Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung. Unternehmensveranlagung. Beitragsberechnung. Gleichheitsverstoß
Orientierungssatz
Bei der Beitragsberechnung für die Mitgliedschaft eines Unternehmens in der Unfallversicherung wird durch die Zulassung des Abschätzungstarifs, wonach der Arbeitsbedarf nach dem Durchschnittsmaß der für die Unternehmen erforderlichen menschlichen Arbeit geschätzt wird der Gleichheitssatz nicht deshalb verletzt, weil bei größeren Betrieben (nach dem Abschätzungstarif mehr als 1200 Arbeitstage) die tatsächlich aufgewendeten Arbeitstage angesetzt werden.
Normenkette
RVO § 809 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 10.05.1971) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 10.12.1970) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Mai 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Abschätzungstarif, der der Beitragsveranlagung des Unternehmers des Klägers zugrunde liegt, rechtswidrig ist.
Der Kläger ist mit seinem landwirtschaftlichen Betrieb Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft (BG). Für das Jahr 1968 wurde von der Abschätzungskommission der Gemeinde sein land- und forstwirtschaftliches Unternehmen in das Unternehmerverzeichnis der Beklagten wie folgt eingetragen: 135 a Ackerland, 300 a Wiesen, 6 a Gemüse- und Obstgarten, 420 a Weide- und Reutland, 1550 a Wald, 5 Stück Großvieh, 4 Stück Kleinvieh und 1 Zugmaschine.
Nach dem Abschätzungstarif der Beklagten waren für den Betrieb des Klägers einschließlich Gefahrenzulage für einen Schlepper (mit 50 Tagen) rund 420 Arbeitstage errechnet. Bei einem Beitragssatz von 0,42 DM pro Arbeitstag (nach Abzug des Bundeszuschusses) belief sich der vom Kläger zu zahlende Jahresbeitrag auf 176,40 DM.
Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Satzungsregelungen der Beklagten bezüglich des Abschätzungstarifs seien nicht zu beanstanden. Sie hielten sich im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung. Die vom Kläger beanstandete Satzungsbestimmung, die nur für Großbetriebe eine individuelle Abschätzung des Arbeitsbedarfs zulasse, verstoße nicht gegen Normen des Grundgesetzes (GG). Das Vorbringen des Klägers, der Abschätzungstarif gehe von einem zu großen Arbeitsaufwand aus, übersehe, daß die Beklagte ihren Gesamtaufwand im Umlageverfahren auf ihre Mitglieder umlege und bei einer allgemeinen Senkung der Arbeitsbedarfssätze des Abschätzungstarifs zu einer Erhöhung des Beitragsfußes führen würde, die sich auf alle Unternehmen gleich auswirke.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung vorgetragen, die Veranlagung nach dem Abschätzungstarif sei nicht mehr zeitgerecht und entspreche auch nicht dem tatsächlichen Einkommen des Klägers. Im übrigen sei aber auch der Abschätzungstarif aus reinen Rechtsgründen nicht anwendbar, da er gegen § 809 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verstoße. Der jetzt gültige Abschätzungstarif stamme aus dem Jahre 1953 und bis zur Beitragsveranlagung seien 15 Jahre vergangen. Im übrigen verstoße er gegen Art. 3 GG, denn Kleinbetriebe müßten für Großbetriebe mitbezahlen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Mai 1971 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. Dezember 1970 sowie den Veranlagungsbescheid der Beklagten für das Jahr 1968 und den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 21. November 1969 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Soweit in der Revision des Klägers die Rüge enthalten sein sollte, daß die angegriffene Entscheidung auf der Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung der Satzung der Beklagten beruht, ist sie nicht zulässig. Nach § 162 Abs. 2 SGG kann die Revision nur darauf gestützt werden, daß die Entscheidung auf der Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Das ist hier nicht der Fall. Der Geltungsbereich der Satzung der beklagten Badischen landwirtschaftlichen BG geht nicht über den Bezirk des LSG Baden-Württemberg hinaus. Sie umfaßt die Regierungsbezirke Nordbaden und Südbaden des Landes Baden-Württemberg (§ 3 der Satzung). Die Nachprüfung der Auslegung der Satzung der Beklagten ist deshalb dem Bundessozialgericht (BSG) verwehrt (vgl. BSG 5, 222, 229 sowie BSG in SozR Nr. 82 und 130 zu § 162 SGG). Der Senat kann daher nur überprüfen, ob das LSG Vorschriften der RVO oder Verfassungsgrundsätze mit der angefochtenen Entscheidung verletzt hat. Das ist jedoch nicht der Fall.
Ein Verstoß gegen § 809 Abs. 2 RVO, der vom Kläger gerügt wird, liegt nicht vor. Nach § 809 Abs. 1 RVO wird der Arbeitsbedarf nach dem Durchschnittsmaß der für die Unternehmen erforderlichen menschlichen Arbeit geschätzt und für einzelne Unternehmen hiernach veranlagt. Das Nähere über die Abschätzung und die Veranlagung bestimmt die Satzung. Nach Abs. 2 der genannten Vorschrift sind die Abschätzung und die Veranlagung mindestens alle fünf Jahre nachzuprüfen. Das Wort Nachprüfung enthält nicht die Verpflichtung der Beklagten, auch eine Änderung des bisherigen Abschätzungstarifs vorzunehmen, sondern sie kann es, wozu es allerdings auch der Klarstellung wegen, daß der Verpflichtung in § 809 Abs. 2 RVO entsprochen wurde, einer ausdrücklichen Beschlußfassung der zuständigen Gremien bedarf, bei dem bisherigen Tarif belassen. Daß die Beklagte eine solche Überprüfung nicht vorgenommen hat, hat der Kläger in der Tatsacheninstanz selbst nicht behauptet. Er meint nur, die Beklagte müsse aus einer Überprüfung auch die Konsequenzen ziehen und in jedem Falle eine tatsächliche Änderung des Abschätzungstarifs vornehmen. Nach dem oben Gesagten geht diese Ansicht des Klägers jedoch fehl.
Bei dieser Rechtslage kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte die Frist von fünf Jahren schon deswegen eingehalten hat, weil § 809 Abs. 2 RVO erst am 1. Juli 1963 in Kraft getreten ist (Art. 4 § 16 Abs. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - vom 30. April 1963, BGBl I 241).
Die Rüge des Klägers, durch die Zulassung des Abschätzungstarifs, der auf § 47 der Satzung beruht, wonach der Arbeitsbedarf nach dem Durchschnittsmaß der für die Unternehmen erforderlichen menschlichen Arbeit geschätzt wird, und somit § 809 Abs. 1 Satz 1 RVO entspricht, sei der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) deshalb verletzt, weil bei größeren Betrieben (nach dem Abschätzungstarif mehr als 1200 Arbeitstage) die tatsächlich aufgewendeten Arbeitstage angesetzt werden, geht ebenfalls fehl. Nach der feststehenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) liegt ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nur dann vor, wenn versäumt wird, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, daß sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Der Gesetzgeber - und mit ihm der Satzungsgeber - hat hiernach weitgehende Gestaltungsfreiheit bei der Abgrenzung bestimmter Personenkreise, für die verschiedene Regelungen Anwendung finden sollen. Diese Gestaltungsfreiheit wird nur dadurch begrenzt, daß für die vorgesehenen Maßnahmen einleuchtende Gründe vorhanden sein müssen. Solche Gründe können sich aus einer der Praktikabilität wegen notwendigen Generalisierung ergeben (BVerfG 17, 337, 354; 27, 220, 230), bei der nicht die wirtschaftliche Lage jedes einzelnen Unternehmers berücksichtigt werden kann. Es ist dabei nicht Sache der Gerichtsbarkeit zu prüfen, ob damit jeweils die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen worden ist, sondern lediglich, ob die äußersten Grenzen gewahrt sind (siehe u. a. BVerfG 3, 162, 182, aber auch BVerfG 15, 167, 201 f und schließlich BVerfG 30, 409, 413 f). Entscheidend ist also, ob sich für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund anführen läßt (BVerfG 17, 381, 388 f und BVerfG in SozR Nr. 83 zu Art. 3 GG). Großbetriebe arbeiten nach allgemeinen wirtschaftlichen Erkenntnissen rationeller, mithin ist der Arbeitsaufwand für die einzelnen Arbeitsgänge auch regelmäßig geringer. Während in Klein- und Mittelbetrieben oft ältere Menschen und Kinder im Arbeitsprozeß mit eingespannt werden, entfällt diese den Arbeitsaufwand und die Unfallgefahr vergrößernde Situation für Großbetriebe. In letzteren läßt sich der Arbeitsablauf einfacher und schneller gestalten. Im allgemeinen sind reguläre Arbeitnehmer niemals Kinder oder ältere Leute, sondern Personen im tatsächlich aktiven Arbeitsalter. Es kommt hinzu, daß in Großbetrieben schon kraft Gesetzes für unfallsichere Arbeit bessere Voraussetzungen bestehen. Für Betriebe ab einer bestimmten Belegschaft ist z. B. das Vorhandensein von Sicherheitsbeauftragten gesetzlich vorgeschrieben (§ 719 Abs. 1 Satz 1 RVO). Ein weiterhin bemerkenswertes Unterscheidungsmerkmal ergibt sich daraus, daß die Ermittlungsmöglichkeiten bei Feststellung der Arbeitstage in Großbetrieben anders beschaffen sind als in Klein- oder Mittelbetrieben. In Großbetrieben mit Arbeitnehmern bieten die tatsächlichen Gegebenheiten durchaus die Möglichkeit einer Bestimmung des konkreten Arbeitsbedarfs ohne sonderlichen Aufwand. Bei Klein- oder Mittelbetrieben sind in der Regel dahingehende Ermittlungen bestenfalls nur mit einem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand möglich, zumal dort durch Mithilfe von Aushilfskräften oder die Beschäftigung von Kindern und älteren Leuten eine auch nur einigermaßen zuverlässige individuelle Bemessung nahezu ausgeschlossen erscheint. Der Abschätzungstarif berücksichtigt nicht nur die in der jeweiligen Kulturart unmittelbar anfallenden Arbeitsstunden, sondern auch andere damit zusammenhängende Arbeitszeiten wie beispielsweise Reparatur von Arbeitsgerät, Zurücklegung von Wegen zwecks Besorgungen, welche dem landwirtschaftlichen Unternehmen dienen. Er ist sonach nicht sachfremd im Sinne der oben genannten Rechtsprechung des BVerfG. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG liegt mithin nicht vor.
Daß auch kein Verstoß gegen das Verbot unzulässiger Einschränkung der Berufsausübung (Art. 12 GG) vorliegt, hat das LSG zutreffend mit dem Hinweis darauf verneint, daß der Abschätzungstarif in Anbetracht der relativ geringen Höhe des Beitrags (für 1968 176,40 DM) die Rentabilität des landwirtschaftlichen Unternehmens des Klägers nicht beeinträchtigt, den Kläger also nicht in seiner Berufsausübung hindert (vgl. BVerfG 7, 377 ff; 13, 181).
Nach alledem konnte die Revision des Klägers keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen