Entscheidungsstichwort (Thema)
Waisenrente bei "halbem Lehrauftrag"
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Waisenrentenanspruchs einer Junglehrerin, die zwischen Ablegung der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Haupt- und Realschulen und Aufnahme der Referendarausbildung einen "halben Lehrauftrag" übernimmt.
Orientierungssatz
Eine Junglehrerin hat Anspruch auf Waisenrente, wenn sie eine nicht von ihr zu vertretende Pause zwischen zwei Ausbildungsabschnitten sinnvoll nutzt, sofern ihr Arbeitseinkommen die typische Bedarfslage einer Junglehrerin in Berufsausbildung nicht sprengt.
Normenkette
RVO § 1267 Abs 1
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 27.11.1979; Aktenzeichen L 2 J 1476/78) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 12.10.1978; Aktenzeichen S 2 J 812/77) |
Tatbestand
Streitig ist ein zeitlich begrenzter Anspruch auf Waisenrente.
Die 1954 geborene Klägerin bezog von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) aus der Versicherung ihres verstorbenen Vaters seit 1967 Waisenrente. Um die Jahreswende 1976/1977 schloß sie ein Studium mit der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Haupt- und Realschulen ab. Nachdem ihr der Regierungspräsident in D die Übernahme in den Referendardienst frühestens zum 1. August 1977 in Aussicht gestellt hatte, nahm sie einen für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 1977 befristeten Lehrauftrag - später verlängert bis 31. Oktober 1977 - über zwölf Jahreswochenstunden a 62,-- DM (= monatlich 744,-- DM brutto/569,91 DM netto) an.
Mit Bescheid vom 3. Mai 1977 teilte die Beklagte der Klägerin daraufhin mit, daß die Waisenrente mit Ablauf Januar 1977 entfalle und daher für Februar bis Mai 1977 im Betrag von 934,40 DM überzahlt worden sei*, Ihr Widerspruch hiergegen blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 13. September 1977).
In den Vorinstanzen ist die seit 1. November 1977 in den Referendardienst übernommene Klägerin mit ihrem Anspruch durchgedrungen. Mit der angefochtenen Entscheidung vom 27. November 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten gegen das stattgebende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 12. Oktober 1978 zurückgewiesen: Der Annahme einer Berufsausbildung im Sinne von § 1267 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) stehe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine überbrückende, entgeltliche Tätigkeit nicht entgegen, wenn damit eine vom Ausbildenden nicht zu vertretende Pause zwischen zwei Ausbildungsabschnitten sinnvoll genutzt werde. Dies treffe auch auf die Klägerin in bezug auf den streitigen Zeitabschnitt zu. Der Höhe der Entlohnung sei nur Bedeutung zuzumessen, wenn sie das Maß einer Ausbildungsvergütung oder Unterhaltssicherung erheblich überschreite. Das sei bei der Klägerin, die später als Referendarin eine Ausbildungsvergütung von 1.471,50 DM monatlich erhalten habe, nicht der Fall gewesen; die in § 1267 Abs 2 RVO aufgeführte Einkommensgrenze von 1.000,-- DM monatlich sei nicht erreicht. Der Lehrauftrag habe auch keine dauerhafte und gefestigte berufliche Position verliehen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision. Sie trägt vor: Eine Ausbildung liege nicht mehr vor, wenn eine Beschäftigung auf einem normalen Anstellungsvertrag beruhe und nach üblichen Bedingungen entlohnt werde. Eine echte Befristung des Anstellungsvertrages habe nicht vorgelegen, weil der Zeitpunkt der Übernahme in den Referendardienst noch offen gewesen sei. Die Tätigkeit der Klägerin sei von keinem Ausbilder überwacht worden. Die Klägerin sei in der streitigen Zeit nach den üblichen Bedingungen entsprechend dem Bundesangestelltentarif (BAT III) wie eine vergleichbare vollwertige Teilzeitarbeitskraft entlohnt worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts
vom 27. November 1979 sowie das Urteil des
Sozialgerichts Frankfurt am Main vom
12. Oktober 1978 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie weist darauf hin, daß sie während ihres Lehrauftrages einer besonderen pädagogischen Überwachung unterlegen habe und gehalten gewesen sei, sich auf die Zweite Lehramtsprüfung vorzubereiten. Der Lehrauftrag sei mit der Berufsausbildung in engem Zusammenhang gestanden. Es sei sehr bedenklich, daß die Beklagte sie - Klägerin - zum Zwecke der Abwehr von Ansprüchen aus der Sozialversicherung auf bedarfsdeckende andere Ansprüche verweise.
Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zulässig, in der Sache aber nicht begründet.
Waisenrente erhalten nach § 1267 Abs 1 Satz 1 RVO nach dem Tode des Versicherten ua seine Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, darüber hinaus nach Satz 2 aaO längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ua dann, wenn sie "sich in einer Schul- oder Berufsausbildung befinden". Es trifft zu, daß sich die damals 23 bzw 24 Jahre alte Klägerin in der streitigen Zeit vom 1. Februar bis 31. Oktober 1977 nicht in diesem Sinne unmittelbar in Berufsausbildung befunden hat. Sie unterrichtete auf Grund eines auf zunächst sechs, dann neun Monate befristeten Anstellungsvertrages gegen Entgelt an einer Schule. Indessen kommt es hierauf nicht entscheidend an. Das BSG hat in inzwischen gefestigter Rechtsprechung § 1267 Abs 1 Satz 2 RVO nach seinem Gesamtplan und über seinen Wortlaut hinaus gesetzesergänzend angewendet und entschieden, daß der vom Gesetz genannten Berufsausbildung eine entgeltliche Tätigkeit gleichstehe, mit der die Waise eine nicht von ihr zu vertretende Pause zwischen zwei Ausbildungsabschnitten im Hinblick auf den angestrebten Beruf sinnvoll nutzt (BSG in SozR Nr 38 und 42 zu § 1267 RVO; BSG in SozR 2200 §1267 Nr 2). Eine solche überbrückende Tätigkeit begründet allerdings dann keinen Anspruch auf Waisenrente, wenn die Waise für die geleistete Arbeit wie eine vollwertige Arbeitskraft bezahlt wird (vgl dazu insbesondere BSG an letztgenannter Stelle).
Daß die tatsächlichen Voraussetzungen des überbrückenden entgeltlichen Arbeitens im konkreten Falle gegeben sind, hat das LSG bindend für den erkennenden Senat (§ 163 SGG) festgestellt; hiergegen hat die Beklagte in der Form des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben. Einer anderen Würdigung des dem LSG vorliegenden Sachverhalts und neuem tatsächlichen Vorbringen kann das Revisionsgericht nicht nähertreten.
Der Beklagten ist jedoch einzuräumen, daß eine Vergütung von 62,-- DM brutto pro zu erteilende Jahreswochenstunde im Jahre 1977 möglicherweise eine Bezahlung war, wie sie auch vollwertige Arbeitskräfte erhielten. Andererseits war der absolute Betrag der Unterrichtsvergütung - 744,-- DM brutto/569,91 DM netto monatlich - bescheiden. Die Frage, ob sich die dem Anspruch auf Waisenrente nachteilige "Bezahlung wie eine vollwertige Arbeitskraft" im Sinne der zitierten BSG-Rechtsprechung nach der absoluten Höhe der Vergütung oder nach dem auf die Arbeitszeit umgerechneten Betrag richtet, beantwortet sich insbesondere aus der Entscheidung des BSG in SozR 2200 § 1267 Nr 2. Dort ist ausgeführt, daß das Arbeitseinkommen der Waise den vom Gesetz vorausgesetzten Rahmen "einer mit der Schul- oder Berufsausbildung verbundenen typischen Bedarfslage nicht völlig sprengen" dürfe. Das BSG setzt also absolut das Arbeitseinkommen der Waise und ihren für die Zeit der Berufsausbildung typischen Lebensbedarf ins Verhältnis; unerheblich ist danach die Höhe der Entlohnung in bezug auf die abgeleistete Arbeitszeit.
Dem tritt der erkennende Senat aus folgenden Überlegungen bei: Der Umstand, daß die Klägerin vom Regierungspräsidenten in D nur einen "halben" Lehrauftrag erhalten hatte, läßt sich ohne weiteres darauf zurückführen, daß es sich bei ihr um eine noch nicht voll ausgebildete Lehrerin handelte, die die Referendarausbildung und die Zweite Staatsprüfung erst zu absolvieren hatte. Der Ausbildungsstand der Klägerin, die zeitliche Befristung des Lehrauftrages auf sieben bzw neun Monate und schließlich auch dessen Beschränkung auf zwölf Wochenstunden stehen miteinander in einem evidenten Zusammenhang und lassen sich nicht hinsichtlich jeden Elements gesondert betrachten.
Im einzelnen mag dahinstehen, bei welchem Betrag des Arbeitseinkommens eine zwischen Hochschule und Referendarausbildung stehende Junglehrerin im Jahr 1977 ihre "typische Bedarfslage" kraß überschritten haben würde. Bei einem Monatseinkommen von 744,-- DM brutto/569,91 DM netto monatlich läßt sich dies nicht sagen, ohne daß dies näher begründet werden müßte. Eine gesetzliche Belegstelle hierfür bildet für Zeiten des Waisenrentenbezugs nach dem 31. Dezember 1977 § 1267 Abs 2 RVO idF des Gesetzes zur 20. Rentenanpassung (20. RAG) vom 27. Juni 1977. Danach gilt ua Abs 1 Satz 2 aaO nicht, wenn der Waise aus einem Ausbildungsverhältnis Bruttobezüge von wenigstens 1.000,-- DM monatlich zustehen. Wenn § 1267 RVO ab 1. Januar 1978 selbst für noch in einem Ausbildungsverhältnis stehende Waisen Bruttobezüge bis 1.000,-- DM monatlich für unschädlich erklärt, so können wenige Monate zuvor 744,-- DM monatlich brutto in bezug auf den Lebensbedarf der Klägerin nicht als überzogen angesehen werden (vgl dazu bei vergleichbarer Funktion von Waisenrente und Kindergeld auch BSG in SozR 5870 § 2 Nr 4 und 17).
Überbrückte aber die Klägerin in der streitigen Zeitspanne eine unverschuldete Pause zwischen zwei Ausbildungsabschnitten, ohne ein Arbeitseinkommen zu haben, welches die für ein Ausbildungsverhältnis typische Bedarfslage sprengte, so hat das LSG den Anspruch der Klägerin auf Waisenrente zu Recht bejaht. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Im Kostenpunkt stützt sich die Entscheidung auf § 193 SGG.
Fundstellen