidenversicherung stehen Ihnen gemäß § 1268 Abs 4 RVO nicht zu, da es sich bei den nachgewiesenen 11 Marken um solche aus der Zeit vom 1. Oktober 1921 bis 31. Dezember 1923 handelt". Es läßt sich nicht mehr feststellen, welche Angaben der Versicherte im Jahre 1945 bei der Beantragung der Rente über seine Beschäftigungs- und Versicherungsverhältnisse gemacht hat.

Am 3. April 1957 beantragte der Ehemann der Klägerin mit Rücksicht auf in den Jahren 1893 bis 1913 zur Arbeiterrentenversicherung entrichtete Beiträge die Neufeststellung seiner Rente. Hierauf erkannte die Beigeladene eine Beitragsleistung in den Jahren 1895 bis 1898 und 1901 bis 1908 an. Unter Berücksichtigung der auf diese Zeit entfallenden Beiträge stellte die Beklagte sodann durch Bescheid vom 25. März 1958 die Rente für die Zeit vom 1. April 1957 an neu fest.

Das Sozialgericht (SG) lud die Landesversicherungsanstalt Freie und Hansestadt Hamburg bei und verurteilte die Beklagte, eine höhere Rente schon vom 1. August 1945 an zu gewähren (Urteil vom 26. November 1958). Beklagte und Beigeladene legten gegen dieses Urteil Berufung ein, die nach § 150 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig war. Im Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) nahm die Klägerin, die inzwischen das durch den Tod des Ehemannes unterbrochene Verfahren aufgenommen hatte, die Klage insoweit zurück, als die Neufeststellung der Rente für die Zeit vom 1. August 1945 bis zum 31. März 1952 beantragt worden war. Daraufhin wies das LSG die eingelegten Berufungen zurück. Nach seiner Ansicht wird durch die Neufeststellung nach § 79 AVG der alte Bescheid rückwirkend ersetzt. Der Anspruch auf die erhöhte Rente sei auch nicht teilweise verjährt. Die Verjährung beginne mit Eintritt der Fälligkeit des Anspruchs auf die jeweilige Leistung; fällig werde aber eine Leistung nicht vor ihrer Bewilligung. Die Bewilligung sei erst durch den Bescheid vom 25. März 1958 erfolgt. Das LSG lies die Revision zu (Urteil vom 24. September 1959).

Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen; sie rügt die unrichtige Anwendung des § 79 AVG und die Nichtanwendung des § 29 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Klägerin war vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.

Die Revision ist zulässig, aber nur teilweise begründet. Die Beklagte durfte die Rente nicht erst vom 1. April 1957 an neu feststellen; der Anspruch der Klägerin auf Leistungen für die Zeit bis zum 1. Mai 1953 ist jedoch verjährt.

Das LSG hat - für das Revisionsgericht verbindlich - festgestellt, daß die Beteiligten von der Unrichtigkeit des Bescheids vom 18. September 1945 ausgehen (vgl auch Protokoll über die Sitzung vom 24. September 1959 - LSG-Akten Bl 38 R) und daß die Beklagte die Rente unter Anwendung des § 79 AVG neu festgestellt hat, weil sie sich bei erneuter Prüfung davon überzeugt hat, daß ehedem zu Unrecht die Leistung zu niedrig festgestellt worden ist. In einem solchen Falle (Zugunstenbescheid) ist von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig nicht nachzuprüfen, ob sich der Versicherungsträger zu Recht von der Unrichtigkeit des früheren Rentenbescheids überzeugt hat, ob also seine nunmehrige Überzeugung auf zutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Gründen beruht. Bescheide nach § 79 AVG werden wegen ihres begünstigenden Inhalts für den Versicherungsträger bereits mit dem Zugang an den Berechtigten bindend (§ 77 SGG; BSG 7, 8; 10, 72) und können insoweit auch nicht mehr von den Gerichten nachgeprüft werden. Nur wenn und soweit sich der Versicherungsträger nicht von der Unrichtigkeit des früheren Bescheids überzeugt und deshalb eine Neufeststellung abgelehnt hat, können die Gerichte prüfen, ob der Versicherungsträger bei der Bildung seiner Überzeugung offensichtlich fehlerhaft gehandelt hat (vgl Urteil des 2. Senats vom 29. März 1963, Az.: 2 RU 234/59). Hat sich jedoch - wie hier - der Versicherungsträger von der Unrichtigkeit der früheren Rentenfestsetzung überzeugt, so hat das Gericht auf Klage nur nachzuprüfen, ob Beginn und Höhe der neu berechneten Rente richtig festgesetzt wurden. Im vorliegenden Falle ist nur der Beginn der Rente im Streit. Zur Klärung der Frage, von wann ab der Versicherungsträger die nach § 79 AVG neu festgestellte Rente zu gewähren hat, ist von dem Sinn und Zweck der Gesetzesbestimmung und der zugrundeliegenden historischen Entwicklung auszugehen.

Die frühere Regelung beruhte auf den §§ 1304 RVO aF, 45 AVG aF, 1319 RVO und 308 AVG (beide idF von 1924). Nach diesen Bestimmungen konnten die Versicherungsträger, wenn sie sich nach erneuter Prüfung von der Unrichtigkeit des erlassenen Bescheids überzeugten, eine Neufeststellung treffen; sie waren hierzu nach dem Gesetz aber nicht verpflichtet. § 1304 RVO aF und die ihm vorausgegangenen Bestimmungen ergänzten die Möglichkeiten, die nach § 1744 RVO für die Neufeststellung zugunsten des Versicherten schon zur Verfügung standen. Aus der zutreffenden Erkenntnis, daß der Versicherungsträger nach seinem pflichtmäßigen Ermessen je nach den Umständen des Falles entweder in vollem Umfang neu feststellt oder gar nicht, ging die Rechtsprechung zu diesen früheren Bestimmungen stets davon aus, daß der neue Bescheid vollständig an die Stelle des früheren rechtskräftigen Bescheids tritt und daß dieser, da zwei Bescheide über denselben Anspruch nicht bestehen können, von Anfang an (ex tunc) aufgehoben wird (EuM 32, 276 mit bestätigendem Hinweis auf AN 1893, 106).

Der Wortlaut des § 79 AVG gibt keinen Anlaß, diese Rechtsprechung nicht auch für das neue Recht zu übernehmen. Es unterscheidet sich vom früheren nur dadurch, daß aus der Befugnis des Versicherungsträgers zur Neufeststellung eine Verpflichtung geworden ist. Nach der Ansicht des Senats ist aus der Neufassung insoweit nicht eine noch weitergehende inhaltliche Änderung in dem Sinne zu folgern, daß eine Neufeststellung nunmehr - gewissermaßen als Ausgleich für die den Versicherungsträgern jetzt auferlegte Verpflichtung - nur noch mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc) oder von einem anderen, im Ermessen des Versicherungsträgers stehenden Zeitpunkt an erfolgen dürfe. Wenn der Gesetzgeber eine derartige Änderung tatsächlich beabsichtigt hätte, wäre in Anbetracht der bisherigen Rechtsprechung eine eindeutige gesetzliche Regelung in diesem Sinne erforderlich gewesen. Hieran fehlt es aber. Der Sinn und einzige Zweck der Neuregelung kann daher nur darin gesehen werden, die bisherige Kannvorschrift in eine Mußvorschrift umzugestalten, was deshalb nahelag, weil die Versicherungsträger auch bisher schon regelmäßig aus Gründen der Gleichbehandlung bei als fehlerhaft erkannten Bescheiden die Leistungen neu festgestellt haben.

Sofern das Tatbestandsmerkmal des § 79 AVG erfüllt ist, dh wenn sich der Versicherungsträger auf Grund der erneuten Prüfung von der Unrichtigkeit des früheren Bescheids überzeugt hat, ist er daher zum Erlaß eines neuen Bescheids ohne zeitliche oder sachliche Einschränkung der zustehenden Leistungen verpflichtet, es sei denn, solche Einschränkung ergibt sich aus anderen Gesetzen (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl, Bd III S 730 a). Durch den neuen Bescheid muß regelmäßig das zugebilligt werden, was nach der gesetzlichen Regelung ursprünglich (ex tunc) zu gewähren war. Der neue Bescheid tritt deshalb in vollem Umfang, also auch zeitlich, an die Stelle des früheren. Ob diese Regel Ausnahmen erleidet, wenn die Ansprüche zB unter das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz vom 7. August 1963 (FAG) fallen, das Leistungen im allgemeinen nur für die Zeit vom 1. April 1952 an gewährt (§ 17 Abs 1 FAG), kann im vorliegenden Rechtsstreit unerörtert bleiben, weil die Klägerin den Klageanspruch auf die Zeit vom 1. April 1952 an beschränkt hat. Von solchen Ausnahmen abgesehen, ist aber im Rahmen des § 79 AVG kein Raum für die von der Beklagten vorgetragene Auffassung, es sei jeweils dem Ermessen des Versicherungsträgers überlassen, ob er der Neufeststellung Rückwirkung beilegen wolle oder nicht. Die Neufeststellung nach § 79 AVG ist demnach im vorliegenden Falle - wie regelmäßig - mit Wirkung ex tunc vorzunehmen (vgl Jantz-Zweng, letzter Absatz des Komm zu § 1300 RVO, ferner die Rechtsprechung des BSG zu § 40 Abs 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG - SozR § 40 VerwVG Ca 4 Nr 4).

Die Klägerin kann jedoch die erhöhten Leistungen nicht schon - wie von ihr beantragt - vom 1. April 1952 an erhalten, weil die Beklagte und die Beigeladene die Einrede der Verjährung wirksam erhoben haben. Diese Einrede ist auch in den Fällen der Neufeststellung nach § 79 AVG nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - die Neufeststellung nur die Höhe einer bereits laufenden Rente betrifft. Nach § 205 AVG iVm § 29 Abs 3 RVO verjährt der Anspruch auf Leistungen der Versicherungsträger in vier Jahren nach der Fälligkeit, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist. Entgegen der Meinung des LSG ist die Fälligkeit des Anspruchs auf die einzelnen Rentenleistungen nicht erst auf Grund des Neufeststellungsbescheids eingetreten, weil schon im Jahre 1945 sowohl der Rentenanspruch geltend gemacht als auch die Rente festgestellt worden ist. Durch den Neufeststellungsbescheid vom 25. März 1958 wurde nur nachträglich die richtige Höhe der Rente festgesetzt. Das ändert aber nichts daran, daß diese Rente in voller Höhe, dh unter Berücksichtigung aller tatsächlich entrichteten Beiträge, schon mit dem ursprünglichen Rentenantrag begehrt wurde (BSG 6, 283, 287). Die Rentenleistungen sind daher, soweit sie in der Vergangenheit zu Unrecht nicht gewährt worden sind, nach § 29 Abs 3 RVO teilweise verjährt; sie können der Klägerin in der neu festgestellten Höhe erst vom Beginn des vierjährigen Zeitraums - zurückgerechnet von dem Antrag ihres Ehemannes am 3. April 1957 - also vom 1. Mai 1953 an (§ 74 AVG iVm Art 2 § 25 Abs 2 AnVNG), gewährt werden, weil dieser Antrag die laufende Verjährung unterbrochen hat.

Nach Lage des Falles kann es auch nicht als unzulässige Rechtsausübung angesehen werden, wenn sich der Versicherungsträger auf die Verjährungsvorschriften beruft (vgl Palandt, BGB 17. Aufl, Anm 3 im Überblick vor S 194). Es ist kein Anhaltspunkt dafür gegeben, daß den Versicherungsträger an der unrichtigen Feststellung der Rente im Jahre 1945 ein Verschulden trifft, zumal der Ehemann der Klägerin lange Jahre hindurch die niedrigere Rente bezogen hat, ohne auf weitere Beiträge hinzuweisen, und für deren Glaubhaftmachung erst im Jahre 1957 die Unterlagen beigebracht hat. Wenn die Beklagte unter diesen Umständen Verjährung geltend macht, kann ihr ein Verstoß gegen Treu und Glauben nicht entgegengehalten werden.

Die Beklagte hatte somit mit ihrer Revision teilweise Erfolg; insoweit war das angefochtene Urteil zu ändern, im übrigen aber die Revision zurückzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 93

NJW 1963, 1470

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