Leitsatz (redaktionell)
Ein Versicherter, der an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose erkrankt und sowohl kranken- als auch rentenversichert ist, hat wegen seiner notwendigen stationären Behandlung einen vorrangigen Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung auf Gewährung der Heilbehandlung. Die Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers nach RVO § 1244a , AVG § 21a entfällt - mangels Vorliegen der erforderlichen Zustimmung des Betreuten - bei einem nach BSeuchG § 37 in einem Krankenhaus zwangsasylierten Versicherten. In einem solchen Fall kommt die Leistungspflicht der KK voll zum Tragen.
Die Leistungspflicht der KK entfällt in diesen Fällen nicht deshalb, weil der Versicherte wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach BSeuchG § 37 zwangsweise in einem Krankenhaus untergebracht ist.
Normenkette
RVO § 184 Nr. 2 Fassung: 1924-12-15, § 1244a Fassung: 1959-07-23; AVG § 21a Fassung: 1959-07-23; BSeuchG § 37 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision der klagenden Sozialhilfeverwaltung wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Juli 1970 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.713,82 DM zu zahlen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der 1933 geborene Bauhilfsarbeiter L K (K.), der Mitglied der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) ist, befand sich in der Zeit vom 17. Februar 1963 bis 4. August 1965 wegen aktiver behandlungsbedürftiger Lungentuberkulose insgesamt fünfmal auf Kosten der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (LVA) in stationärer Heilstättenbehandlung. Die Aufenthalte wurden jeweils vorzeitig beendet, weil K. aus disziplinären Gründen (Trunksucht) entlassen wurde.
Auf Antrag des Landratsamts Deggendorf beschloß das zuständige Amtsgericht am 19. Oktober 1965 gemäß § 37 Abs. 2 des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) in Verbindung mit § 3 des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehung, daß K. vorerst auf die Dauer von sechs Wochen in einer geschlossenen Krankenanstalt oder einer geschlossenen Abteilung einer Krankenanstalt untergebracht wird, weil er sich nicht an die angeordneten Absperr- und Schutzmaßnahmen gehalten habe, obgleich bei seiner disziplinären Entlassung aus dem Sanatorium H am 4. August 1965 ein Auswurf von Tuberkelkeimen nachgewiesen worden sei. K. wurde daraufhin am 20. Oktober 1965 in das Nervenkrankenhaus M eingeliefert.
Nach dem ärztlichen Zeugnis des Nervenkrankenhauses vom 22. Oktober 1965 handelt es sich bei K. um einen asozialen offen-tuberkulösen Trinker und haltlosen Psychopathen; die Art der Erkrankung erfordere spezial-ärztliche Behandlung sowie sachkundige Überwachung und Pflege in einem geschlossenen Krankenhaus. Nach einem weiteren Zeugnis vom 1. März 1966 befand sich K. in der Anstalt zur ärztlichen Behandlung und Anstaltspflege.
Nachdem die LVA ihre Kostentragungspflicht für den angeordneten Krankenhausaufenthalt in M gegenüber dem Kläger abgelehnt hatte, übernahm dieser mit Schreiben an K. vom 11. Februar 1966 die Krankenhauskosten gemäß § 59 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) als vorläufige Leistung zunächst bis 30. April 1966, schließlich bis zur Entlassung des K. am 22. Juli 1966. Ab 20. Oktober 1965 erhielt K. von der LVA Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die für die Dauer des Krankenhausaufenthalts an den Kläger gezahlt wurde.
Nachdem auch die AOK die Übernahme der Krankenhauskosten für K. abgelehnt hatte, erhob der Kläger Klage. Diese wies das Sozialgericht ab. Auch die Berufung hatte keinen Erfolg: Bei gleichzeitiger Versicherung eines Berechtigten in der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherung trage der Träger der Krankenversicherung die ambulante, der Träger der Rentenversicherung die stationäre Tbc-Heilbehandlung. Gegen letzteren habe der Kläger jedoch keinen Anspruch. Die behördlich angeordnete Absonderung gemäß § 37 BSeuchG gegen den Willen des Betroffenen stelle keine Maßnahme dar, die dem Rentenversicherungsträger obliege. Die Zustimmung zur stationären Tbc-Hilfe im Sinne des § 1237 Abs. 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beziehe sich auf die vom Rentenversicherungsträger angeordnete Maßnahme (Krankenhauspflege) schlechthin. Sie könne nicht angenommen werden, wenn die Einweisung in das Krankenhaus zwangsweise erfolge.
Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt: bei einer Zwangseinweisung eines Tbc-Kranken müsse zwischen einer Absonderung als solcher und den dabei durchgeführten Heilmaßnahmen unterschieden werden. Die Zwangsasylierung mache nicht die Zustimmung des Kranken zu einer Heilmaßnahme während der Absonderung entbehrlich.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Juli 1970 und das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 17. Januar 1969 aufzuheben und die Beklagte, hilfsweise die Beigeladene, zu verurteilen, dem Kläger die Aufwendungen des stationären Heilverfahrens des Herrn L K im Nervenkrankenhaus M in der Zeit vom 20. Oktober 1965 bis 22. Juli 1966 in Höhe von 4.713,82 DM zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen, soweit sie auf Verurteilung der Beklagten gerichtet ist.
Die Beigeladene beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen, soweit sie auf Verurteilung der Beigeladenen gerichtet ist.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision ist begründet. Die klagende Sozialhilfeverwaltung hat nach § 59 Abs. 1 BSHG vorläufige Hilfe geleistet. Sie hat gegen die AOK gemäß § 59 Abs. 2 BSHG i.V.m. §§ 1531, 1533 Nr. 2 RVO einen Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen, die ihr durch die zwangsweise stationäre Heilbehandlung des bei der AOK versicherten K. im Nervenkrankenhaus M für die Zeit vom 20. Oktober 1965 bis 22. Juli 1966 in Höhe von 4.713,82 DM erwachsen sind.
Wie der Senat in seinem Urteil vom 17. April 1970 (SozR Nr. 52 zu § 183 RVO) im Anschluß an die Entscheidung des 4. Senats vom 14. Januar 1969 (BSG 29, 87) entschieden hat, hat ein Versicherter, der an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose erkrankt und sowohl kranken- als auch rentenversichert ist, wegen seiner notwendigen stationären Behandlung nach § 1244 a Abs. 1 und 3 i.V.m. § 1237 Abs. 1 und 2 RVO einen vorrangigen Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung auf Gewährung dieser Heilbehandlung. Nur für die ambulante Behandlung ist regelmäßig der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zuständig. An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten.
Die Leistungspflicht der LVA, die zur Folge gehabt hätte, daß für die Dauer der Gewährung der stationären Heilbehandlung durch die LVA die Ansprüche des betreuten K. gegen die AOK geruht hätten (§ 1244 a Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 1239 Satz 3 RVO), entfällt jedoch - mangels Vorliegens der erforderlichen Zustimmung des Betreuten - bei einem nach § 37 BSeuchG in einem Krankenhaus zwangsasylierten Versicherten (BSG 26, 102, 104). In einem solchen Fall kommt die - nur bei Gewährung der stationären Heilbehandlung durch die LVA zum Ruhen gebrachte - Leistungspflicht der Krankenkasse voll zum Tragen. K. hatte einen "Anspruch" i.S. des § 1531 Satz 1 RVO auf Krankenpflege, weil Art und Schwere der Krankheit sie erforderten. Seiner Zustimmung bedurfte es für die von der AOK zu gewährende Krankenhauspflege nicht (§ 184 Abs. 3 Nr. 1 und 4, möglicherweise auch Nr. 2). Die Leistungspflicht der AOK war auch nicht deshalb entfallen, weil K. wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zwangsweise in einem Krankenhaus untergebracht war (vgl. Urteile des Senats vom 17. 10. 1969 - 3 RK 82/66 - und vom 26. 5. 1970 - 3 RK 45/69 - in SozR Nr. 23 und 28 zu § 184 RVO). Der danach gegebene Anspruch auf Krankenhauspflege "entsprach" i.S. des § 1533 Nr. 3 RVO der vom Kläger nach § 49 Abs. 2 Nr. 1 BSHG gewährten stationären Behandlung (vgl. Urt. v. 17.4.1970 - 3 RK 62/66 - in SozR Nr. 27 zu § 184 RVO, Bl. Aa 19 Rücks.).
Demnach mußte die Beklagte - unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen - zum Ersatz der vom Kläger für K. aufgewendeten Kosten der Krankenhauspflege verurteilt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen