Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung und Entscheidung, ob in den für die Feststellung der Rente maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist (RVO § 622 Abs 1), hat das Gericht von dem im letzten bindenden Bescheid festgestellten unfallbedingten Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auszugehen, auch wenn dieser nach Meinung des Gerichts zu niedrig festgestellt ist. Haben sich die Unfallfolgen wesentlich gebessert, ist die bisher gewährte Rente entsprechend dem Ausmaß der Besserung herabzusetzen oder zu entziehen. Eine unabhängig von der bisherigen Feststellung neue Bewertung des Grades der MdE ist unzulässig.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 627 Fassung: 1963-04-30, § 1744; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.05.1975; Aktenzeichen L 3 U 59/74) |
SG Aurich (Entscheidung vom 30.01.1974; Aktenzeichen S 4 U 111/70) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Mai 1975 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Durch Bescheid vom 24. Juli 1969 gewährte die Beklagte dem Kläger wegen eines am 29. Juni 1967 erlittenen Arbeitsunfalls vom 6. November 1968 bis 28. Juni 1969 eine vorläufige Rente und vom 29. Juni 1969 an eine Dauerrente in Höhe von 20 vH der Vollrente. Als Unfallfolgen stellte die Beklagte fest: "Chronische, zu akuten Exazerbationen neigende Schleimhauteiterung des rechten Ohres bei subtotalem Trommelfelldefekt mit hochgradiger Schwerhörigkeit an der Grenze der Taubheit und Gleichgewichtsstörungen; chronisch rezidivierende Gehörgangsentzündungen rechts als Folge der Mittelohreiterung." Gesundheitsstörungen im Bereich der Nase und der Kieferhöhlen wurden nicht als Unfallfolgen anerkannt. Dem Bescheid lag ein Gutachten des Hals-, Nasen-, Ohrenarztes Dr. W in E vom 2. Juni 1969 zugrunde, in dem die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 20 vH geschätzt worden war. Durch Bescheid vom 16. Juli 1970 entzog die Beklagte dem Kläger die Rente mit Ablauf des Monats August 1970, weil nach der am 23. Oktober 1969 rechtsseitig durchgeführten Tympanoplastik mit Ausräumung eines Gehörgangs cholesteatoms insofern eine wesentliche Besserung der Unfallfolgen eingetreten sei, als die chronische Mittelohreiterung mit rezidivierenden Gehörgangsentzündungen des rechten Ohres ausgeheilt sei. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers werde durch Folgen des Arbeitsunfalls nach ärztlicher Feststellung jetzt nicht mehr in rentenberechtigendem Grad (wenigstens 20 vH) gemindert. Diesem Bescheid lag ein weiteres Gutachten des Dr. W vom 24. Juni 1970 zugrunde.
Dagegen hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Aurich Klage erhoben. Während des Prozesses lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 25. August 1972 die Gewährung einer Entschädigung wegen einer vom Kläger als Berufskrankheit geltend gemachten Lärmschwerhörigkeit ab, weil die auf dem rechten Ohr bestehende an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit und die auf dem linken Ohr bestehende geringfügige Hochtonschwerhörigkeit nur in ganz geringem Grad lärmbedingt seien. Der lärmbedingte Anteil der Schwerhörigkeit mindere die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht in meßbarem Grade. Der Bescheid stützte sich auf das Gutachten des Facharztes für Hals-, Nasen-, Ohren Dr. H in H vom 28. Oktober 1971. Das SG hat nach medizinischer Sachaufklärung die auf Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 1970 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Januar 1974). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen nach weiterer medizinischer Sachaufklärung das erstinstanzliche Urteil sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 1970 aufgehoben (Urteil vom 14. Mai 1975). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der auf § 622 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützte Rentenentziehungsbescheid sei rechtswidrig, weil in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Dauerrente maßgebend gewesen seien, keine die Entziehung rechtfertigende wesentliche Änderung eingetreten sei. Bei einer Neufeststellung sei nach fast einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Literatur nicht nur von den bindend als Unfallfolgen festgestellten Gesundheitsstörungen auszugehen, sondern auch der - gegebenenfalls seinerzeit unrichtig festgesetzte - Grad der MdE zu berücksichtigen, der für die Höhe der Verletztenrente maßgeblich ist. Allerdings könne die seinerzeit bindend anerkannte Höhe des Grades der MdE der Neufeststellung nicht uneingeschränkt zugrunde gelegt werden. Das sei zwar dann berechtigt, wenn er zu hoch eingeschätzt worden sei. In diesen Fällen sei es dem Versicherungsträger verwehrt, seine zu Gunsten des Verletzten vorgenommene Fehleinschätzung zu korrigieren. Anders verhalte es sich jedoch, wenn in dem früheren Bescheid der Grad der MdE zu niedrig bemessen und eine wesentliche Besserung der Verhältnisse eingetreten sei. In einem solchen Fall wäre trotz wesentlicher Besserung der Verhältnisse eine Herabsetzung oder Entziehung der Rente nicht zulässig. Dabei werde nicht verkannt, daß damit die für den Verletzten ungünstige Fehleinschätzung für die Zukunft korrigiert werden könne, ohne daß es auf die strengen Voraussetzungen des § 627 RVO ankomme. Aber gerade diese Vorschrift zeige, daß das Gesetz den Verletzten und den Versicherungsträger nicht gleichermaßen behandele, weil in der Unfallversicherung eine Änderung von Bescheiden zuungunsten des Verletzten, ohne daß eine wesentliche Änderung vorliege, nur innerhalb der sehr engen Grenzen des § 1744 RVO möglich sei. Dieser Gesichtspunkt rechtfertige daher auch die unterschiedliche Behandlung im Rahmen des § 622 RVO. Allein durch Anwendung des § 627 RVO sei ein sachgerechtes Ergebnis nicht zu erzielen, weil der Versicherungsträger nach dieser Vorschrift die bindend festgestellte, aber zu niedrig bemessene Rente nur zu erhöhen brauche, wenn die bindende Feststellung ohne jeden Zweifel unrichtig gewesen sei. Daher sei bei der Prüfung einer wesentlichen Besserung von seinerzeit zu niedrig bewerteten Unfallfolgen einerseits durch einen Vergleich der objektiven Verhältnisse unter Zugrundelegung der festgestellten Unfallfolgen die Wesentlichkeit der Besserung zu ermitteln, und es seien andererseits die noch verbliebenen Unfallfolgen originär einzuschätzen, wie dies ganz allgemein im Rahmen der § 622 RVO entsprechenden Vorschrift des § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) gehandhabt werde. Danach sei eine Herabsetzung oder Entziehung der Rente nur möglich, wenn die originäre Einschätzung einen niedrigeren Grad der MdE ergebe als den seinerzeit anerkannten. Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Ausgangspunktes sei die Entziehung der Dauerrente rechtswidrig. Denn zur Zeit des bindend gewordenen Bescheides vom 24. Juli 1969 sei die unfallbedingte MdE des Klägers unter Berücksichtigung einer als Vorschaden vorhanden gewesenen beidseits angedeuteten bis geringgradigen Schwerhörigkeit (Hochtonschwerhörigkeit), die für sich allein die Erwerbsfähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt habe, in Wirklichkeit höher als 20 vH gewesen.
Schon allein die seinerzeit bestehende an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts sei unter diesen Umständen mit 20 vH zu bewerten gewesen. Dazu seien noch Gleichgewichtsstörungen und chronisch-rezidivierende Gehörgangsstörungen rechts als Folge der Mittelohreiterung gekommen. Seit Sommer 1970 bestehe als Unfallfolge nur noch der Gehörschaden, nachdem die Gleichgewichtsstörungen und die chronisch-rezidivierenden Gehörgangsentzündungen sich gebessert hätten und nicht mehr vorhanden seien. Aus den dargelegten Gründen könne aber eine Herabsetzung der bis zum Ablauf des Monats August 1970 gewährten Dauerrente in Höhe von 20 vH der Vollrente nicht erfolgen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und trägt vor, daß die Entziehung der Dauerrente durch den angefochtenen Bescheid selbst bei Unterstellung einer im ersten Dauerrentenbescheid zu niedrigen Bemessung der MdE nicht rechtswidrig sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Mai 1975 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 30. Januar 1974 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Der erkennende Senat teilt nicht die Auffassung des LSG, daß bei einer wegen wesentlicher Besserung der Unfallfolgen vorzunehmenden Neufeststellung der Verletztenrente die noch verbleibenden Unfallfolgen originär einzuschätzen seien und eine Herabsetzung oder Entziehung der Rente nur möglich sei, wenn die originäre Einschätzung einen niedrigeren Grad der MdE ergibt, als zuvor anerkannt war.
Nach § 622 Abs 1 RVO hat der Versicherungsträger eine Leistung neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese Vorschrift setzt eine bereits vorhandene Feststellung der Leistung voraus, die in der Regel durch Verwaltungsakt erfolgt, aber auch durch Urteil vorgenommen werden kann (vgl BSGE 26, 227, 228; 27, 244, 247). Nach § 77 SGG ist die Feststellung durch Verwaltungsakt, falls der dagegen gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird, für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Bindende Verwaltungsakte über Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung haben damit eine der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wesensverwandte Bestandskraft (BSGE 18, 84, 89). Inhaltlich erstreckt sich die Bindungswirkung entsprechend den für die materielle Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen entwickelten Grundsätze auf den entscheidenden Teil des Verwaltungsaktes.
Die Feststellung der Dauerrente durch Bescheid vom 24. Juli 1969, die der Kläger nicht angefochten hat und von dem bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit des Neufeststellungsbescheides vom 16. Juli 1970 auszugehen ist, enthielt mehrere Verfügungssätze. Einmal die Feststellung, daß die im einzelnen genannten Gesundheitsstörungen Folgen des Arbeitsunfalls sind, und außerdem die Gewährung einer Teilrente von 20 vH der Vollrente als Dauerrente. Die Bindungswirkung des § 77 SGG erstreckt sich damit nicht nur auf die Unfallfolgen, sondern auch auf den Grad der durch sie bedingten MdE, nach dem sich gemäß § 581 Abs 1 Nr 2 RVO die Höhe der Teilrente bemißt (BSG SozSich 1975 Rspr. Nr. 2914; Urteil vom 31. März 1976 - 2 RU 193/74 - unveröffentlicht). Sie besteht auch unabhängig davon, ob der Grad der unfallbedingten MdE etwa zu niedrig festgestellt ist, der Bescheid also - wie das LSG meint - von Anfang an fehlerhaft war.
Eingriffe in die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, die von Anfang an fehlerhaft sind oder infolge Änderung der Verhältnisse nachträglich rechtswidrig werden, dürfen auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung nur in den durch Gesetz ausdrücklich zugelassenen Fällen vorgenommen werden (BSGE 18, 84, 90). Hierzu gehört § 622 RVO, der die Neufeststellung einer infolge Änderung der Verhältnisse nachträglich rechtswidrig gewordenen Leistung regelt. Diese Vorschrift durchbricht die Bindungswirkung eines Bescheides jedoch nur insoweit, wie die für die letzte Feststellung maßgebend gewesenen Verhältnisse sich wesentlich geändert haben. Sie eröffnet dagegen nicht die Möglichkeit, den Grad der MdE unfallbedingter Gesundheitsstörungen etwa wie bei der ersten Feststellung der Dauerrente (§ 1585 Abs 2 RVO) völlig neu - originär - zu bewerten (vgl Schieke BG 1964, 414; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung 3. Aufl, Anm 2 c, aa zu § 622). Allerdings hatte wie das LSG auch schon das Reichsversicherungsamt (RVA) zu dem § 622 Abs 1 RVO gleichenden § 88 Abs 1 des Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes (GUVG) vom 30. Juni 1900 (RGBl 585) entschieden, daß der Versicherungsträger bei der Neufeststellung der Entschädigung nicht an die Schätzung der Erwerbsfähigkeit bei der früheren Rentenfeststellung gebunden sei. Er könne vielmehr die Rente anderweit festsetzen, und zwar auf das Maß, das der neuerlichen Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit tatsächlich entspreche (AN 1910, 498). Das RVA verwies dabei auf frühere Entscheidungen, in denen es eine Rentenminderung für unzulässig erklärt hatte, weil trotz einer eingetretenen wesentlichen Besserung der Unfallfolgen die bisherige Rente noch angemessen und dem neuen Zustand des Verletzten entsprechend schien (vgl Handbuch der Unfallversicherung, 3. Aufl. Bd. 1 Anm. 3 a zu § 88 GUVG). Schieke (aaO) hat zu dieser Rechtsprechung ausgeführt, daß unter der Geltung des GUVG die Korrektur von Anfang an fehlerhafter, aber rechtskräftiger Bescheide des Unfallversicherungsträgers nur nach Maßgabe der Vorschriften der ZPO über die Wiederaufnahme des Verfahrens möglich war (§ 84 GUVG), eine dem § 619 RVO aF (jetzt: § 627 RVO) vergleichbare Regelung noch nicht bestand, das RVA daher nach Mitteln und Wegen gesucht habe, mit der Sach- und Rechtslage nicht vereinbare Entscheidungen in bezug auf die Bewertung der MdE wenigstens mit Wirkung für die Zukunft zu korrigieren. Mit Inkrafttreten des § 619 RVO aF (am 1. Januar 1913 durch Art 3 der Verordnung betr. Inkrafttreten von Vorschriften der RVO vom 5. Juli 1912 - RGBl 439) sei die frühere Rechtsprechung zu § 88 GUVG gegenstandslos geworden. Dieser Auffassung stimmt der Senat zu. Nach § 627 RVO hat der Träger der Unfallversicherung die Leistung neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Prüfung überzeugt, daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden ist. Damit ist § 627 RVO eine weitere Vorschrift, die einen Eingriff in die Bindungswirkung von Verwaltungsakten gestattet, und zwar von solchen Verwaltungsakten, die von Anfang an fehlerhaft sind und zugunsten des Versicherten geändert werden sollen. Dem LSG wird darin gefolgt, daß diese Vorschrift zeige, daß das Gesetz den Verletzten und den Versicherungsträger nicht gleichermaßen behandele. Denn die Änderung eines Bescheides zuungunsten des Verletzten, ohne daß eine wesentliche Änderung vorliegt, ist nur unter den sehr engen Voraussetzungen des § 1744 RVO zulässig. Diese Vorschrift regelt die Anfechtung endgültiger Bescheide der Versicherungsträger in einer der Restitutionsklage der ZPO vergleichbaren Weise. Dem Versicherungsträger ist danach die Rücknahme eines fehlerhaften Bescheides zuungunsten der Versicherten erheblich erschwert, häufig erst nach rechtskräftiger strafgerichtlicher Verurteilung strafbarer Handlungen möglich. Dies rechtfertigt entgegen der Ansicht des LSG jedoch nicht, ohne daß das Vorliegen der Voraussetzungen des § 627 RVO überhaupt geprüft und auch nicht festgestellt worden ist, in die Bindungswirkung des Bescheides vom 24. Juli 1969 einzugreifen und über den unfallbedingten Grad der MdE nochmals neu - originär - zu entscheiden. Der erkennende Senat hat bereits ausgesprochen, daß die Voraussetzungen für den Eingriff in die Bindungswirkung von Bescheiden über Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung durch besondere Vorschriften - §§ 622, 627, 1744 RVO - erschöpfend und abschließend geregelt sind (BSGE 18, 84, 90; auch Urteil vom 31. März 1976 - 2 RU 193/74 - unveröffentlicht). Dieser Rechtsprechung ist der 8. Senat gefolgt (SozSich 1975 Rspr. Nr. 2914). Es ist daher unzulässig, in die Bindungswirkung unter Berufung auf § 323 ZPO oder sonstige allgemeine Gesichtspunkte einzugreifen. Die bestehende gesetzliche Regelung zwingt grundsätzlich dazu, beim Eintritt einer wesentlichen Besserung der für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesenen Verhältnisse, die bislang gewährte Rente entsprechend dem Ausmaß der Besserung herabzusetzen oder zu entziehen. Sofern der Verletzte in einem Verfahren wegen Neufeststellung der Rente nach § 622 RVO die frühere Bewertung des durch die Unfallfolgen bedingten Grades der MdE für zu niedrig hält, hat er - und nicht das Gericht - gemäß § 627 RVO die Möglichkeit, insoweit eine Überprüfung mit dem Ziel der höheren Bewertung des Grades der MdE in die Wege zu leiten, und zwar durch einen Antrag an den Versicherungsträger. Erst wenn der Versicherungsträger darüber entschieden hat - sei es, er nimmt eine teilweise Neufeststellung vor oder lehnt sie ab - kann im gerichtlichen Verfahren dessen Verwaltungsakt und damit die frühere Bewertung des Grades der MdE nachgeprüft werden. Allerdings ist eine Neufeststellung gemäß § 627 RVO durch den Versicherungsträger oder im sozialgerichtlichen Verfahren durch das Gericht nur dann vorzunehmen, wenn der Versicherungsträger von der Unrechtmäßigkeit der früheren Feststellung überzeugt ist oder als überzeugt zu gelten hat, die Unrechtmäßigkeit demnach so offensichtlich ist, daß der Versicherungsträger dies bei erneuter Überprüfung hätte erkennen müssen (vgl. BSGE 19, 38, 44; 28, 173, 175). Bloße Zweifel an der Richtigkeit der früheren Entscheidung reichen zur Neufeststellung nicht aus. Damit ist dem in der gesamten Sozialversicherung geltenden Prinzip der materiellen Gerechtigkeit Genüge getan, ohne das Prinzip der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens aufzugeben (vgl BSGE 19, 38, 43; 26, 89, 92). Die vollständige Nachprüfung einer früheren bindenden Feststellung im Rahmen der Neufeststellung bei Eintritt einer wesentlichen Änderung nach § 622 RVO ist nicht zulässig. Auch das RVA hat es nicht für angängig gehalten, gelegentlich einer Neufeststellung den ganzen Streitstoff von neuem aufzurollen und alles wieder in Frage zu stellen, was durch die frühere rechtskräftige Feststellung als für den Entschädigungsanspruch maßgebend anerkannt war. Seiner Ansicht nach durfte die frühere Feststellung nur in derjenigen Richtung abgeändert werden, in der sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben (Handbuch der Unfallversicherung aaO Anm 2 zu § 88 GUVG).
Im vorliegenden Fall ist, da eine Neufeststellung gemäß § 627 RVO nicht vorliegt, bei der Prüfung, ob eine Neufeststellung nach § 622 RVO wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, von der bindenden Feststellung des Bescheides vom 24. Juli 1969 auszugehen, und zwar sowohl hinsichtlich der Unfallfolgen als auch hinsichtlich der Bewertung des dadurch bedingten Grades der MdE mit 20 vH. Von den im einzelnen in diesem Bescheid aufgeführten Unfallfolgen haben sich nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG die Gleichgewichtsstörungen und die chronisch-rezidivierenden Gehörgangsentzündungen rechts als Folge der Mittelohreiterung gebessert und sind nicht mehr vorhanden. Dem angefochtenen Urteil kann jedoch nicht entnommen werden, ob diese Besserung auch wesentlich ist, dh der Grad der MdE sich dadurch um mehr als 5 vH senkt (vgl BSGE 32, 245) und damit die noch verbleibenden Unfallfolgen keine MdE in rentenberechtigendem Grad mehr verursachen. Da das Revisionsgericht diese Feststellungen nicht selbst treffen kann, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache nach § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Fundstellen