Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzinsung von vor dem 1.1.1978 fälligen aber noch nicht verjährten Geldleistungen. Abschluß des Verwaltungsverfahrens. vollständiger Leistungsantrag
Orientierungssatz
1. Nach der Übergangsvorschrift des Art 2 § 23 Abs 2 S 2 SGB 1 gilt die Zinsregelung des § 44 SGB 1 auch für die vor diesem Zeitpunkt fällig gewordenen und noch nicht verjährten Ansprüche auf Geldleistungen, soweit das Verwaltungsverfahren hierüber zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist.
2. Das Verwaltungsverfahren iS des Art 2 § 23 Abs 2 SGB 1 ist dann nicht mit dem Erlaß des Verwaltungsaktes (Leistungsbescheid) abgeschlossen, wenn dieser der Klage angefochten ist (vgl BSG 1979-09-19 9 RV 68/78 = SozR 1200 § 44 Nr 1). Dies gilt auch für Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl BSG 1980-06-26 8a RU 62/79 = SozR 1200 § 44 Nr 3).
3. Ein vollständiger Leistungsantrag iS des § 44 Abs 2 Alt 1 SGB 1 liegt vor bei einem Leistungsbegehren, mit dem der Sachverhalt vollständig dargelegt wird, um die im Gesetz bestimmten Voraussetzungen für einen Anspruch auf Sozialleistungen überprüfen und sein Entstehen feststellen zu können.
4. Mahnt der Unfallverletzte mit einem Schreiben beim Unfallversicherungsträger die Unfallrente an, liegt in diesem Schreiben eine Antragstellung vor.
5. Der Unfallversicherungsträger hat die Leistungen von Amts wegen festzustellen (§ 1545 Nr 1 RVO). Dadurch wird der Versicherte aber nicht gehindert, selbst einen vollständigen Leistungsantrag zu stellen. Liegt ein solcher vor, ist die Verzinsung der Geldleistung allein danach zu bemessen (vgl BSG 1980-06-26 8a RU 62/79 aaO).
Normenkette
SGB 1 § 44 Abs. 1 Fassung: 1975-12-11, Abs. 2 Alt. 1 Fassung: 1975-12-11; SGB 1 Art. 2 § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1975-12-11; RVO § 1546 Abs. 1 Fassung: 1975-12-11; SGB 1 § 44 Abs. 2 Hs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die Verzinsung einer dem Kläger zustehenden Rentennachzahlung aus der gesetzlichen Unfallversicherung, und zwar vom 1. Januar 1978 an.
Die Beklagte gewährte dem Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles vom 11. November 1973 bis 10. Mai 1974 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vom 20 vH der Vollrente (Bescheid vom 11. August 1975). Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Beklagte, für den gleichen Zeitraum eine um 10 vH höhere Teilrente sowie darüber hinaus bis zum 30. September 1974 eine solche nach einer MdE um 20 vH zu zahlen (Urteil des SG vom 23. August 1977). Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte die beklagte, bis auf weiteres eine Dauerrente nach einer MdE von 20 vH zu gewähren (Urteil vom 26. April 1978). In Ausführung dieser rechtskräftigen Entscheidungen eröffnete die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 1. Juni 1978, ihm stünde eine Nachzahlung beginnend ab 11. November 1973 in Höhe von 11.197,20 DM zu; außerdem erhalte er ab 1. Juli 1978 laufende Rentenzahlungen. Sie wies die rückständige Leistung am 5. Juni 1978 zur Zahlung an. Den Antrag des Klägers, den Nachzahlungsbetrag vom 1. Januar 1978 an zu verzinsen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 30. Oktober 1978).
Mit der Klage verfolgt der Kläger diesen Antrag weiter. Das SG hat die Beklagte entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Klageantrag verurteilt "die dem Kläger für die ihm gemäß Urteil des LSG vom 26. April 1978 zustehende Nachzahlung an Verletztenrente für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 1978 Zinsen in Höhe von 4 vH zu zahlen". Auf die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verpflichtet, die dem Kläger ab Oktober 1974 zustehenden Rentenzahlbeträge ab 1. Januar 1979 bis 30. April 1978 in modifizierter Form zu verzinsen. In der Begründung heißt es hierzu unter anderem: Der Kläger habe mit der von ihm unterzeichneten Unfallschilderung vom 13. Dezember 1973 gleichzeitig einen Rentenantrag gestellt. Die von November 1973 an fälligen und nicht verjährten Rentenleistungen seien ab 1. Januar 1978 mit 4 vH zu verzinsen. Jedoch habe der Kläger im Klageverfahren lediglich die Verzinsung der ihm durch Urteil des LSG zustehenden Nachzahlung der Verletztenrente beantragt. Der Tenor des LSG-Urteils betreffe nur die Rentenleistungen ab 1. Oktober 1974. Demgemäß sei die Beklagte nur gehalten, die ab diesem Zeitpunkt aufgelaufenen Rentenbeträge zu verzinsen.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 44 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I). Sie meint, ein vollständiger Leistungsantrag des Klägers habe nicht vorgelegen. Aufgrund dessen beginne die Verzinsung nach Ablauf eines Kalendermonats nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung. Vor Ablauf dieser Monatsfrist sei dem Kläger die Nachzahlung zugegangen.
Die Beklagte beantragt,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß die in seinem Tenor genannten rückständigen Rentenleistungen des Klägers vom 1. Januar 1978 an in Höhe des jeweils fälligen Zahlbetrages einschließlich der bis zum 1. Januar 1978 aufgelaufenen Leistungen zu verzinsen sind.
Grundlage des erhobenen Anspruchs ist § 44 Abs 1 SGB I. Danach sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit 4 vH zu verzinsen. Die Zinspflicht der Beklagten erstreckt sich nicht nur auf die vom 1. Januar 1978 an fällig gewordenen Leistungen, sondern auch auf diejenigen, die bereits vor diesem Zeitpunkt zu erfüllen waren. § 44 SGB I ist zwar erst am 1. Januar 1978 in Kraft getreten. Nach der Übergangsvorschrift des Art II § 23 Abs 2 Satz 2 SGB I gilt die Zinsregelung aber auch für die vor diesem Zeitpunkt fällig gewordenen und noch nicht verjährten Ansprüche auf Geldleistungen, soweit das Verwaltungsverfahren hierüber zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist. Diese Voraussetzungen hat das LSG zu Recht als gegeben erachtet.
Wie der erkennende Senat in seinen Urteilen vom 19. September 1979 - 9 RV 68/78 - (SozR 1200 § 44 Nr 1) und 9 RV 70/78 sowie 9 RV 2/79 (Versorgungsbeamter 1980, 23) entschieden hat, ist das Verwaltungsverfahren im Sinne der vorgenannten Überleitungsvorschrift dann nicht mit dem Erlaß des Verwaltungsaktes (Leistungsbescheid) abgeschlossen, wenn dieser mit der Klage angefochten ist. Dieser Rechtsansprechung hat sich der 10. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 27. März 1980 - 10 RV 33/79 - (SozR 3641 § 4 Nr 1) angeschlossen. Sie gilt auch für Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG SozR 1200 § 44 Nr 3). An dem nach der Überleitungsvorschrift maßgeblichen Stichtag - 1. Januar 1978 - war noch ein sozialgerichtliches Verfahren anhängig, das den Rentenanspruch des Klägers zum Streitgegenstand hatte. Dieses Verfahren ist erst mit zusprechendem Urteil des LSG vom 26. April 1978 beendet worden. Danach ist der Ausführungsbescheid am 1. Juni 1978 ergangen. Gleichwohl meint die Beklagte, ihr obliege eine Verzinsung der dem Kläger zustehenden Rentenleistungen nicht; sie habe dem Kläger innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistungen die Nachzahlung zukommen lassen. Dies ist im Streitfalle für die Verzinsung nicht rechtserheblich.
Richtig ist, daß nach § 44 Abs 2 SGB I die Verzinsung frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrages beim zuständigen Leistungsträger beginnt, dagegen beim Fehlen eines Antrages erst nach Ablauf eines Kalendermonats nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung. Auf die zweite Alternative dieser Gesetzesvorschrift vermag die Beklagte nicht abzuheben. Das LSG hat die Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 13. Dezember 1973 (§ 1552 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) als vollständigen Leistungsantrag des Klägers (§ 1546 Abs 1 RVO) gewertet. Dafür sprechen gewichtige Gründe. Der Antrag bedarf allgemein keiner besonderen Form; er setzt nur eine auf Gewährung von Leistung gerichtete Willenserklärung voraus (vgl BSGE 2, 273, 275), die als solche auch erkennbar sein muß. Die vom Kläger mitunterzeichnete Unfallmeldung ist nach seinen eigenen Angaben gefertigt und von ihm unterzeichnet worden. Damit ist er seiner dem Unfallversicherungsträger gegenüber obliegenden Mitwirkungspflicht nachgekommen, die für die Leistungen erheblichen Tatsachen anzugeben (neuerdings § 60 Abs 1 Nr 1 SGB I). Zusätzlich könnte dies als Willenserklärung gedeutet werden, die nach dem geschilderten Sachverhalt sich ergebenden Leistungen erhalten zu wollen. Dafür ließe sich insbesondere anführen, daß die dem Unfallversicherungsträger gegenüber gegebene Sachverhaltsschilderung nicht einem Selbstzweck dient. Sie löst vielmehr uU - und so auch im vorliegenden Fall - Rechtsfolgen zugunsten desjenigen aus, der die für die Anspruchsgrundlage erforderlichen Tatsachen zur Kenntnis gebracht hat. Der nunmehr geltende § 44 Abs 2 1. Alternative SGB I spricht von einem vollständigen Leistungsantrag. Darunter versteht man nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 17. November 1981 - 9 RV 26/81 - (zur Veröffentlichung bestimmt) ein Leistungsbegehren, mit dem der Sachverhalt vollständig dargelegt wird, um die im Gesetz bestimmten Voraussetzungen für einen Anspruch auf Sozialleistungen überprüfen und sein Entstehen feststellen zu können. Die Darlegung des Sachverhalts dienst also gerade der Verwirklichung der dem Kläger zustehenden sozialen Rechte (§ 2 Abs 2 letzter Halbsatz SGB I). Es erscheint deshalb als angezeigt, darin einen Leistungsantrag zu sehen. Indessen mag dies letztlich dahingestellt bleiben. Der Kläger hatte die Unfallrente mit einem bei der Beklagten am 28. Juni 1975 eingegangenen Schreiben angemahnt. Infolgedessen liegt jedenfalls in diesem Schreiben eine solche Antragstellung vor. Der Kläger hatte unmißverständlich sein Begehren zum Ausdruck gebracht, Unfallrente erhalten zu wollen. Daß unabhängig davon die Beklagte bereit war, dem Kläger Rentenleistungen zukommen zu lassen, wie sie vorträgt, vermag an der Wirksamkeit der Antragstellung nichts zu ändern.
Dieser Lösung steht nicht entgegen, daß der Unfallversicherungsträger die Leistungen von Amts wegen festzustellen hat (§ 1545 Nr 1 RVO). Dadurch wird der Versicherte nicht gehindert, selbst einen vollständigen Leistungsantrag zu stellen. Liegt ein solcher vor, ist die Verzinsung der Geldleistung allein danach zu bemessen (BSG SozR 1200 § 44 Nr 3).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen