Entscheidungsstichwort (Thema)
Studentischer Arbeitsdienst als Ersatzzeit
Orientierungssatz
Ein studentischer Arbeitsdienst zwischen 1933 und 1945 als Voraussetzung für die Aufnahme oder Fortsetzung eines akademischen Studiums ist kein militärähnlicher Dienst iS von BVG § 3 und somit nicht Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1. Der nur mittelbar und auf Studenten beschränkte Zwang steht keiner allgemeinen gesetzlichen Dienstpflicht gleich (Festhaltung an BSG 1979-03-14 1 RA 41/78 = SozR 2200 § 1251 Nr 61).
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 3 Abs 1 Buchst i
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.10.1979; Aktenzeichen L 4 An 117/79) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 11.05.1979; Aktenzeichen S 3 An 20/78) |
Tatbestand
Streitig ist die Anrechnung eines Arbeitsdienstes im Jahre 1934 als Ersatzzeit.
Der 1913 geborene Kläger, von Beruf Arzt, begann im Sommersemester 1932 sein Medizinstudium. In der Zeit vom 27. August bis 16. September 1933 nahm er in Kiel an einem Lehrgang der Universitäts-Geländesportschule teil. Vom 20. März bis 5. Mai 1934 leistete er im Arbeitslager Bad Bramstedt einen Studenten-Arbeitsdienst, was ihm im Pflichtenheft der Deutschen Studentenschaft bescheinigt wurde. Mit Bescheid vom 3. November 1977 lehnte es die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ab, diese Zeit als Ersatzzeit anzuerkennen. Sie wies auch den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 1978).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage des Klägers, dem die Beklagte ab 1. Juni 1978 inzwischen Altersruhegeld gewährt hatte (Bescheid vom 11. Mai 1978), abgewiesen (Urteil vom 11. Mai 1979). Die hiergegen eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 5. Oktober 1979 zurückgewiesen und ausgeführt: Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dürfe die vom Kläger angeführte Zeit nicht als Ersatzzeit angerechnet werden. Bei dem Arbeitsdienst eines vor 1915 geborenen Versicherten handele es sich, soweit der Dienst vor dem Inkrafttreten des Reichsarbeitsdienstgesetzes (RADG) vom 26. Juni 1935 abgeleistet worden sei, nicht um eine Ersatzzeit. Diese Rechtsprechung des BSG selbst zu Fällen, in denen die Teilnahme am Arbeitsdienst Voraussetzung für die Zulassung zum Studium gewesen sei, gelte auch für die vorliegende Fallgestaltung, wonach die Fortsetzung des Studiums nur nach Ableistung des Arbeitsdienstes möglich gewesen sei. Für diesen studentischen Arbeitsdienst habe es keine gesetzliche Grundlage gegeben, welche die Teilnahme zur Pflicht gemacht hätte. Es müsse angenommen werden, daß der Gesetzgeber bewußt die nicht unmittelbar auf Gesetz beruhenden Dienstleistungen von der Ersatzzeitenregelung habe ausschließen wollen.
Gegen dieses Urteil hat der erkennende Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 27. Februar 1980).
Mit der Revision trägt der Kläger vor, es gehe ihm in der Sache um die Anerkennung des studentischen Arbeitsdienstes vom 22. März bis 5. Mai 1934. Diese Zeit müsse als Ersatzzeit angerechnet werden, weil er unmittelbar zur Ableistung des Arbeitsdienstes gezwungen worden sei. Im Falle der Weigerung wäre er zwangsweise exmatrikuliert worden und hätte sein Studium aufgeben müssen. Für Studenten in der Ausbildung habe es eine entsprechende gesetzliche Grundlage gegeben, die der Innen- und der Reichserziehungsminister im Jahre 1934 verfügt hätten. Er habe diese Vorschriften selbst im Aushang der Universität lesen können. Wenn das angefochtene Urteil die Ansicht vertrete, der Gesetzgeber habe bei Schaffung des § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) die Situation der bereits im Studium befindlichen Personen gekannt, so sei das eine durch nichts zu belegende Hypothese. Eher liege ein Umkehrschluß auf der Hand, daß der Gesetzgeber gerade den Personenkreis, den er - Kläger - vertrete, von der gesetzlichen Regelung habe ausnehmen wollen. Wenn das Gesetz schweige, könne daraus nur ein für ihn günstiger Schluß gezogen werden.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem
Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, der vom Kläger geltend gedachte Arbeitsdienst könne nicht als Ersatzzeit berücksichtigt werden. Er sei nicht nach Einführung der Arbeitsdienstpflicht zum 1. Oktober 1935 absolviert worden. Der Kläger falle auch nicht unter die Verwaltungsvorschriften (VV) des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) zu § 6 Buchst c des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wonach der ab 30. Juni 1934 verrichtete freiwillige Arbeitsdienst der männlichen Jugend als militärähnlicher Dienst anzusehen sei. Die Revision habe im übrigen nicht darlegen können, aus welchen Gründen eine unterschiedliche Behandlung des studentischen Arbeitsdienstes je nachdem, ob seine Erfüllung Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums oder für dessen Fortsetzung gewesen ist, gerechtfertigt sein solle.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.
Der Antrag des Klägers, das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem Klageantrag zu erkennen, bedarf der Auslegung (vgl § 123 SGG). Der Kläger hat bereits im Schriftsatz vom 29. Oktober 1979, mit dem er die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil begründet hat, hervorgehoben, es gehe ihm um die Anrechnung des studentischen Arbeitsdienstes vom 20. März bis 5. Mai 1934; zur Frage der in den Vorinstanzen außerdem streitig gewesenen Anerkennung eines Lehrgangs an der Universitäts-Geländesportschule Kiel vom 27. August bis 16. September 1933 hat er nichts ausgeführt. Das gleiche gilt für die Revisionsbegründung; im Schriftsatz vom 11. März 1980 hat der Kläger wiederholt, daß es ihm nur um die Zeit des studentischen Arbeitsdienstes gehe; wiederum ist der Lehrgang an der Geländesportschule nicht erwähnt. Hiernach ist nur noch der studentische Arbeitsdienst in Streit.
Nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO) werden als Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit, nach § 35 Abs 1 AVG (= § 1258 Abs 1 RVO) zugleich auch auf die Rentenhöhe ua Zeiten des militärähnlichen Dienstes im Sinne des § 3 BVG angerechnet, der auf Grund gesetzlicher Dienstpflicht geleistet worden ist. Das ist hinsichtlich der streitigen Zeit nicht der Fall.
Militärähnlicher Dienst "auf Grund gesetzlicher Dienstpflicht" könnte ein studentischer Arbeitsdienst nach der Rechtsprechung des BSG nur auf Grund des RADG vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) sein. Ein vor dem durch Art 7 Abs 1 Satz 1 der Zweiten Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des RADG vom 1. Oktober 1935 (RGBl I 1215) festgelegten Stichtag - 1. Oktober 1935 - verrichteter Arbeitsdienst von Personen, die - wie der Kläger - vor dem Jahre 1915 geboren sind, beruht selbst dann nicht auf einer gesetzlichen Verpflichtung, wenn er nach den "Ausführungsbestimmungen über die Durchführung der Arbeitsdienstpflicht der Abiturienten und Abiturientinnen von Ostern 1934" der Deutschen Studentenschaft vom 23. Februar 1934 sowie dem Runderlaß des Reichsministers des Innern vom selben Tage - III 3447/30.12 - (BSGE 44, 239, 240 = SozR 2200 § 1251 Nr 36; SozR 2200 § 1251 Nr 40) zur Aufnahme eines Studiums erforderlich gewesen ist (BSGE 44, 239; BSG SozR 2200 § 1251 Nr 39, 40 und 61 mit weiteren Nachweisen). Allein der Fall, daß ein 1915 oder später Geborener vor dem 1. Oktober 1935 freiwillig Arbeitsdienst geleistet hat, könnte eine entsprechende Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG in Betracht kommen lassen (BSGE 37, 152 = SozR 2200 § 1251 Nr 3; Nr 19 aaO). Gerechtfertigt ist dies dann, wenn eine Arbeitsdienstpflicht nach dem RADG bestanden hat, eine - nochmalige - Einberufung jedoch wegen des bereits freiwillig abgeleisteten Dienstes unterblieben ist. Diese Rechtsprechung, die zwischen dem freiwilligen und dem gesetzlichen Reichsarbeitsdienst (RAD) differenziert, ist verfassungsgemäß (BVerfG in SozR 2200 § 1251 Nr 60).
Im übrigen hat sich der erkennende Senat mit dem vom Kläger besonders nachdrücklich hervorgehobenen Argument, ein Arbeitsdienst müsse für Studenten dann als auf Grund gesetzlicher Dienstpflicht geleistet angesehen werden, wenn er nach 1933 Voraussetzung für ein - weiteres - Studium gewesen sei, schon mehrfach beschäftigt. Er hat dieses Argument, im wesentlichen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 11. Senats (BSGE 43, 192 = SozR 2200 § 1251 Nr 32), mit der Begründung abgelehnt, daß ein nur mittelbarer und auf Studenten beschränkter Zwang keiner allgemeinen gesetzlichen Dienstpflicht gleichstehen könne (SozR 2200 § 1251 Nr 39, 40 und 61). Der Senat hält nach Überprüfung an dieser Auffassung fest:
§ 28 Abs 1 Nr 1 AVG billigt dem Versicherten einen rentenrechtlichen Ausgleich ("Ersatz") dafür zu, daß er von hoher Hand durch staatlichen Zugriff zu einer gesetzlich festgelegten Dienstleistung herangezogen worden ist, also aus nicht von ihm selbst, sondern von der Volksgesamtheit zu vertretenden Gründen gehindert war, eine - mutmaßlich - versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit auszuüben und so rentenstützend Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückzulegen (vgl dazu mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des BSG der erkennende Senat in der Entscheidung vom 24. April 1980 - 1 RA 35/79). Nach diesem Grundgedanken des Gesetzes - Entschädigung für einen von der Volksgesamtheit zu vertretenden Beitragsausfall - kann der Rentenversicherungsträger nicht ermächtigt sein, zu Lasten der Solidargemeinschaft aller Rentenversicherten Ersatzzeiten für Dienstleistungen zu bewilligen, die dem Versicherten - gemessen an den tatsächlichen und an den rechtlichen Gegebenheiten zur Zeit der Ableistung - erhebliche Vorteile einbrachten, die nicht ganz allgemein und für jedermann mit diesem Dienst verbunden waren. Es läßt sich ausschließen, daß der Gesetzgeber in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG in Kauf hätte nehmen wollen, daß der durch einen solchen Vorteil begünstigte Versicherte zusätzlich noch durch Gewährung einer Ersatzzeit "entschädigt" werde.
Mit der Ableistung des hier streitigen studentischen Arbeitsdienstes im Jahr 1934 war für den Kläger der - weit in die Zukunft reichende - Vorteil verbunden, ein akademisches Studium weiterführen zu dürfen und damit einen akademischen Beruf zu erreichen. Die Ableistung des Arbeitsdienstes war für den Kläger daher ungleich leichter hinnehmbar als für einen Arbeiter oder Angestellten, der auf Grund der Dienstpflicht nach dem RADG einen gleichartigen Dienst zu leisten und daher einen Beitragsausfall in der gesetzlichen Rentenversicherung erlitten hatte.
Es ist daher nicht angängig, § 28 Abs 1 Nr 1 AVG über seinen Wortlaut und über den damit zu verbindenden Sinngehalt hinaus auf Fälle zu erstrecken, in denen die Ableistung eines nichtgesetzlichen Arbeitsdienstes Bedingung allein für die Aufnahme oder Weiterführung eines akademischen Studiums war.
Das angefochtene Urteil trifft nach allem zu, so daß die Revision des Klägers hiergegen als unbegründet zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen