Leitsatz (amtlich)

Die Forderung von Beiträgen zur Sozialversicherung (hier: Nachforderung von KVdR-Beiträgen nach § 393a Abs 1 RVO aF durch den Rentenversicherungsträger) betrifft nicht eine "Leistung" iS des § 78 Abs 2 SGG. Eine Anfechtungsklage ist deshalb insoweit vorverfahrenspflichtig.

 

Orientierungssatz

1. Das Vorverfahren (§ 78 SGG) gehört zu den grundsätzlich unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen.

2. Die Sozialversicherung unterscheidet von jeher zwischen Leistungen, die den Versicherten zu gewähren sind, und den dafür aufzubringenden Beiträgen.

3. Das Vorverfahren kann aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit auch noch während des Rechtsstreits nachgeholt werden. Dabei ist in der Klage zugleich ein Widerspruch zu erblicken und die Widerspruchsfrist als gewahrt anzusehen.

 

Normenkette

SGG § 78 Abs 1; SGG § 78 Abs 2 S 1; RVO § 393a Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.05.1988; Aktenzeichen L 8 An 217/87)

SG Aachen (Entscheidung vom 06.11.1987; Aktenzeichen S 11 An 268/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) berechtigt ist, von der Klägerin nachträglich für die Zeit vom 1. Juli 1983 bis 31. Oktober 1986 Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR) in Höhe von 1.167,72 DM von deren laufenden Rentenbezügen und Beitragszuschüssen (§ 83e Angestelltenversicherungsgesetz -AVG-) einzubehalten.

Die 1926 geborene Klägerin bezog von der Beklagten seit dem 30. Januar 1980 Rente wegen Berufsunfähigkeit und seit dem 31. März 1980 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit, die mit Wirkung vom 1. Dezember 1986 in vorzeitiges Altersruhegeld umgewandelt wurde. Obwohl die Klägerin bei der Bundesknappschaft in der KVdR pflichtversichert war, hat die Beklagte zunächst weder Beitragszuschüsse nach § 83e AVG gewährt noch Krankenversicherungsbeiträge einbehalten.

Erst mit Bescheid vom 3. November 1986 erkannte die Beklagte den Anspruch der Klägerin auf Beitragszuschüsse an und teilte ihr mit, daß die KVdR-Beiträge ab Januar 1987 von den laufenden Rentenbezügen und Beitragszuschüssen einbehalten würden. Für die Zeit vom 1. Juli 1983 bis zum 31. Dezember 1986 stellte sie als Folge der nicht einbehaltenen KVdR-Beiträge eine Restbeitragsschuld in Höhe von 1.270,50 DM fest, bat um Darlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin und um Mitteilung, in welchen monatlichen Raten der überzahlte Betrag zurückgezahlt werden könne. In der Rechtsmittelbelehrung führte die Beklagte aus, gegen den Bescheid könne Widerspruch oder unmittelbar Klage erhoben werden.

Gegen den Bescheid vom 3. November 1986 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) Aachen erhoben. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 6. November 1987 abgewiesen.

Die Klägerin hat beim Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen Berufung eingelegt. Ihren Klageantrag hat sie dahingehend geändert, daß sie ihren Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides auf den Zeitraum vom 1. Juli 1983 bis 31. Oktober 1986 beschränkt. Hierdurch wird der in Streit befindliche Betrag auf 1.167,72 DM reduziert. Das LSG hat durch Urteil vom 4. Mai 1988 das Urteil des SG abgeändert und den Bescheid der Beklagten vom 3. November 1986 aufgehoben, soweit die Zahlung von Beitragsanteilen zur KVdR für die Zeit vom 1. Juli 1983 bis 31. Oktober 1986 gefordert wird. Es hat die Berufung für statthaft erklärt und in diesem Zusammenhang insbesondere einen Berufungsausschluß nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verneint, weil Streitgegenstand nicht die Rückforderung von Rente für einen abgelaufenen Zeitraum, sondern die Forderung wegen nicht einbehaltener Beiträge zur KVdR sei. Eine Beiladung der Bundesknappschaft als des zuständigen Krankenversicherungsträgers hat das LSG für nicht erforderlich gehalten. In der Sache sei die Forderung der Beklagten rechtswidrig. § 393a Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Rentenanpassungsgesetzes 1982 (RAG 1982) räume dem Rentenversicherungsträger nicht das Recht zum nachträglichen Einzug der KVdR-Beiträge, sondern nur zur Einbehaltung des Beitragsanteils von den laufenden Renten und bei nachträglicher Rentenfestsetzung von der Nachzahlung ein. Wenn wie hier irrtümlich die Einbehaltung des Beitragsanteils zur KVdR bei der Rentenzahlung unterblieben sei, sei der Rentenversicherungsträger nur unter den Voraussetzungen des § 50 iVm den §§ 45 und 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) zur nachträglichen Einziehung berechtigt. Diese Voraussetzungen lägen jedoch im Falle der Klägerin nicht vor, deren Verhalten könne man allenfalls als leichte Fahrlässigkeit werten.

Gegen das Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Sie rügt die unterbliebene Beiladung der Bundesknappschaft, die als zuständiger Krankenversicherungsträger nach § 75 Abs 2 SGG hätte beigeladen werden müssen. Hinsichtlich des unterbliebenen Vorverfahrens räumt sie ein, daß, da es sich um eine Beitragsangelegenheit handele, ein Vorverfahren hätte stattfinden müssen. Dies müsse jedoch nicht zur Zurückverweisung an das LSG zwecks Nachholung des Vorverfahrens führen, wenn vorher vom Bundessozialgericht (BSG) in Parallelfällen, in denen ein Vorverfahren durchgeführt worden sei, über die Revision entschieden werde. In der Sache trägt die Beklagte vor, § 393a Abs 1 Satz 1 RVO stelle für den streitigen Anspruch die maßgebliche Rechtsgrundlage dar. Abgesehen von § 25 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB 4), dessen Voraussetzungen hier nicht gegeben seien, verbiete keine Vorschrift den Einzug rückständiger KVdR-Beiträge. Dies werde durch das nunmehr geltende Recht bestätigt. So habe der Gesetzgeber in § 255 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB 5) aus Gründen der Klarstellung ausdrücklich die Einbehaltung rückständiger Beiträge geregelt. Auch die Grundsätze über die Verwirkung kämen im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Mai 1988 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 6. November 1987 zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie schließt sich in vollem Umfang den Ausführungen des Berufungsurteils an. Darüber hinaus vertritt sie die Auffassung, die Auslegung von § 393a Abs 1 RVO durch die Beklagte stelle wegen § 395 RVO einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz dar.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision der Beklagten ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Vor der Erhebung der Klage hätte ein Vorverfahren durchgeführt werden müssen. Da dieses zu den grundsätzlich unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen gehört (Meyer-Ladewig, SGG 3. Aufl, RdNrn 4 und 5 vor § 77), muß es nachgeholt werden, bevor in der Sache entschieden werden kann.

Nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG sind vor Erhebung einer Anfechtungsklage - eine solche hat die Klägerin gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. November 1986 erhoben - Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Einer der Fälle, in denen es nach Satz 2 Nrn 1 bis 3 der genannten Vorschrift eines Vorverfahrens nicht bedarf, liegt hier nicht vor. Gleiches gilt für die Voraussetzungen, unter denen nach Abs 2 der Vorschrift die Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren zulässig ist, nämlich "in Angelegenheiten ... der Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten ..., wenn die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht". Dabei läßt der Senat unentschieden, ob die Einbehaltung von KVdR-Beiträgen durch den Rentenversicherungsträger, die bis Ende 1988 in § 393a Abs 1 RVO aF geregelt war und seitdem aus § 255 Abs 1 SGB 5 folgt, zu den Angelegenheiten der Rentenversicherung gehört, obwohl die Beiträge nicht der Rentenversicherung, sondern der Krankenversicherung zufließen. Selbst wenn es sich insoweit um eine Angelegenheit der Rentenversicherung handeln sollte, weil die Beiträge von einem Träger der Rentenversicherung einzuziehen sind, so hat der genannte Bescheid der Beklagten keine "Leistung" zum Gegenstand.

Daß ein Rentenversicherungsträger, der KVdR-Beiträge, die er zunächst nicht einbehalten hatte, später nachfordert, damit nicht die früher ohne Abzug der Beiträge ausgezahlte Rente rückwirkend herabsetzt und daher nicht einen Anspruch auf Erstattung überzahlter Rentenleistungen erhebt, sondern eine Beitragsforderung nachträglich geltend macht, hat der Senat in der Sache 12 RK 66/87 vom selben Tage entschieden. Eine solche Forderung betrifft aber nicht eine "Leistung" iS des § 78 Abs 2 Satz 1 SGG. Dabei kann offenbleiben, ob zu den Leistungen iS der genannten Vorschrift nur solche gehören, die ein einzelner von einem Sozialleistungsträger beansprucht oder ob unter diesen Begriff auch Leistungen fallen können, die die Verwaltung ihrerseits vom einzelnen fordert, zB eine Erstattung von zu Unrecht erbrachten Leistungen. Auch ein solchermaßen erweiterter Leistungsbegriff (vgl dazu BSGE 55, 250, 251) würde jedenfalls nicht Beiträge zur Sozialversicherung umfassen, die die Verwaltung vom einzelnen fordert.

Die Sozialversicherung unterscheidet von jeher zwischen Leistungen, die den Versicherten zu gewähren sind, und den dafür aufzubringenden Beiträgen (vgl für die Krankenversicherung bis Ende 1988 die Überschriften vor § 179 RVO einerseits, § 380 RVO andererseits). Daran hat das SGB nichts geändert (vgl insbesondere den zweiten Abschnitt des SGB 4, der mit "Leistungen und Beiträge" überschrieben ist und dessen erster Titel auf die Vorschriften in den §§ 38 bis 59 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) über "Leistungen" verweist und im zweiten Titel Bestimmungen über "Beiträge" enthält). Auch das SGG geht von der Unterscheidung zwischen Leistungen und Beiträgen aus (vgl etwa § 149 SGG, wo neben den Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Leistungen ausdrücklich Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Beiträgen genannt werden). Diese Unterscheidung ist deshalb auch bei der Auslegung des § 78 Abs 2 SGG und des darin verwendeten Begriffs der Leistung zugrunde zu legen. Nur bei Anfechtung eines Verwaltungsaktes, der eine Leistung - unter Ausschluß einer Beitragsforderung - betrifft, kann somit Klage "auch ohne Vorverfahren" erhoben werden. Demgemäß unterliegen Anfechtungsklagen, die sich gegen eine von der Verwaltung erhobene Beitragsforderung richten, dem Vorverfahrenszwang nach § 78 SGG.

Ob auch eine solche Klage ausnahmsweise dann ohne ein vorher durchgeführtes Vorverfahren zulässig ist, wenn die beklagte Verwaltungsstelle zugleich die Widerspruchsbehörde ist, so daß im Antrag auf Klagabweisung zugleich ein ablehnender Widerspruchsbescheid zu sehen wäre, kann hier auf sich beruhen (vgl dazu Meyer-Ladewig aaO, § 78 RdNr 3). Im vorliegenden Falle besteht keine Identität der beklagten Verwaltungsstelle (BfA, vertreten durch die Geschäftsführung) und der Stelle, die über einen Widerspruch gegen den angefochtenen Bescheid zu entscheiden hat. Die von der Klägerin ohne Durchführung eines Vorverfahrens erhobene Klage ist deshalb unzulässig, solange ein Vorverfahren nicht stattgefunden hat. Dieses kann nach der ständigen Rechtsprechung des BSG aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit auch noch während des Rechtsstreits nachgeholt werden (BSGE aaO S 252 mwN). Um den Beteiligten Gelegenheit dazu zu geben, hat der Senat den Rechtsstreit gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen.

Bei der Nachholung des Vorverfahrens haben die Beteiligten und das LSG zu beachten, daß in der Klage zugleich ein Widerspruch zu erblicken und die Widerspruchsfrist als gewahrt anzusehen ist (BSGE 20, 199). Zur Auslegung des § 393a Abs 1 RVO aF wird auf das schon genannte Urteil des erkennenden Senats (12 RK 66/87) verwiesen, wonach im Rahmen von § 25 SGB 4 und § 51 Abs 2 SGB 1 auch eine nachträgliche Einbehaltung von KVdR-Beiträgen zulässig ist. Wie in diesem Urteil dargelegt ist, war eine Beiladung eines Krankenversicherungsträgers nach § 75 Abs 2 SGG nicht erforderlich. Entgegen der Ansicht der Beklagten hätte das LSG die Bundesknappschaft daher nicht beiladen müssen.

Das LSG wird bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Erstattung außergerichtlicher Kosten des Rechtsstreits einschließlich der des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1660338

BSGE, 105

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