Leitsatz (amtlich)
Mit der "Zeit seines Todes" iS von AVG § 42, in der eine Unterhaltspflicht des Versicherten gegenüber seiner früheren Frau bestanden haben muß, ist der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten gemeint (Anschluß BSG 1961-06-16 4 RJ 25/59 = BSGE 14, 225).
Normenkette
AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. November 1960 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt als frühere Ehefrau des Versicherten G M (M.) Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (Art. 2 § 18 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -) von Januar 1957 an. Die Ehe wurde 1936 aus alleinigem Verschulden von M. geschieden. M. hat 1937 wieder geheiratet; er ist im November 1950 an einem Speiseröhrenkrebs erkrankt und am 23. September 1951 daran verstorben. Seiner Witwe, der zweiten Ehefrau, wird seit Oktober 1951 Witwenrente gezahlt.
Die Beklagte hat die Gewährung der Rente an die Klägerin abgelehnt; die Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ging davon aus, daß M. - unstreitig - im letzten Jahr vor seinem Tod der Klägerin keinen Unterhalt geleistet hat, die letzte Alternative des § 42 AVG daher nicht erfüllt ist; entgegen der Auffassung der Klägerin verneinte es jedoch auch eine gesetzliche oder sonstige Unterhaltspflicht des Versicherten zur Zeit seines Todes; die Klägerin möge zwar von Juli bis November 1950 einen gewissen Unterhaltsanspruch gegen M. gehabt haben; dieser Zeitraum liege aber außerhalb dessen, den das Gesetz als "Zeit des Todes" ansehe, sie reiche im allgemeinen nicht länger als ein Vierteljahr vom Tode zurück. Hier sei eine Unterhaltspflicht aber schon seit November 1950 entfallen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragte die Klägerin,
unter Aufhebung der vorangegangenen Bescheide und Urteile die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenrente zu verurteilen,
hilfsweise,
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügte eine Verletzung des § 42 AVG; das LSG habe zwar "zutreffend die 2. und 3. Alternative für nicht erfüllt angesehen", die "1. Alternative" jedoch zu Unrecht verneint; die "Zeit des Todes" habe es zu eng begrenzt.
Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revision.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II.
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG), im Ergebnis jedoch unbegründet.
Das LSG hat die Witwe des Versicherten (zweite Frau) nicht beigeladen, obgleich diese bei einem Erfolg der Klägerin mit einer Minderung ihrer Witwenrente rechnen müßte (§ 45 Abs. 4 AVG). Ob hierin ein Verstoß gegen § 75 SGG liegt, kann jedoch dahinstehen, da ein solcher Verfahrensmangel von keinem Beteiligten gerügt worden und nach der Rechtsprechung des BSG von Amts wegen in der Regel nicht zu beachten ist (BSG 1, 158; 7, 269, 275).
Der Auslegung der Worte "Zeit seines Todes" in § 42 AVG durch das LSG kann der Senat allerdings nicht folgen. In Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteile des 1. Senats vom 20. Juli 1960 und 3. November 1961, SozR Nr. 6 und 9 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -; des 4. Senats vom 16. Juni 1961, BSG 14, 255 und des 12. Senats vom 28. November 1963 - 12/4 RJ 246/60 -) hat das LSG zwar richtig erkannt, daß dieser Zeitbegriff weder mit dem Todeszeitpunkt noch mit dem "letzten Jahr vor dem Tode" (i. S. der letzten Alternative des § 42 AVG) identisch ist; ebenso zutreffend sind die weiteren Überlegungen des LSG, daß damit ein Zeitraum vor dem Tod gemeint ist, der sich nur bei Beachtung des Sinnes und Zweckes von § 42 AVG - der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrente - abgrenzen läßt. Entgegen der Ansicht des LSG verbietet aber gerade die Unterhaltsersatzfunktion eine Begrenzung der "Zeit des Todes" auf das letzte Vierteljahr vor dem Tode, wenn nicht überhaupt jede allgemeine Festlegung; der Unterhaltsersatzfunktion entspricht es am ehesten, die "Zeit des Todes" mit dem "letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode" gleichzusetzen, also mit dem Zustand, der kraft genereller Vermutung des Gesetzgebers ohne den Tod des Versicherten und ohne die damit zusammenhängenden Ereignisse wahrscheinlich fortbestanden hätte. Nur diese Betrachtungsweise schließt bei der Anwendung des § 42 AVG (§ 1265 RVO) - wie auch bei der Anwendung des § 43 AVG (§ 1266 RVO; vgl. hierzu BSG 14, 129, 132 sowie SozR Nr. 2, 3 und 4 zu § 1266 RVO) - in möglichst weitgehendem Maße aus, daß vorübergehende Besonderheiten in den unterhaltsrechtlichen Beziehungen bei der Gewährung oder Versagung der Hinterbliebenenrenten den Ausschlag geben.
Trotzdem ist die Entscheidung des LSG im Ergebnis richtig; denn auch während des "letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode" war der Versicherte nach den nicht angefochtenen und daher bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) der Klägerin gegenüber nicht zum Unterhalt verpflichtet; ebenso scheidet zweifellos die letzte Alternative des § 42 AVG - Unterhaltsleistung im letzten Jahr vor dem Tode - aus.
Der wirtschaftliche Dauerzustand in den maßgebenden Verhältnissen - hier: in den Verhältnissen des Versicherten und der Klägerin - ist rückschauend vom Tode des Versicherten her zu ermitteln. Zu den Verhältnissen des Versicherten hat das LSG festgestellt, daß dieser von Januar 1950 bis zum Todesmonat (September 1951) als Korrektor ein monatliches Nettoeinkommen von 284,- DM (1950: 286,- DM, 1951: 282,- DM) bezog und hiervon seinen Unterhalt und den der nicht erwerbstätigen zweiten Frau bestreiten mußte; die Klägerin war demgegenüber nach den Feststellungen des LSG im gleichen Zeitraum letztmals im Juni 1950 erwerbstätig, anschließend erkrankte sie, erhielt zunächst Fürsorgeunterstützung und dann durch Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 1950 ab 18. September 1950 ein monatliches Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit von 80,20 DM, das ab Februar 1951 laufend gezahlt wurde und sich ab Juni 1951 auf 92,70 DM erhöhte. Hiernach begann der letzte wirtschaftliche Dauerzustand mit der Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente an die Klägerin; daß der Versicherte zu dieser Zeit bereits an der zum Tode führenden Krankheit litt, steht dem nicht entgegen, weil die Krankheit bis zum Todesmonat keinen Minderverdienst des Versicherten zur Folge hatte (nach einer Bescheinigung des Arbeitgebers - Bl. 13 der Rentenakten der Witwe - war der 1. September 1951 der letzte Arbeitstag).
Zu Recht hat das LSG entschieden, daß der Versicherte in der so verstandenen "Zeit seines Todes" weder gesetzlich noch aus sonstigem Grunde zu Unterhaltsleistungen an die Klägerin verpflichtet war. Die gesetzliche Unterhaltspflicht ist, obgleich die Ehe bereits 1936 geschieden wurde, für die fragliche Zeit nach den §§ 58, 59 des Ehegesetzes - EheG - von 1946 zu beurteilen (Palandt, EheG, Anm. 2 vor § 54; Soergel/Siebert, IV. Bd, Familienrecht, Einleitung zum EheG, Anm. 7). Nach § 58 Abs. 1 EheG hätte der Versicherte an sich zwar der Klägerin den Unterschiedsbetrag zwischen ihrer Berufsunfähigkeitsrente und dem nach den Lebensverhältnissen der früheren Ehegatten für sie angemessenen Unterhalt gewähren müssen; von dieser Verpflichtung hat ihn aber § 59 Abs. 1 EheG befreit, weil er bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen - hier: der Unterhaltspflicht gegenüber der zweiten Frau - hierdurch seinen eigenen angemessenen Unterhalt gefährdet hätte und der gänzliche Wegfall der Unterhaltspflicht mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der geschiedenen Ehegatten der Billigkeit entsprach. Dem Versicherten standen in der maßgebenden Zeit für den Lebensunterhalt seiner aus ihm und der zweiten Frau bestehenden Familie nur 282,- DM monatlich netto zur Verfügung; hiervon hat er, wie das LSG ferner festgestellt hat, auch noch Aufwendungen für seine Krankheit bestreiten müssen; demgegenüber erhielt die Klägerin damals eine Rente von rund 80,- bzw. 92,- DM; unter diesen Umständen bestand keine gesetzliche Pflicht zur Zahlung von Unterhalt.
Ebensowenig bestand in der gleichen Zeit - wie auch von der Revision nicht bestritten wird - eine sonstige Unterhaltspflicht. Das LSG hat zwar nicht klären können, ob die Klägerin mit M. nach der Scheidung einen schriftlichen oder mündlichen Unterhaltsvertrag geschlossen hat; es hat dies jedoch zugunsten der Klägerin unterstellt und den angenommenen Vertrag so ausgelegt, daß die vereinbarte Unterhaltsleistung jedenfalls bei wesentlicher Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse bzw. bei völligem Unvermögen von M. teilweise oder ganz entfallen solle und damit im Ergebnis die gleichen Einschränkungen enthalten habe, wie sie in den §§ 58, 59 EheG zum Ausdruck kommen. Diese Auslegung der unterstellten Unterhaltsvereinbarung ist nicht zu beanstanden. Daß Unterhaltsverträge in weitem Umfange der Auslegung zugänglich sind und - wenn sich aus ihnen nicht ausdrücklich etwas anderes ergibt (was das LSG hier nicht feststellen konnte) - gleichen inhaltlichen Veränderungen unterliegen können wie die gesetzliche Unterhaltspflicht selbst, hat der 1. Senat des BSG schon mehrfach entschieden (Urteile vom 19. Juni 1962 - 1 RA 234/60 - und vom 26. März 1963 - 1 RA 154/60 -); der erkennende Senat schließt sich dem an.
Die Revision ist hiernach zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen