Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Auskunftspflicht Dritter. Auskunftsverlangen gegenüber einem Unterhaltspflichtigen. Ermessensentscheidung. maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Nichtvorliegen eines Leistungsfalles. keine Personenidentität zwischen Leistungsberechtigtem und Anspruchsinhaber. Kindergeldüberhang
Leitsatz (amtlich)
Die Auskunftspflicht gegenüber dem Jobcenter seitens des Schuldners eines SGB II-Antragstellers besteht nicht im Fall eines Anspruchsübergangs wegen des sog Kindergeldüberhangs.
Orientierungssatz
1. Die Berechtigung zur Einholung von Auskünften folgt für die Behörde aus § 60 Abs 2 SGB 2 iVm § 21 Abs 1 S 1, S 2 Nr 1 SGB 10 und stellt insgesamt eine Ermessensentscheidung der Behörde dar.
2. Bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen, die mit einer reinen Anfechtungsklage angefochten werden, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage immer der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, weil das Gericht seine eigenen Erwägungen und neuere Erkenntnisse nicht an die Stelle derjenigen der Verwaltung setzen darf und eine Verpflichtung der Behörde zur Neubescheidung aufgrund des auf die Aufhebung des Verwaltungsakts gerichteten Streitgegenstandes ausscheidet.
Normenkette
SGG § 54 Abs. 1 S. 1; SGB 2 § 60 Abs. 2 S. 1 Alt. 1, § 11 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2003-12-24, S. 2 Fassung: 2006-03-24, S. 3 Fassung: 2003-12-24, § 33 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2008-12-21, S. 2 Fassung: 2008-12-21, S. 4; SGB 10 § 20 Abs. 1, § 21 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2003-12-24, S. 2 Nr. 1 Fassung: 2001-01-18; GG Art. 2 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. Juni 2014 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert wird für alle Instanzen auf 5000 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um das Bestehen und die Reichweite eines Auskunftsanspruchs des beklagten Jobcenters nach § 60 Abs 2 SGB II.
Der Kläger ist der Vater des im Jahr 1993 geborenen B. B. (im Folgenden: B) und war in der strittigen Zeit verpflichtet, diesem aufgrund eines familiengerichtlichen Vergleichs monatlichen Unterhalt in Höhe von 314 Euro zu zahlen (Amtsgericht ≪AG≫ Leipzig - 330 F 02199/08). Am 20.7.2010 beantragte die Kindesmutter B. S. (im Folgenden: S) für sich und den in ihrem Haushalt lebenden B Leistungen nach dem SGB II beim Beklagten. Daraufhin forderte der Beklagte, der den Unterhaltsvergleich kannte, den Kläger mit Bescheid vom 23.7.2010 auf, ihm bis zum 16.8.2010 Auskunft über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse nach § 60 Abs 2 SGB II zu geben. Dem Bescheid war ein Fragebogen beigefügt, der Felder für Angaben zur Person, zum Einkommen, zu berufsbedingten Aufwendungen sowie zu Kindern und eine eigene durchgehende Spalte mit der Überschrift "Ehegatte" enthielt. Den Antrag der S lehnte der Beklagte hinsichtlich des B ab, weil dessen Einkommen aus Unterhaltszahlungen, Kindergeld und Wohngeld zu hoch sei; der S hingegen bewilligte der Beklagte von September 2010 bis Februar 2011 Leistungen von circa 450 Euro monatlich unter Anrechnung des nicht von B zur Existenzsicherung benötigten Kindergeldes (sog Kindergeldüberhang). Dieser Bescheid vom 26.7.2010 wurde bestandskräftig. Der vom Kläger eingelegte Widerspruch gegen das Auskunftsbegehren wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 19.8.2010).
Das SG Dessau-Roßlau hat den Bescheid des Beklagten vom 23.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2010 aufgehoben (Urteil vom 8.8.2011). Die gegen das Urteil eingelegte Berufung des Beklagten hat das LSG Sachsen-Anhalt zurückgewiesen (Urteil vom 24.6.2014) und zur Begründung ua ausgeführt: Die Voraussetzungen für einen Auskunftsanspruch des Beklagten nach § 60 Abs 2 SGB II hätten nicht vorgelegen. B habe zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides keine SGB II-Leistungen bezogen. Eine erweiternde Auslegung und Anwendung der Vorschrift des § 60 Abs 2 SGB II im Hinblick auf Personen, die wegen des Kindergeldüberhangs keinen oder einen geringeren Leistungsanspruch nach dem SGB II hätten, komme nicht in Betracht. Das Auskunftsinteresse des Beklagten sei zudem unverhältnismäßig gewesen, weil die Auskunft nicht erforderlich gewesen sei.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 60 Abs 2 SGB II und trägt insbesondere vor: Da er der S Leistungen bewilligt habe, hätte bei einer Bedarfs- oder Einkommensänderung des B eine einfache Veränderungsmitteilung ausgereicht, um diesem Leistungen zu gewähren. Dies zeige, dass der bewilligte Antrag der S bis zum Ablauf des Bewilligungsabschnittes fortwirke. Im Übrigen sei die Vorschrift im Lichte des § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II erweiternd auszulegen. Danach würden Ansprüche auch dann auf den Leistungsträger übergehen, wenn ein SGB II-Leistungsanspruch des Unterhaltsberechtigten nur deshalb nicht bestehe, weil Kindergeld bei diesem habe angerechnet werden können. Der Gesetzgeber habe jedoch übersehen, die damit korrespondierenden Auskunftsrechte des Leistungsträgers in § 60 Abs 2 SGB II entsprechend anzupassen. Dass der Gesetzgeber die Auskunftspflichten lediglich zivilrechtlich habe ausgestalten wollen, könne nicht angenommen werden.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. Juni 2014 und des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 8. August 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des beklagten Jobcenters ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat zu Recht die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen, in dem dieses den Bescheid des Beklagten vom 23.7.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.8.2010 aufgehoben hat, weil die in dem Bescheid angeordnete Verpflichtung des Klägers zur Auskunftserteilung über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
1. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Der Kläger hat zurecht eine reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 SGG) erhoben. Einer Beiladung des B nach § 75 Abs 2 Alt 1 SGG bedurfte es nicht, weil im Auskunftsrechtsstreit zwischen dem Beklagten und dem unterhaltsverpflichteten Kläger keine Entscheidung getroffen wird, die auch gegenüber dem Unterhaltsberechtigten nur einheitlich ergehen könnte.
2. Als Rechtsgrundlage für das Auskunftsverlangen des Beklagten gegenüber dem Kläger als Unterhaltsschuldner kommt vorliegend nur § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II (in der am 19.8.2010 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006, BGBl I 1706) iVm § 21 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 1 SGB X (in der am 19.8.2010 geltenden Fassung des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts vom 5.5.2004, BGBl I 718) in Betracht, auf die der Beklagte auch seinen Bescheid gestützt hat.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die der gerichtlichen Entscheidung zugrundezulegende Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Erlass des Widerspruchsbescheids am 19.8.2010.
Für die Festlegung des maßgeblichen Zeitpunkts ist es unerheblich, dass es sich bei der Klage um eine reine Anfechtungsklage handelt. Denn der Rückgriff auf die Klageart zur Bestimmung der zugrundezulegenden Sach- und Rechtslage entspricht lediglich einer Faustregel mit praktisch einleuchtenden Ergebnissen, ist aber nicht Ausdruck eines abschließenden Rechtssatzes (BSG Urteil vom 2.5.2012 - B 11 AL 18/11 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 24 RdNr 26 mwN). Nach dieser Faustregel ist bei Anfechtungsklagen grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich (BSG Urteil vom 20.4.1993 - 2 RU 52/92 - SozR 3-1500 § 54 Nr 18 RdNr 15; BSG Urteil vom 22.9.2009 - B 2 U 32/08 R - SozR 4-1500 § 73 Nr 4 RdNr 17; BSG Urteil vom 29.4.2015 - B 14 AS 10/14 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 70 RdNr 16), es gibt jedoch Ausnahmen zB bei noch nicht vollzogenen Verwaltungsakten oder solchen mit Dauerwirkung (vgl schon BSG Urteil vom 28.3.1958 - 6 RKa 1/57 - BSGE 7, 129; in jüngerer Zeit etwa BSG Urteil vom 20.10.2004 - B 6 KA 67/03 R - BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 22; BSG Urteil vom 22.9.2009 - B 2 U 32/08 R - SozR 4-1500 § 73 Nr 4 RdNr 17).
Ob eine Ausnahme von der Faustregel vorliegt, kann dahinstehen, denn entscheidend für die Festlegung des für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkts der Sach- und Rechtslage ist letztlich das materielle Recht, nicht das Prozessrecht (BSG Urteil vom 13.3.1997 - 11 RAr 51/96 - SozR 3-4100 § 152 Nr 7 RdNr 23; BSG Urteil vom 2.5.2012 - B 11 AL 18/11 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 24 RdNr 26; ebenso BVerwG Beschluss vom 23.1.1989 - 4 B 132/88 - juris RdNr 5; BVerwG Beschluss vom 21.12.1989 - 7 B 21/89 - NVwZ 1990, 653), und nach diesem ist auf den Tag des Erlasses des Widerspruchsbescheides als letzte Verwaltungsentscheidung am 19.8.2010 abzustellen.
Denn materiell-rechtlich hat der Beklagte eine Ermessensentscheidung getroffen. Abzustellen ist für ein Auskunftsverlangen nicht nur auf § 60 Abs 2 SGB II, denn diese Vorschrift regelt lediglich die Auskunftspflicht der von der Behörde in Anspruch genommenen Personen (vgl Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 60 RdNr 5, Stand 12/2015) und ermöglicht erst den Eingriff in deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 60 RdNr 23, Stand 12/2015). Die Berechtigung zur Einholung von Auskünften folgt für die Behörde dagegen aus § 60 Abs 2 SGB II iVm § 21 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 1 SGB X und stellt insgesamt eine Ermessensentscheidung der Behörde dar ("nach pflichtgemäßem Ermessen"). Bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen, die mit der reinen Anfechtungsklage angefochten werden, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage immer der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, weil das Gericht seine eigenen Erwägungen und neuere Erkenntnisse nicht an die Stelle derjenigen der Verwaltung setzen darf (ebenso Castendiek in Lüdtke, SGG, 4. Aufl 2012, § 54 RdNr 101 f; Böttiger in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 54 RdNr 68) und eine Verpflichtung der Behörde zur Neubescheidung aufgrund des auf die Aufhebung des Verwaltungsakts gerichteten Streitgegenstands ausscheidet.
3. Der angefochtene Bescheid vom 23.7.2010 ist nicht wegen fehlender Anhörung des Klägers (§ 24 SGB X) schon formell rechtswidrig, weil diese durch das Widerspruchsverfahren, in dem sich der Kläger zu allen relevanten Punkten äußern konnte, geheilt worden ist (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X, vgl BSG Urteil vom 29.4.2015 - B 14 AS 10/14 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 70 RdNr 21).
4. Der Bescheid ist jedoch materiell rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II iVm § 21 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 1 SGB X nicht erfüllt sind.
Wer jemandem, der eine Leistung nach diesem Buch beantragt hat oder bezieht, zu Leistungen verpflichtet ist, die geeignet sind, Leistungen nach diesem Buch auszuschließen oder zu mindern, hat der Agentur für Arbeit auf Verlangen hierüber sowie über damit im Zusammenhang stehendes Einkommen oder Vermögen Auskunft zu erteilen, soweit es zur Durchführung der Aufgaben nach diesem Buch erforderlich ist (§ 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II). Ob die Behörde eine Auskunft einholt, richtet sich danach, ob sie die Auskunft nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält (§ 21 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 1 SGB X).
a) Als Leistungsverpflichtung, die geeignet ist, Leistungen nach dem SGB II auszuschließen oder zu mindern, bestand am 19.8.2010 - dem Tag des Erlasses des Widerspruchsbescheides - eine Unterhaltsverpflichtung des Klägers nach den für das Revisionsgericht bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG in Höhe von 314 Euro monatlich allein gegenüber dem B, nicht aber gegenüber der Kindesmutter S. Die grundsätzliche Eignung dieser Verpflichtung des Klägers, Leistungen nach dem SGB II auszuschließen oder zu mindern, folgt aus deren Berücksichtigung als Einkommen gemäß § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II.
b) Es fehlt jedoch der für die Anwendung des § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II erforderliche Leistungsfall. Dieser beginnt mit der Stellung des Antrags auf eine bestimmte Leistung und endet, wenn der Leistungsantrag abgelehnt oder zurückgenommen worden ist (BSG Urteil vom 4.6.2014 - B 14 AS 38/13 R- SozR 4-4200 § 60 Nr 2 RdNr 23; ebenso Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 60 RdNr 13, Stand 12/2015; Blüggel in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 60 RdNr 19; Stachnow-Meyerhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 60 RdNr 30). Wird eine Leistung bewilligt, so besteht die Auskunftspflicht grundsätzlich ohne zeitliche Begrenzung für die gesamte Dauer des Leistungsbezugs (BSG Urteil vom 4.6.2014 - B 14 AS 38/13 R - SozR 4-4200 § 60 Nr 2 RdNr 23).
Ein Leistungsbezug des B zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung am 19.8.2010 wurde vom LSG nicht festgestellt. Der von seiner Mutter auch für B (§ 38 SGB II) am 20.7.2010 gestellte Antrag auf Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II war am 19.8.2010 bereits abgelehnt worden (Bescheid vom 26.7.2010). Zwar war die Ablehnung noch nicht bestandskräftig, weil die Widerspruchsfrist von einem Monat (vgl 84 Abs 1 SGG) zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstrichen war. Auf den Eintritt der Bestandskraft der Ablehnung kommt es jedoch nicht an. Maßgeblich ist allein, ob im Zeitpunkt der Geltendmachung des Auskunftsverlangens ein Leistungsfall besteht. Mit der Ablehnung des Antrags ist dies nicht mehr der Fall. Dem Beklagten in dieser Situation gleichwohl einen Auskunftsanspruch gegenüber einem Dritten zuzubilligen mit der Folge, dass trotz fehlender Leistungsgewährung in das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Dritten eingegriffen wird, wäre nicht mehr verhältnismäßig. Sollte sich in einem etwaigen Widerspruchsverfahren hinsichtlich der Leistungsablehnung ergeben, dass Leistungen doch zu bewilligen sind, wäre dies eine neue Sachlage, die dann auch einen neuen Auskunftsanspruch zur Folge haben könnte, der dann aber erneut von dem Leistungsträger geltend gemacht werden müsste.
Insofern greift auch nicht der Einwand der Revision durch, im Falle einer Bedarfs- und Einkommensänderung des B hätte anstelle eines erneuten Leistungsantrags eine einfache Veränderungsmitteilung ausgereicht, um ihm entsprechende Leistungen zu gewähren, was zeige, dass insoweit der bewilligte Antrag der S jedenfalls bis zum Ablauf des Bewilligungsabschnittes fortwirke. Denn das Verwaltungsverfahren hinsichtlich des Leistungsantrags des B war durch dessen Ablehnung abgeschlossen. Das SGB II kennt keinen Anspruch einer Bedarfsgemeinschaft als Ganzes, selbst wenn dies in den Bescheiden des Beklagten nicht deutlich zum Ausdruck kommt (grundlegend BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 12), sondern ausschließlich Individualansprüche.
5. Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Leistungsbewilligung des Beklagten an die mit B in Haushaltsgemeinschaft lebende Mutter S, weil die Höhe dieser Leistungen wegen des Teils des Kindergeldes für B, der nicht für dessen Existenzsicherung benötigt wird und bei S als Einkommen zu berücksichtigen ist (§ 11 Abs 1 Satz 4, 3 SGB II - Kindergeldüberhang), von einem möglichen - weitergehenden - Unterhaltsanspruch des B gegen den Kläger abhängt, der auf den Beklagten nach § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II übergegangen sein kann.
a) § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II setzt tatbestandlich eine Ablehnung von Leistungen gegenüber dem unterhaltsberechtigten Kind für einen Rückgriff gegen den unterhaltsverpflichteten Dritten voraus. Die Rückgriffsmöglichkeit des § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II stellt damit eine Durchbrechung des - auch § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II zugrundeliegenden - Prinzips der Personenidentität dar, wonach Leistungsempfänger und Anspruchsinhaber ein und dieselbe Person sein müssen. Werden SGB II-Leistungen gegenüber dem Anspruchsinhaber (hier dem B) abgelehnt, so entfallen damit - wie zuvor ausgeführt - zugleich die Voraussetzungen für die Auskunftsverpflichtung des unterhaltsverpflichteten Dritten (hier des Klägers) nach § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II, sodass keine Auskunftspflicht mehr besteht, obwohl ein Rückgriff nach § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II tatbestandlich nun - beim Vorliegen weiterer Voraussetzungen - möglich wäre. Beide Normen ergänzen sich insofern nicht, sondern schließen sich tatbestandlich aus.
b) Entgegen der Revision kann § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II nicht erweiternd dahingehend ausgelegt werden, dass er auch die Einholung von Auskünften zur Prüfung und Vorbereitung von Rückgriffsansprüchen nach § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II entsprechend der dort vorgesehenen besonderen Fallgestaltung eines Anspruchsübergangs ermöglicht.
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und der Fachgerichte sind die Gerichte zur ergänzenden Rechtsfortbildung berechtigt und verpflichtet. Eine erweiternde, über den Wortlaut einer Vorschrift hinausgehende teleologische Auslegung kommt aber nur in Betracht, wenn Indizien deutlich belegen, dass der Sinn einer Norm im Text nur unzureichend Ausdruck gefunden hat und die weiteren Auslegungsmethoden den Sinn und Zweck der Norm und die mit ihr verfolgte Regelungsabsicht des Gesetzgebers freilegen. Eine solche Auslegung ist nicht bereits dann gerechtfertigt, wenn der vom Gesetzgeber beschlossene Normtext rechtspolitisch fehlerhaft erscheint, vielmehr muss die auf den Wortlaut abstellende Auslegung zu einem sinnwidrigen und vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führen (vgl nur BVerfG Urteil vom 27.1.1998 - 1 BvL 22/93 - BVerfGE 97, 186; BVerfG Urteil vom 19.6.1973 - 1 BvL 39/69, 1 BvL 14/72 - BVerfGE 35, 263; BSG Urteil vom 27.5. 2008 - B 2 U 11/07 R - BSGE 100, 243 = SozR 4-2700 § 150 Nr 3, RdNr 24 ff, 34).
c) Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Nichteinbeziehung des in § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II geregelten Falles in den Anwendungsbereich des § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II führt nicht zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten und sinnwidrigen Regelungslücke, die durch eine solche teleologische Auslegung geschlossen werden dürfte (Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 60 RdNr 24a, Stand: 12/2015).
aa) Zu den Aufgaben des Beklagten nach dem SGB II gehört auch die Sicherstellung des Nachrangs der Leistungen nach dem SGB II (vgl § 2 Abs 1, § 3 Abs 3, § 5 Abs 1 SGB II) durch die Geltendmachung der nach § 33 SGB II auf den Leistungsträger übergegangenen Ansprüche gegenüber Dritten (vgl BT-Drucks 16/1410 S 26). Haben Personen, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen, für die Zeit, für die Leistungen erbracht werden, einen Anspruch gegen einen Anderen, der nicht Leistungsträger ist, geht der Anspruch gemäß § 33 Abs 1 Satz 1 SGB II bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen auf die Träger der Leistungen nach dem SGB II über, wenn bei rechtzeitiger Leistung des Anderen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht erbracht worden wären. Diese Regelung gilt auch, soweit Kinder unter Berücksichtigung von Kindergeld nach § 11 Abs 1 Satz 4 - früher Satz 3 - SGB II keine Leistungen empfangen haben und bei rechtzeitiger Leistung des Anderen keine oder geringere Leistungen an die Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft erbracht worden wären (§ 33 Abs 1 Satz 2 SGB II).
§ 33 SGB II insgesamt dient mit dem Ziel der Sicherung des Nachrangs der Refinanzierung bereits erbrachter Sozialleistungen (Link in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 33 RdNr 1; Fügemann in Hauck/Noftz, SGB II, K § 33 RdNr 16, Stand 11/2013; Grote-Seifert in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 33 RdNr 21). Dadurch soll im Anschluss an eine zeitgerechte bedarfsdeckende Leistungsgewährung die wirtschaftliche Zuordnung im Hinblick auf nichtverwirklichte zivilrechtliche Ansprüche des Leistungsempfängers zugunsten der Solidargemeinschaft korrigiert werden. Die Vorschrift setzte - bis zur Einfügung des Satzes 2 in § 33 Abs 1 SGB II zum 1.1.2009 (durch das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21.12.2008, BGBl I 2917) - Personenidentität zwischen Leistungsempfänger und Anspruchsinhaber voraus.
Eine Ausnahme vom Erfordernis der Personenidentität bei Anspruchsübergang hat der Gesetzgeber mit der Einfügung von § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II mit Wirkung zum 1.1.2009 (durch das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21.12.2008, BGBl I 2917) lediglich für den Fall vorgesehen, dass Kinder unter Berücksichtigung von Kindergeld nach § 11 Abs 1 Satz 3 SGB II keine Leistungen empfangen haben. Nur in diesem Ausnahmefall setzt ein Anspruchsübergang eine Personenidentität von Anspruchsinhaber und Leistungsempfänger nicht voraus (vgl BGH Urteil vom 1.12.2010 - XII ZR 19/09 - FamRZ 2011, 197; vgl zu weitergehenden, aber im Gesetzgebungsverfahren abgelehnten Vorschlägen BT-Drucks 16/10810 S 20, 49, BT-Drucks 16/11233 S 8, 17).
bb) Zweck der Auskunftsverpflichtung nach § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II ist ebenfalls die Sicherung des Nachrangs. Sie steht verfahrensrechtlich im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgrundsatz nach § 20 Abs 1 SGB X und dient der Prüfung von Leistungsverpflichtungen, um entweder auf die Durchsetzung von Ansprüchen im Wege der Selbsthilfe zu verweisen oder einen Erstattungsanspruch nach § 33 SGB II geltend zu machen (BSG Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 87/09 R - BSGE 107, 255 = SozR 4-4200 § 60 Nr 1, RdNr 18). Die Vorschrift lehnt sich an § 315 SGB III an (vgl BT-Drucks 15/1516 S 66) und setzt wie diese Regelung konzeptionell eine Personenidentität zwischen dem Inhaber des Anspruchs gegen den Dritten und dem Antragsteller oder Leistungsbezieher nach dem SGB II voraus.
Das Erfordernis der Personenidentität dient im Rahmen des § 60 SGB II dem Schutz des leistungsverpflichteten Dritten. Es begrenzt dessen Auskunftspflicht, die als Eingriff in dessen informationelles Selbstbestimmungsrecht verhältnismäßig sein muss, um gerechtfertigt zu sein. Eine erweiternde Auslegung durch Verzicht auf das Erfordernis der Personenidentität würde die Grenzen der Auskunftspflicht des § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II konturenlos werden lassen mit der Folge, dass die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das informationelle Selbstbestimmungsrecht nicht mehr gegeben wäre.
Ein Festhalten an dem Erfordernis der Personenidentität im Rahmen der geltenden Fassung des § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II als Voraussetzung für ein Auskunftsverlangen gegenüber einem leistungsverpflichteten Dritten führt nicht zu einer nicht gewollten und sinnwidrigen Regelungslücke im Hinblick auf den seit dem 1.1.2009 möglichen Anspruchsübergang nach § 33 Abs 1 Satz 2 SGB II. Schon vor dessen Einfügung hatte der Gesetzgeber bereits geregelt, dass der unterhaltsrechtliche Auskunftsanspruch mit dem Übergang des Unterhaltsanspruchs übergeht (vgl § 33 Abs 1 Satz 4 SGB II idF des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Abreitsuchende vom 20.7.2006, BGBl I 1706). Der Leistungsträger wird also auch ohne erweiternde Auslegung des § 60 Abs 2 Satz 1 Alt 1 SGB II in die Lage versetzt, sich die erforderlichen Auskünfte zu beschaffen, wofür er jedoch den Zivilrechtsweg beschreiten muss (vgl § 33 Abs 4 Satz 3 SGB II).
6. Andere öffentlich-rechtliche Rechtsgrundlagen, auf die das Auskunftsbegehren hätte gestützt werden können, sind nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere für § 99 SGB X, da § 60 SGB II die Einholung der zur Durchführung des SGB II benötigten Auskünfte Dritter - mit Ausnahme von Arbeitgebern (vgl zu diesen §§ 57 f SGB II) - abschließend regelt und insoweit eine abweichende Regelung iS des § 37 Satz 1 SGB I darstellt (BSG Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 87/09 R - BSGE 107, 255 = SozR 4-4200 § 60 Nr 1, RdNr 24).
7. Die Geltendmachung eines zivilrechtlichen Auskunftsanspruchs, der nach § 33 Abs 1 Satz 4 SGB II im Zusammenhang mit einem etwaigen weitergehenden zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch des B gegen den Kläger auf den Beklagten übergegangen sein könnte, war nicht Gegenstand des angefochtenen Bescheids vom 23.7.2010 und könnte auch nicht Rechtsgrundlage für einen mittels Verwaltungsakt geltend gemachten Auskunftsanspruch sein. Denn er verändert durch die Legalzession seinen zivilrechtlichen Charakter nicht und ist daher auch nur zivilprozessual durchsetzbar (vgl § 33 Abs 4 Satz 3 SGB II).
8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung; weder der Kläger noch der Beklagte gehören zu den in § 183 SGG genannten Personen.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG iVm § 52 Abs 1, 2, § 47 Gerichtskostengesetz und mangels genügender Anhaltspunkte für den Wert des Auskunftsverlangens war der Auffangstreitwert von 5000 Euro einheitlich für alle Instanzen zugrundezulegen.
Fundstellen
NJW 2016, 10 |
NJW 2017, 590 |
FamRZ 2016, 1854 |
ZAP 2017, 17 |
FEVS 2017, 251 |
NDV-RD 2017, 14 |
NZS 2016, 873 |
SGb 2016, 519 |
ZfF 2016, 235 |
ZfSH/SGB 2017, 31 |
NZFam 2016, 1055 |
info-also 2016, 234 |