Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletztenrente. Erwerbsunfähigkeit. Begriff der "völligen Erwerbsunfähigkeit". Feststellungszeitpunkt

 

Orientierungssatz

1. Der Begriff "völlige Erwerbsunfähigkeit" ist nicht mit einer Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 RVO gleichzusetzen. Völlige Erwerbsunfähigkeit aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des Versicherten ist anzunehmen, wenn der Versicherte nur noch gelegentlich eine Reihe von Arbeiten im eigenen Betrieb, Haus oder Garten erledigen kann (vgl BSG vom 28.9.1972 - 7 RU 71/70 = SozR Nr 13 zu § 581 RVO).

2. Beziehen sich Feststellungen des Tatsachengerichts bezüglich des Vorliegens einer völligen Erwerbsunfähigkeit im wesentlichen auf eine längere Zeit vor Eintritt des Versicherungsfalles, lassen die nicht eindeutig erkennen, inwieweit der Versicherte die einzelnen Voraussetzungen dafür erfüllt.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs. 1 Nr. 2, § 1247 Abs. 2

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Mai 1972 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Berufsgenossenschaft dem Kläger eine Verletztenrente wegen einer als Berufskrankheit anerkannten Silikose zu gewähren hat.

Der Kläger ist 1904 geboren. Er hatte von 1918 bis 1923 zunächst als Lehrling und dann als Geselle in einer Wagnerei und von 1923 bis 1942 in verschiedenen Steinbrüchen, zuletzt als Spreng- und Bruchmeister, gearbeitet. Im April 1942 erlitt er einen schweren Unfall, bei dem er sich u. a. einen Schädelbruch zuzog. Dieser Unfall wurde nicht als Arbeitsunfall anerkannt.

Mit Bescheid vom 14. April 1942 bewilligte die Landesversicherungsanstalt Baden dem Kläger die Invalidenrente. Sie wurde mit Wirkung vom 1. Oktober 1969 in das Altersruhegeld umgewandelt.

Im Kriege leistete der Kläger von Mai bis Anfang November 1944 Dienst bei einem Pionierbataillon in Schwäbisch Gmünd, danach war er bis zum Kriegsende beim sog. Volkssturm.

Mit Bescheid vom 22. Dezember 1969 erkannte die Beklagte beim Kläger eine Silikose als Berufskrankheit und den sich daraus ergebenden Anspruch des Klägers auf Heilbehandlung mit Wirkung ab 16. September 1969 an. Sie lehnte jedoch die Bewilligung einer Verletztenrente mit der Begründung ab, der Kläger sei schon vor Eintritt des Versicherungsfalls der Berufskrankheit wegen anderer Krankheiten (neurologische Ausfallserscheinungen nach Schädelverletzung, Lungenemphysem, Taubheit, herabgesetzter Allgemeinzustand) erwerbsunfähig gewesen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat in den Vorinstanzen keinen Erfolg gehabt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: der Kläger sei erwerbsunfähig i. S. des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Er habe die nach dem Kriegsende noch ausgeübten Arbeiten unregelmäßig und in geringem Ausmaß ausgeführt. Er arbeite höchstens sechs Stunden täglich. Die Arbeitszeit sei jedoch ganz verschieden, und oft könne er wochenlang überhaupt nicht arbeiten.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt. Er meint, das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, bei ihm liege völlige Erwerbsunfähigkeit vor.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 8. Mai 1972 sowie das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. Februar 1971 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 22. Dezember 1969 zu verurteilen, ihm eine Teilrente von 30 v. H. der Vollrente zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz).

II

Die Revision ist i. S. einer Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird eine Verletztenrente gewährt, solange die Erwerbsunfähigkeit des Verletzten infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens ein Fünftel gemindert ist. Die zur Rente berechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) muß somit durch den Arbeitsunfall verursacht worden sein. Daraus folgt, daß einem Versicherten keine Verletztenrente gewährt werden kann, wenn er in dem Zeitpunkt, in dem eine an sich zur Rente berechtigende MdE durch den Unfall eingetreten wäre, bereits infolge anderer Krankheiten dauernd erwerbsunfähig gewesen ist. In einem solchen Fall ist nämlich die MdE nicht infolge des Unfalls, sondern allein durch die unfallunabhängigen Krankheiten eingetreten. Eine bereits völlig entfallene Erwerbsfähigkeit kann aber durch einen Arbeitsunfall nicht mehr gemindert werden (BSG 30, 224, 225; BSG, Urteil vom 24. Juni 1971 - 5 RKnU 7/69 - in Die Praxis, 1972, 276; Urteil vom 25. Mai 1972 - 5 RKnU 2/70 -; BSG in SozR Nr. 13 zu § 581 RVO; Urteil vom 27. Februar 1973 - 5 RKnU 8/71).

Wie der 7. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 28. September 1972 (SozR aaO) entschieden hat, ist der Begriff "völlige Erwerbsunfähigkeit" nicht mit einer Erwerbsunfähigkeit i. S. des § 1247 Abs. 2 RVO gleichzusetzen. Völlige Erwerbsunfähigkeit aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des Versicherten ist anzunehmen, wenn der Versicherte nur noch gelegentlich eine Reihe von Arbeiten im eigenen Betrieb, Haus oder Garten erledigen kann. Wie der 7. Senat weiter entschieden hat, ist es nicht von Bedeutung, ob auch fremde Arbeitgeber, sei es aus konjunkturellen Gründen, sei es bedingt durch das Lebensalter des Verletzten, sich bereit finden werden, diesen einzustellen.

Die Feststellungen des LSG lassen nicht eindeutig erkennen, inwieweit der Kläger die oben genannten Voraussetzungen erfüllt; denn sie beziehen sich im wesentlichen auf eine längere Zeit vor Eintritt des Versicherungsfalles im Jahre 1969.

Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651008

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