Leitsatz (amtlich)
Zur Anwendung der EV SV Ostgebiete von 1941-12-22 im Rahmen des FRG § 17.
Normenkette
FRG § 17 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1960-02-25; SVOstgebieteEV § 1 Abs. 3 Fassung: 1941-12-22
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22. März 1968 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Gründe
Der im Jahre 1964 verstorbene Ehemann der Klägerin hatte die Beklagte auf Zahlung des Altersruhegeldes in Anspruch genommen; seine Ehefrau führt das Verfahren als Rechtsnachfolgerin fort. In Übereinstimmung mit der Beklagten (Bescheid vom 13. April 1964) hat das Sozialgericht (SG) den Anspruch verneint (Urteil vom 22. März 1968). Es ist von der Sachdarstellung des Rechtsvorgängers der Klägerin ausgegangen. Dieser lebte hiernach von Geburt an zunächst in Polen. In der Zeit von 1914 bis April 1938 war er als Maler in abhängiger Beschäftigung in L beschäftigt, vom 1. Januar 1934 bis April 1938 wurden für ihn Versicherungsbeiträge zur polnischen Sozialversicherung entrichtet. Von Dezember 1939 bis Oktober 1940 hat er - nach seinem weiteren Sachvortrag - in Lodz während der deutschen Besetzung Zwangsarbeit verrichtet und ist dann - nach seiner Flucht in den russisch besetzten Teil Polens - zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbracht worden. Von Juni 1946 bis Mai 1957 lebte er in B, anschließend wanderte er nach Israel aus.
Das SG hat die Voraussetzungen für die Gewährung des Altersruhegeldes nicht als erfüllt angesehen. Die unmittelbare Anwendung der Reichsversicherungsordnung (RVO) scheide, so meint es, in dem vorliegenden Fall aus. Über das Fremd- und Auslandsrentengesetz (FRG) vom 25. Februar 1960 lasse sich der Anspruch ebenfalls nicht begründen. Dem Personenkreis des § 1 FRG sei der Rechtsvorgänger der Klägerin nicht zuzurechnen. Er sei nicht als Vertriebener anerkannt gewesen, er habe niemals die deutsche Staatsangehörigkeit besessen und er sei auch nicht heimatloser Ausländer. Ein Anspruch über § 17 Abs. 1 Buchst. b i. V. m. § 15 FRG scheide ebenfalls aus. Die Anwendung dieser Vorschrift komme nur in Betracht, wenn Beiträge an einen nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden seien und ein deutscher Träger der gesetzlichen Rentenversicherung sie beim Eintritt des Versicherungsfalles wie nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze entrichtete Beiträge zu behandeln hatte. Die zur polnischen Sozialversicherung entrichteten Beiträge fielen nicht unter diese Vorschrift; sie seien nicht auf die deutsche Rentenversicherung übergeleitet worden. Das hätte durch die Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den eingegliederten Ostgebieten vom 22. Dezember 1941 (OstgebietsVO - RGBl I, 777) geschehen können, jedoch sei der Ehemann der Klägerin als Jude von dieser Verordnung nicht erfaßt worden.
Mit der Sprungrevision rügt die Klägerin die unrichtige Anwendung der OstgebietsVO. Die darin enthaltenen Einschränkungen seien nicht mehr anzuwenden. Ihr Rechtsvorgänger dürfe nicht schlechtergestellt werden als der von der OstgebietsVO erfaßte Bevölkerungsteil der "eingegliederten Ostgebiete".
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zur Gewährung des Altersruhegeldes zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Die vom SG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Dies konnte allerdings vom Vorderrichter im Zeitpunkt des Erlasses des Urteils nicht erkannt werden. Aus der damaligen Sicht ist die angefochtene Entscheidung nicht zu beanstanden. Dem SG ist insbesondere darin beizupflichten, daß ein Anspruch auf Altersruhegeld nicht unmittelbar aus der RVO hergeleitet werden kann und daß der verstorbene Ehemann der Klägerin nicht zu dem Personenkreis des § 1 FRG gehörte. Zu Recht hat das SG daher nur noch die Frage geprüft, ob der Anspruch in Anwendung des § 17 Abs. 1 Buchst. b FRG begründet sein könnte. Hiernach findet § 15 FRG - diese Vorschrift bestimmt u. a. die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegte Beitragszeiten zu berücksichtigen sind - auch auf Personen Anwendung, die nicht zu dem Personenkreis des § 1 Buchstaben a - d FRG gehören, wenn die Beiträge an einen nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet sind und ein deutscher Träger der gesetzlichen Rentenversicherung sie bei Eintritt des Versicherungsfalles wie nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze entrichtete Beiträge zu behandeln hatte. Die Verpflichtung, die in Rede stehenden polnischen Versicherungszeiten auf diese Weise zu werten, könnte sich aus der OstgebietsVO ergeben. Für den Ehemann der Klägerin sind - nach seinen Angaben - in der Zeit von 1934 bis 1938 Beiträge zur polnischen Sozialversicherung entrichtet worden. Die Stadt Lodz - dort lebte er damals und auch in den ersten Jahren des zweiten Weltkrieges - gehörte zu den sogenannten eingegliederten Ostgebieten, nämlich zum Gau Wartheland (vgl. "Erlaß des Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete" vom 8. Oktober 1939 - RGBl I, 2042 in Verbindung mit dem Änderungserlaß vom 29. Januar 1940 - RGBl I, 251). Für dieses Gebiet bestimmte § 1 der OstgebietsVO, daß die RVO, das Angestelltenversicherungsgesetz und das Reichsknappschaftsgesetz nebst den zu ihrer Ergänzung, Änderung und Durchführung erlassenen Vorschriften mit den sich aus der VO ergebenden Besonderheiten auf den im einzelnen bezeichneten Personenkreis Anwendung finden sollten. Weil der Rechtsvorgänger der Klägerin diesem Personenkreis nicht angehörte - darauf wird noch näher einzugehen sein - kann offenbleiben, ob er von dieser Regelung schon deshalb nicht erfaßt wurde, weil er sich am Stichtag - am 1. Januar 1942 (§ 1 Abs. 3 der OstgebietsVO) - nicht mehr innerhalb der Grenzen des damaligen deutschen Reichsgebiets aufgehalten hat. Ebenso bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob die OstgebietsVO über das Kriegsende hinaus eine Wirkung entfalten konnte und ob sie bejahendenfalls zu den Vorschriften gehört, auf die § 17 Abs. 1 Buchst. b FRG Bezug nimmt. Der Gesetzgeber scheint allerdings ihre Weitergeltung unterstellt zu haben. Dies folgt aus § 3 Abs. 4 des - inzwischen aufgehobenen - Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FremdRG), der von der Weitergeltung der OstgebietsVO und der dazu erlassenen Ergänzungs- und Durchführungsbestimmungen ausgeht. Allerdings heißt es dort weiter, daß diese Vorschriften (OstgebietsVO sowie Ergänzungs- und Durchführungsbestimmungen) auch auf Leistungsansprüche und Anwartschaften aus Versicherungsverhältnissen in der polnischen Sozialversicherung anzuwenden seien, die nach dieser VO nicht oder nicht voll auf die deutsche Sozialversicherung übergegangen sind. Hieraus schließt die Klägerin, daß die vorbezeichneten Einschränkungen - insbesondere der Ausschluß von Bevölkerungsteilen - auch im Rahmen des FRG nicht zu beachten seien. Dem vermag sich der erkennende Senat jedoch nicht anzuschließen. Die Vorschrift des § 3 Abs. 4 FremdRG kann nicht für sich allein, sie muß vielmehr in Zusammenhang mit § 1 dieses Gesetzes gesehen werden. Hiernach war Voraussetzung für die Gewährung einer Leistung in Anwendung des FremdRG, daß die in Betracht kommenden Personen sich ständig im Bundesgebiet oder im Land Berlin aufhielten und von dem Versicherungsträger, bei dem das Versicherungsverhältnis bestanden hatte, keine Leistungen gewährt wurden. Die Anwendung der OstgebietsVO ohne die darin enthaltenen Einschränkungen diente dem Zweck, eine weitgehende Gleichbehandlung der im Geltungsbereich der RVO lebenden Personen zu gewährleisten. Eine auf eine derartige Behandlung zielende Verpflichtung auch solchen Personen gegenüber, die nie die deutsche Staatsangehörigkeit besessen haben und zu keiner Zeit im Bundesgebiet oder West-Berlin wohnhaft waren, ist dagegen nicht ersichtlich, sie läßt sich insbesondere nicht aus dem Grundgesetz herleiten. Gerade der Umstand, daß im Rahmen des FremdRG eine besondere Normierung für notwendig gehalten worden ist, deutet darauf hin, daß eine entsprechende Regelung auch in Zusammenhang mit § 17 FRG getroffen worden wäre, wenn dies dem Willen des Gesetzgebers entsprochen hätte. Da sie fehlt, muß die OstgebietsVO - wenn überhaupt - mit den darin enthaltenen Einschränkungen Anwendung finden. Dies bedeutet, daß die Klägerin sich nicht auf § 17 FRG stützen kann, weil ihr Ehemann nicht von der OstgebietsVO erfaßt worden war (vgl. § 43 OstgebietsVO i. V. m. dem Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 29. Juni 1942, AN II/408). Zu dem ausgeschlossenen Personenkreis gehörten - entgegen dem Vorbringen der Klägerin - nicht nur die Juden, sondern auch die sogenannten Schutzangehörigen sowie die Staatenlosen polnischen Volkstums (§ 1 Abs. 1 Satz 2 OstgebietsVO). Dies war aber, da es die polnische Staatsangehörigkeit nach damaliger Auffassung nicht mehr gab - der polnische Staat hatte hiernach aufgehört zu existieren -, praktisch die gesamte in den "eingegliederten Ostgebieten" lebende Bevölkerung "polnischen Volkstums". Es waren also nicht nur einige wenige Personen von der Übernahme in die deutsche Rentenversicherung ausgeschlossen, unter die Ausnahmeregelung fiel vielmehr ein großer - wenn nicht gar der größte - Teil der damaligen Bevölkerung des sogenannten Reichsgaues W. Gerade diese Erwägung läßt es als verständlich erscheinen, daß der Gesetzgeber es vermieden hat, auch insoweit den Trägern der Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland eine in ihren Ausmaßen nicht übersehbare Versorgungslast aufzubürden.
Das SG konnte bei seiner Entscheidung das Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (BGBl. I, 1846) noch nicht berücksichtigen. Dieses Gesetz ist am 1. Februar 1971 in Kraft getreten (Art. 4 § 5 des Gesetzes). Es gilt nach Art. 4 § 1 im wesentlichen auch für Versicherungsfälle vor seinem Inkrafttreten. Der Klägerin, deren Ehemann nach den Feststellungen des SG als Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt war, muß die Möglichkeit eingeräumt werden, neue Tatsachen vorzutragen, die über die Anwendung des vorbezeichneten Gesetzes zu einem Anspruch aus der Sozialversicherung führen könnten. Insbesondere ist es nicht auszuschließen, daß in dem vorliegenden Fall die Voraussetzungen des Art. I, § 20 des Gesetzes erfüllt sind. Dort heißt es: "Bei der Anwendung des FRG stehen den anerkannten Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deshalb nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben, falls sie hinsichtlich der deutschen Volkszugehörigkeit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 4 BEG erfüllen" Insoweit fehlt es an Tatsachenfeststellungen, die eine abschließende Beurteilung durch das Revisionsgericht ermöglichen. Der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen