Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 28.11.1989) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. November 1989 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit. Umstritten ist hierbei, ob er in seiner letzten Tätigkeit im Postdienst wegen deren tariflichen Eingruppierung Berufsschutz als Facharbeiter genießt.
Der im Jahre 1928 geborene Kläger hat den Beruf eines Malers erlernt und bis 1960 ausgeübt. Im Anschluß daran war er bei der Deutschen Bundespost überwiegend als Kraftfahrer und teilweise auch im Verladedienst tätig. Im November 1963 bestand er die Prüfung für den einfachen Postdienst, ab 1. August 1965 wurde er in das Beamtenverhältnis übernommen. Zum 1. Februar 1987 wurde er wegen Dienstunfähigkeit in Ruhestand versetzt.
Den im August 1986 gestellten Antrag auf Versichertenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 13. November 1986 ab. Die hiergegen eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Kassel ≪SG≫ vom 1. Juli 1988, Urteil des Hessischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 28. November 1989). Das LSG ging davon aus, daß der Kläger in seinem bisherigen Beruf kein Facharbeiter, sondern angelernter Arbeiter im oberen Bereich gewesen sei. Der Kläger sei kein Berufskraftfahrer, weil er nicht im Besitze der Fahrerlaubnis der Klasse 2 sei. Ebensowenig könne er mit einer Dienstleistungsfachkraft mit einer Ausbildungsdauer von drei Jahren verglichen werden, weil die Anforderungen an die Ausbildung sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht weit über die Lehrgänge hinausgingen, die der Kläger absolviert habe. Als sogenannter „Beamtendiensttuer” sei er dem Leitberuf des angelernten Arbeiters im oberen Bereich zuzuordnen. Von da aus könne er auf die Tätigkeit eines Pförtners verwiesen werden. Nach der eingeholten Auskunft des Landesarbeitsamtes hebe sich diese Tätigkeit durch besondere Merkmale aus dem Kreis der sonstigen einfachen Arbeiten heraus und könne nach einer Einarbeitungszeit von drei Monaten verrichtet werden. Der Arbeitsmarkt sei auch nicht verschlossen.
Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich der Kläger mit der (zugelassenen) Revision. Er rügt die Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt hierzu vor, das LSG stelle zu sehr auf die Dauer der Ausbildung ab und beachte dabei nicht die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Zuordnung von Postfacharbeitern, die Beamtentätigkeiten verrichten und deswegen in die Lohngruppe IV des maßgeblichen Tarifvertrages eingruppiert seien. Der Kläger habe die Qualifikation für den einfachen Postdienst besessen, für die früher eine Lernzeit als Postjungbote von zweieinhalb Jahren, nunmehr eine Berufsausbildung zur Dienstleistungsfachkraft erforderlich sei.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 1. Juli 1988 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. November 1986 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den ihm ab 1. September 1986 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit bewilligt wird;
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt im übrigen vor, Berufsunfähigkeit sei nicht eingetreten, da der Kläger weiterhin aufgrund seiner postalischen Kenntnisse und Fähigkeiten im Innendienst der Deutschen Bundespost eingesetzt werden könne.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.
Gemäß § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.
Dafür ist aber nicht der Grad der Minderung körperlicher oder geistiger Kräfte maßgebend, sondern der Umfang der verbliebenen Fähigkeit, mit dem Restleistungsvermögen Verdienste zu erzielen.
Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt dabei alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat zur Berufsunfähigkeit iS von § 1246 Abs 2 RVO die Berufe der Versicherten nach ihrer Wertigkeit in verschiedene Gruppen eingeteilt. Die jeweilige Einstufung in dieses Raster bestimmt die Berufstätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen werden kann. Die von der Rechtsprechung hierfür zugrunde gelegten Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die die Ausbildung für die Qualität eines Berufs hat, gebildet worden. Sie sind charakterisiert durch den Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonsti ger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters. Bei der Anwendung dieses Schemas auf konkrete Berufstätigkeiten stand bisher in der Regel die Frage im Vordergrund, welche Dauer eine rechtlich vorgeschriebene Fachausbildung haben muß, um auf ihrer Grundlage einem Versicherten den Status des Facharbeiters zuerkennen zu können. Dabei wurde als gedankliche Voraussetzung von der Annahme ausgegangen, daß die Dauer einer Ausbildung gleichbedeutend mit dem Maß an beruflicher Qualifikation ist, das die Ausbildung dem Versicherten vermittelt.
Von allen Senaten des BSG, die für die Arbeiterrentenversicherung zuständig und an der Entwicklung des Vierstufenschemas beteiligt waren, ist aber immer wieder deutlich gemacht worden, daß ausschlaggebend für die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer der Gruppen des Schemas die gesamten Qualifikationsanforderungen der verrichteten Arbeit sind. Grundlage für die Bestimmung der Qualität einer Arbeit in diesem Sinn sind die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Es kommt also auf das Gesamtbild an (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 22/90 –).
In diesem Rahmen hat das BSG dem Tarifvertrag unter zwei Gesichtspunkten Bedeutung beigemessen: zum einen der abstrakten – „tarifvertraglichen” -Klassifizierung der Tätigkeit (iS eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrags (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 116, 122, 123, 164; SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13 bis 15), zum anderen der – „tariflichen” – Eingruppierung des Versicherten in eine Berufssparte und hierüber in eine bestimmte Tarifgruppe des jeweils geltenden Tarifvertrages durch den Arbeitgeber (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 168, 169; SozR 3-2200 § 1246 Nr 12).
Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Tarifvertrag aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen in einer Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 116, 122, 123, 164; SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13 bis 15 und 18). Denn die Tarifpartner als die unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligten nehmen relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufs in bezug auf die nach § 1246 Abs 2 RVO maßgeblichen Merkmale entspricht. Demgemäß läßt die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, die hinsichtlich der Qualität der in ihr aufgeführten Arbeiten durch den Leitberuf des Facharbeiters geprägt ist, in der Regel den Schluß zu, daß diese Berufstätigkeit als Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren ist.
Diese Grundsätze hat das BSG in mehreren Entscheidungen bestätigt, bei denen es um die Berufsunfähigkeit von Arbeitnehmern ging, die bei der Deutschen Bundespost auf Beamtendienstposten tätig waren und deren Tätigkeit deshalb in eine Facharbeitergruppe eingestuft war. Diese Einstufung, dh die Einordnung dieser Beamtentätigkeiten (soweit sie von Arbeitnehmern ausgeübt werden) in eine Facharbeitergruppe vermittle den Arbeitnehmern, die diese Tätigkeit ausüben, Berufsschutz als Facharbeiter, da die Einstufung weder wegen äußerer Belastungen, noch aus sozialen Erwägungen erfolge, sondern durch die Art und Qualität der Tätigkeit bestimmt sei, welche die Wahrnehmung dieses Beamtendienstpostens mit sich bringe. Diese Merkmale hätten von den Tarifpartnern eine Bewertung erfahren, die derjenigen von Handwerkern entspreche, die bei der Bundespost beschäftigt werden (vgl Urteile vom 24. Juni 1983 – 5b RJ 74/82 – ≪Briefzusteller≫; vom 28. März 1984 – 5b RJ 16/83 -≪Posthalterin≫; vom 3. Oktober 1984 – 5b RJ 20/84 – und – 5b RJ 28/84 -SozR 2200 § 1246 Nrn 122, 123 ≪Postzusteller/in≫; Beschluß vom 14. März 1985 – 5b S 1/85 – ≪Postzusteller≫; Urteil vom 27. Februar 1990 – 5 RJ 12/88 – SGb 1991, 110 ≪Briefzustellerin≫; Urteil vom 11. September 1991 – 5 RJ 33/90 – und Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 22/90 -≪Postzusteller≫). Der vorliegende Fall bietet keine Veranlassung, hiervon abzuweichen. Arbeitnehmer, die einen anerkannten sonstigen Ausbildungsberuf ausüben, wie zB Arbeitnehmer im Postdienst, die die Prüfung für den einfachen Postdienst nach der Ausbildungsregelung von 1954 bestanden haben – Ausbildungsdauer unter zwei Jahren (und selbst Arbeitnehmer, die eine geregelte Ausbildung nicht durchlaufen haben) – können danach als Facharbeiter Berufsschutz genießen. Voraussetzung hierfür ist, daß der von ihnen ausgeübte Beruf als solcher wegen seiner qualitativen Wertigkeit in einer Facharbeitergruppe des Tarifvertrages genannt und der einzelne Arbeitnehmer (zu Recht) nach dieser Gruppe entlohnt wird (so Urteil des Senats vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 22/90 –).
Zur Tätigkeit des Klägers vor der Übernahme in den einfachen Postdienst hat das LSG festgestellt, daß er Beamtentätigkeiten verrichtet hat „Beamtendiensttuer”), überwiegend als Kraftfahrer. Es hat aber den Berufsschutz als Facharbeiter daran scheitern lassen, daß der Kläger nur eine kurze Ausbildung durchlaufen hat. Dies reicht für die Verneinung des Berufsschutzes nicht aus.
Es wird bei seiner erneuten Entscheidung zunächst festzustellen haben, ob und wie die vom Kläger zuletzt nach Ablegung der Prüfung für den einfachen Postdienst ausgeübte Tätigkeit (ihrer Art nach) tarifvertraglich eingestuft war. Hierbei wird es darauf ankommen, welche Tätigkeiten er im einzelnen verrichtet hat. Bei Mischtätigkeiten ist maßgeblich, welche Tätigkeit überwiegt (s zB BAG AP Nr 7 zu § 1 TVG Tarifverträge Großhandel). Danach wird zu prüfen sein, ob diese Tarifgruppe von dem Leitberuf des Facharbeiters geprägt ist. Falls dies zu bejahen ist, ist grundsätzlich davon auszugehen, daß der Kläger im Rahmen des Mehrstufenschemas dieser Gruppe zuzuordnen ist, sofern er entsprechend dem qualitativen Wert seiner Arbeit nach dieser Lohngruppe entlohnt wurde.
Eine abweichende qualitative Beurteilung kommt nur dann in Betracht, wenn die Einordnung der Berufsgruppe in das Tarifgefüge auf qualitätsfremden Merkmalen beruht (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 102 und 129). Führen die Feststellungen zum Tarifvertrag dazu, daß die Gruppe, zu der der Kläger gehört, einer Facharbeitergruppe des Tarifvertrages zugeordnet ist, hat das Gericht, sofern sich in dieser Hinsicht irgendwelche Anhaltspunkte ergeben, deshalb darüber hinaus noch zu prüfen, ob diese Einordnung auf qualitätsfremden Merkmalen beruht. Der 5. Senat des BSG hat bisher entschieden, daß hierzu die Höherstufung wegen äußerer Belastungen (Schmutz, Geruch, Witterungseinflüsse usw) sowie die Höherstufung aus sozialen Gründen gehöre; weitere Gründe habe die Rechtsprechung nicht zugelassen (s zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 122 S 382 sowie Nr 123 S 389, Urteil vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 –). Der erkennende Senat hat indes Bedenken, ob der Begriff „qualitätsfremde Merkmale” so weit eingeengt werden kann. Er hält es für möglich, daß die einzelne tarifvertragliche Einordnung eines Berufs auch noch von anderen Gesichtspunkten bestimmt sein kann, die ebenfalls als qualitätsfremd angesehen werden müssen. Der gegenwärtige Stand des Verfahrens gibt aber noch keinen Anlaß, diese Frage abschließend zu entscheiden, da keine Feststellungen des LSG vorliegen, die Zweifel an einer qualitätsorientierten Einordnung der Berufsgruppe erkennen lassen.
Sollte sich aufgrund der noch erforderlichen Feststellungen ergeben, daß der Kläger Berufsschutz als Facharbeiter genießt, sind weitere Ermittlungen erforderlich, auf welche Berufe der Kläger zumutbar verwiesen werden kann. Dazu gehören auch Feststellungen über die Einsatzfähigkeit des Klägers im Bereich der Deutschen Bundespost, weil sich aus ihnen ergeben kann, ob und inwieweit der Kläger aufgrund seiner Kenntnisse und Fertigkeiten, die er zur Übernahme in das Beamtenverhältnis erwerben mußte und auch erworben hat, auch auf andere Tätigkeiten in diesem Bereich zumutbar verwiesen werden kann. Auf diese Weise kann sich der Kreis der zumutbaren Verweisungstätigkeiten erweitern. Dies ergibt sich daraus, daß der Status als Facharbeiter im Blick auf die Dauer der Ausbildung und die bisherigen Berufstätigkeiten (Berufserfahrung) durch breit angelegte Kenntnisse und Fertigkeiten erworben wird, die ihrerseits ein breiteres Feld von Verweisungstätigkeiten als bei einem Angelernten oder Ungelernten eröffnen können.
Nach allem war auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten zu entscheiden haben wird.
Fundstellen