Leitsatz (amtlich)
Wenn das Berufungsgericht bei der Auslegung des BVG § 30 Abs 4 als Merkmal der maßgebenden Angestellten-Leistungsgruppe die relative Verteilung der Angestellten verwertet hat, muß das Revisionsgericht auf eine entsprechende Verfahrensrüge prüfen, ob die hiermit festgestellte Tatsache mit der allgemeinen Erfahrung übereinstimmt.
Normenkette
BVG § 30 Abs 3 u 4 DV § 3 Abs. 1; SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. März 1974 wird aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1926 geborene Kläger bezieht seit 1950 Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen eines durch den Wehrdienst verursachten Wirbelsäulenleidens; die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde ursprünglich mit 100 v. H., dann mit 30 v. H., schließlich mit 80 v. H. und wegen besonderen beruflichen Betroffenseins ab Januar 1957 mit 90 v. H. bewertet. Im April 1965 beantragte der Kläger einen Berufsschadensausgleich; er hatte nach dem Besuch der Volksschule bei seinem Vater in Schlesien den Beruf eines Huf- und Wagenschmiedes gelernt, war nach dem Krieg bis Ende 1948 als Schmied und Schlosser tätig und nach längerer Arbeitsunfähigkeit von 1953 bis 1960 als Registrator in einer Landmaschinenfabrik sowie in einer Großhandelsfirma; seit 1961 ist er Sachbearbeiter (Kontenführer) im Angestelltenverhältnis in der Stadtverwaltung P, anfangs mit einer Vergütung nach TOA./BAT VIII, ab Anfang 1963 nach BAT VII, ab Anfang 1968 nach BAT VI b und seit Anfang 1972 nach V c. Der Antrag wurde abgelehnt (Bescheid vom 2. September 1966); der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 28. Februar 1967). Bei der Berechnung ging das Versorgungsamt von einer ohne die Schädigungsfolgen erreichten Beschäftigung als unselbständiger Schmiedemeister oder Vorarbeiter in der Industrie (Arbeiter-Leistungsgruppe 1) aus. Im Gerichtsverfahren begehrte der Kläger einen Berufsschadensausgleich entsprechend dem Durchschnittseinkommen der technischen Angestellten der Leistungsgruppe II in der Eisen- und Stahlindustrie, hilfsweise eines selbständigen Schmiedemeisters nach Besoldungsgruppe A 9 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG). Nach Beweiserhebung blieben Klage und Berufung erfolglos (Urteil des Sozialgerichts - SG - Köln vom 27. Januar 1971; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. März 1974). Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger ohne die Schädigungsfolgen Angestellter in der Eisen- und Stahlindustrie wäre, hat es aber nicht als wahrscheinlich angesehen, daß er die Leistungsgruppe II erreicht hätte. Eine solche Einordnung sei eine große Ausnahme und sei nur wahrscheinlich, wenn der Beschädigte als Gesunder in einem größeren Unternehmen unternehmerische Funktionen mit erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung selbständig und selbstverantwortlich ausübte. Eine solche Stellung nehme nur eine ganz geringe Anzahl von Angestellten ein, schätzungsweise kaum 3 v. H. aller Angestellten eines Unternehmens. Für die Zuordnung zu diesem sehr engen Personenkreis müßte der Kläger eine erhebliche, überdurchschnittliche intellektuelle Befähigung und Führungsqualitäten besitzen. Solche Managereigenschaften fehlten ihm aber; sie würden durch die Wehrdienstbeschädigungsfolgen nicht berührt. Der Auswertung seines Berufsweges durch das SG sei zuzustimmen. Wenn der Kläger nicht der Leistungsgruppe II zugeordnet werden könne, so sei dies in seiner Person begründet. Gegen eine wahrscheinliche Betätigung als selbständiger Schmiedemeister sprächen überwiegend die Auskünfte des Bundesverbandes Metall, des Kreishandwerksmeisters Muhr und der Kreishandwerkerschaft des Rheinisch-Bergischen Kreises, wonach die Schmiedehandwerksbetriebe nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich zurückgegangen seien, ferner die Auskunft des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte über den geringen Anteil der Selbständigen unter den vertriebenen Schmieden und die Auskunft der Industrie- und Handelskammer zu Köln.
Der Kläger rügt mit der nicht zugelassenen Revision als wesentliche Verfahrensmängel: Das LSG habe seine Sachaufklärungspflicht dadurch verletzt, daß es eine Antwort des Fachverbandes Metall Nordrhein zu den Beweisfragen d bis g des Schreibens des Berichterstatters vom 7. November 1972, die nach der eingeholten Auskunft des Bundesverbandes Metall dieser Fachverband hätte erteilen sollen, nicht abgewartet habe, oder es habe entgegen § 128 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dem Kläger keine Gelegenheit gegeben, sich zu diesem Beweisergebnis zu äußern. Der Kläger hätte nach Bekanntgabe der noch ausstehenden Auskunft ergänzend zu seinem Vorbringen im Schriftsatz vom 15. Dezember 1972, daß er nach Stellungnahmen von einschlägigen Unternehmen im Kölner Raum wahrscheinlich die Leistungsgruppe II erreicht hätte, Auskünfte der Firma K-H-D AG vom 6. Juli 1972 und der Firma P-... ... Vereinigte Maschinenfabriken AG vom 7. September 1972 eingereicht, die sich auf die Wirtschaftsbereiche Stahl- und Leichtmetallbau sowie Maschinenbau bezögen. Die Anfrage des Berichterstatters treffe im übrigen bezüglich des Berufsbildes nicht zu; der Kläger habe im elterlichen Betrieb die Huf- und Wagenschmiede, Lieferung und Reparatur landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte, Fahrräder und Wasseranlagen sowie Klempnerarbeiten kennengelernt, und nach der Auskunft der Kölner Industrie- und Handelskammer seien solche Handwerker in großer Zahl im Maschinenbau, in der Elektroindustrie und in der chemischen Industrie als Meister tätig. Das LSG habe seiner Entscheidung eine falsche Definition der Leistungsgruppe II der technischen Angestellten zugrunde gelegt. Die Angestellten "mit unternehmerischen Funktionen", zu denen es den Kläger nicht rechne, gehörten nach der Rechtsprechung in Wirklichkeit zu den leitenden Angestellten der Leistungsgruppe I a oder I b, deren Durchschnittseinkommen nach der Besoldungsgruppe A 14 BBesG zu bemessen sei. Die Feststellung, "solche Stellungen" (der vermeintlichen Leistungsgruppe II) erreichten in größeren Unternehmen kaum 3 v. H. der Angestellten, werde durch die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes widerlegt; in der Leistungsgruppe II seien demnach für 1967 zwischen 33,3 und 40,5 v. H. in den drei in Betracht kommenden Wirtschaftsbereichen tätig gewesen. Wegen des Abweichens von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hätte die Revision zugelassen werden müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 12. März 1974 aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt Verwerfung der Revision. Nach seiner Ansicht greifen die Verfahrensrügen nicht durch.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist statthaft, weil wenigstens eine der Verfahrensrügen durchgreift (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung - Art. III und VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974 - BGBl I 1625 -; BSG 1, 150). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Das Berufungsgericht hat es als nicht wahrscheinlich erachtet, daß der Kläger ohne die Schädigungsfolgen technischer Angestellter der Leistungsgruppe II geworden wäre, und hat einen Anspruch auf Berufsschadensausgleich nach einem Vergleichseinkommen, das dem Durchschnittseinkommen dieser Angestelltengruppe entspricht, abgelehnt (§ 30 Abs. 3 und 4 BVG, auch in der Fassung des 3. Anpassungsgesetzes vom 16. Dezember 1971 - BGBl I 1985 -, §§ 2 und 3 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs. 3 und 4 BVG - DVO - in den hier maßgebenden Fassungen vom 30. Juli 1964 - BGBl I 574 - DVO 1964, vom 28. Februar 1968 - BGBl I 194 - DVO 1968 - und vom 11. April 1974 - BGBl I 927 - DVO 1974 -). Dem Urteil ist nicht zu entnehmen, auf welche Erkenntnisquellen das LSG die einzelnen Merkmale, die nach seiner Auffassung die berufliche Stellung der Angestellten in der Leistungsgruppe II kennzeichnen, stützt. Die maßgebende Beschreibung, die den statistischen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes aufgrund des Gesetzes über die Lohnstatistik vom 18. Mai 1956 (BGBl I 429) zugrunde liegt (mitgeteilt im Rundschreiben des BMA vom 25. Oktober 1960, Bundesversorgungsblatt - BVBl - 1960, 151, 152), wird im angefochtenen Urteil nicht erwähnt; auf deren Wiedergabe im Urteil des SG wird auch nicht Bezug genommen. Diese amtliche Bezeichnung der Anforderungen an die Angestellten - Leistungsgruppe II, die den Begriff der "Berufsgruppe" in § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG und in § 3 DVO ergänzt, ist als Bestandteil des hier anzuwendenden kombinierten Rechtssatzes zu werten. Falls das LSG die Tatbestandsmerkmale dieser Leistungsgruppe rechtliche falsch ausgelegt, insbesondere mit denen der Leistungsgruppe I (§ 3 Abs. 3 DVO 1964, § 3 Abs. 4 DVO 1968 und 1974) verwechselt hat, so kann dies die Revision nicht mit einer Verfahrensrüge beanstanden. Rechtsauslegung und -anwendung durch das Berufungsgericht dürfte das Revisionsgericht nur auf eine statthafte Revision überprüfen.
Von dieser Kontrolle der sachlich-rechtlichen Entscheidung ist aber zu trennen die Verfahrensrüge, das LSG habe die Entscheidung über die Anforderungen an die Leistungsgruppe II der Erfahrung zuwider auf die Feststellung gestützt, daß kaum 3 v. H. aller Angestellten eines Unternehmens eine solche Stellung einnähmen. Dieses extrem geringe Vorkommen von Angestellten der Leistungsgruppe II, eine allgemeine Tatsache, die das Berufungsgericht auf Erfahrungen zu stützen scheint, kennzeichnet nach seiner sachlich-rechtliche Auffassung, die für die Entscheidung über die Verfahrensrüge maßgebend ist (BSG 2, 84, 87; SozR Nr. 40 zu § 103 SGG), die tatsächliche Verbreitung der den umstrittenen Anspruch bestimmenden Berufsgruppe. Nach der Ansicht des LSG handelt es sich um eins von mehreren selbständigen Tatbestandsmerkmalen der Leistungsgruppe II. Einen Erfahrungssatz, wie ihn damit das LSG seiner rechtlichen Bewertung zugrunde legt, hat das Revisionsgericht zu überprüfen (BSG SozR Nr. 114 zu § 1246 RVO; BSG 37, 282 f = SozR 3200 § 81 Nr. 1). Die dagegen gerichtete Verfahrensrüge ist auch erfolgreich. Die tatsächliche Annahme des Berufungsgerichts über den geringen Anteil der Angestellten der Leistungsgruppe II an allen Angestellten eines Unternehmens widerspricht in höchstem Grade der allgemeinen Erfahrung, auf die die Revision zutreffend hingewiesen hat. Nach den Veröffentlichungen über die relative Verteilung der verschiedenen Arbeitnehmer, deren Durchschnittseinkommen das Statistische Bundesamt regelmäßig ermittelt, ist der Anteil der männlichen technischen Angestellten in der Leistungsgruppe II mehr als zehnmal so groß, wie das LSG festgestellt hat; zeitweilig erreichte er mehr als die Hälfte aller technischen Angestellten; die Vomhundertzahlen waren wie folgt:
im Wirtschaftsbereich des Stahl- und Leichtmetallbaus der Investitionsgüterindustrie:
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1964 |
1966 |
1968 |
1970 |
1971 |
1972 |
1973 |
34,9 % |
39,4 % |
45,2 % |
51,4 % |
53,0 % |
53,7 % |
45,0 %, |
in der Eisen- und Stahlindustrie als Teil der Grundstoff- und Produktionsgüterindustrie:
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1964 |
1966 |
1968 |
1970 |
1971 |
1972 |
1973 |
38,2 % |
40,5 % |
45,2 % |
49,5 % |
51,8 % |
55,0 % |
48,8 %, |
im Maschinenbau als Teil der Investitionsgüterindustrie:
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1964 |
1966 |
1968 |
1970 |
1971 |
1972 |
1973 |
30,7 % |
33,3 % |
30,4 % |
34,6 % |
36,6 % |
37,1 % |
38,8 % |
(BVBl 1964, 158; 1966, 128; 1969, 18; 1970, 122; 1971, 122; 1972, 110, 1973, 98).
Das angefochtene Urteil beruht auch auf dem gerügten Verfahrensmangel. Möglicherweise hätte das LSG bei Beachtung der dargelegten Erfahrung zugunsten des Klägers entschieden.
Allein wegen dieses Verfahrensfehlers ist das Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen; mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat nicht abschließend über den Klageanspruch entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Auf die übrigen Verfahrensrügen braucht nicht eingegangen zu werden.
Das LSG hat bei der neuen Sachentscheidung die zuvor zitierte Beschreibung der Leistungsgruppe II der Angestellten zu beachten, von den Anforderungen an die Leistungsgruppe I einerseits und III andererseits abzugrenzen und die dazu bereits ergangene Rechtsprechung zu berücksichtigen (zur Gruppe I: BSG 24, 113 = SozR Nr. 2 zu § 22 FRG; BSG SozR Nr. 5 zu § 3 DVO 1964 = BVBl 1970, 13; BSG, BVBl 1970, 94; BSG vom 26. Januar 1972 - 10 RV 597/70 - und vom 29. Januar 1974 - 9 RV 400/72 -. Zur Gruppe II: BSG 27, 12 = SozR Nr. 2 zu § 3 DVO 1964; BSG SozR Nr. 6 zu § 3 DVO 1964; SozR Nr. 7 zu § 22 FRG). Die relative Verteilung der Angestellten auf die verschiedenen Leistungsgruppen kann grundsätzlich bei deutlichen Unterschieden einen Anhalt für die richtige Einordnung eines Beschädigten bieten, wenn sie ergänzend zu den übrigen Merkmalen berücksichtigt wird. Indes ist diese Erfahrung, deren Ermittlung im übrigen nicht frei von Fehlern sein muß, von geringem Wert für die Abwägung nach dem Maßstab der Wahrscheinlichkeit, wenn es - wie hier - um die Abgrenzung von der Leistungsgruppe III geht, für die in den drei in Betracht kommenden Wirtschaftsbereichen zeitweilig geringfügig höhere, zeitweilig aber auch niedrigere Vomhundertzahlen als für die Leistungsgruppe II festgestellt worden sind (vgl. BVBl aaO). Möglicherweise haben sich die Zahlen der funktionsmäßig bestimmten Stellen in den beiden Leistungsgruppen seit 1964 gar nicht tatsächlich verändert; die ermittelten Veränderungen könnten allein auf einer "verzerrten" Einkommensentwicklung beruhen. Dies könnte noch ergänzend zu der vom Senat eingeholten Auskunft des Statistischen Bundesamtes vom 11. März 1975 aufzuklären sein.
Dem LSG ist auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen