Orientierungssatz
SGG § 141 Abs 2 ergreift nicht nur die Fälle, in denen das Gericht die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung als unbegründet ansieht und deshalb der Klage stattgibt; die Vorschrift umfaßt auch den Fall, daß das Gericht die Klage abweist, weil es Forderung und Gegenforderung für begründet hält und deshalb als durch die Aufrechnung verbraucht ansieht.
Normenkette
SGG § 141 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. März 1962 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Kläger beziehen seit dem 1. Januar 1957 die Hinterbliebenenrenten aus der Versicherung des 1953 durch Kraftfahrzeugunfall ums Leben gekommenen Viktor Fischer. Gegen die Ansprüche auf Rentenleistungen für die Zeit vom 1. November 1957 bis 31. August 1961 hat die Beklagte mit einem ihr angeblich zustehenden Ersatzanspruch aufgerechnet. Sie begründet den Ersatzanspruch damit, daß die Kläger durch einen Vergleich vom 1. Dezember 1956 mit der Privatversicherung des Schädigers (Mannheimer Versicherungsgesellschaft) auch für Ansprüche abgefunden worden seien, die nach § 77 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in Verbindung mit § 1542 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf sie, die Beklagte, übergegangen seien. Die Kläger hätten also Leistungen erhalten, die nicht ihnen, sondern der Beklagten zugestanden hätten (Bescheid vom 26. September 1957).
Die Kläger bestreiten, daß der Beklagten eine Ersatzforderung zustehe.
Das Sozialgericht (SG) Konstanz gab den Klagen statt (Urteil vom 29. Mai 1958). Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg dieses Urteil auf (Urteil vom 27. März 1962). Es war der Auffassung, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zur Entscheidung über Ersatzforderungen der Versicherungsträger befugt seien. Der Ersatzanspruch beruhe auf dem bestehenden Versicherungsverhältnis; er könne deshalb auch im Wege der Aufrechnung durch Verwaltungsakt geltend gemacht werden. Der Streit hierüber sei eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Der Ersatzanspruch der Beklagten sei auch sachlich begründet und die Aufrechnung wirksam.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragen die Kläger sinngemäß,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 27. März 1962 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Konstanz vom 28. Oktober 1957 zurückzuweisen.
Sie rügen eine Verletzung der §§ 49, 50 AVG aF, 1542 RVO, §§ 77, 78 AVG nF und § 1300 RVO.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist zulässig und begründet. Wie das LSG zutreffend angenommen hat, ist für die Klage gegen den Aufrechnungsbescheid der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben. Dies folgt schon daraus, daß mit diesem Bescheid den Klägern die Renten für einen bestimmten Zeitraum vorenthalten werden und Rentenansprüche zu dem in § 51 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) den Sozialgerichten zugewiesenen Angelegenheiten gehören. Die Begründetheit der von der Beklagten zur Aufrechnung gestellten Gegenforderung ist insoweit nur eine Vorfrage, die die Zuständigkeit der Sozialgerichte für die vorliegende Klage nicht berührt.
Das LSG hat jedoch den Rahmen seiner Entscheidungsbefugnis überschritten, indem es auch über die Begründetheit der umstrittenen Gegenforderung entschieden hat. Ersatzforderungen der streitigen Art sind - wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 26. Juni 1963 - 1 RA 21/60 - BSG 19, 207) - privatrechtliche Ansprüche; Streitigkeiten über solche Ansprüche gehören in die Zuständigkeit der Zivilgerichte. § 78 AVG begründet die Ansprüche nicht, sondern setzt ihr Entstehen und Bestehen nach anderen Rechtsvorschriften voraus. Sie sind auch sonst im System des Sozialversicherungsrechts nirgends vorgesehen. Sie entstehen nicht aus dem Versicherungsverhältnis, sondern daraus, daß der Versicherte über einen privatrechtlichen Schadensersatzanspruch, der dem Versicherungsträger zustand, wirksam verfügt und den Anspruch damit beeinträchtigt hat. Zwar sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht grundsätzlich gehindert, auch Fragen aus dem Bereich anderer Gerichtsbarkeiten zu entscheiden, wenn sie sich als Vorfrage stellen. Das gilt jedoch nicht ausnahmslos auch hinsichtlich der Aufrechnung, weil nach § 141 Abs. 2 SGG die Entscheidung, daß die Gegenforderung nicht besteht, bis zur Höhe des Betrages, für den die Aufrechnung geltend gemacht worden ist, der Rechtskraft fähig ist und die Gegenforderung damit einer Nachprüfung im ordentlichen Rechtsweg entzogen wäre (vgl. BSG aaO und zu dem gleichlautenden § 322 Abs. 2 ZPO: BGHZ 16, 124, 127; 40, 338). § 141 Abs. 2 SGG ergreift - obwohl der Wortlaut auf den ersten Blick diesen Eindruck erweckt - nicht nur die Fälle, in denen das Gericht die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung als unbegründet ansieht und deshalb der Klage stattgibt. Nach herrschender Meinung umfaßt sie auch den hier vorliegenden Fall, daß das Gericht die Klage abweist, weil es Forderung und Gegenforderung für begründet hält und deshalb als durch die Aufrechnung verbraucht ansieht (vgl. RGZ 161, 171; Peters/Sautter/Wolff § 141 Anm. 3 b, cc; Baumbach/Lauterbach, 26. Aufl. § 322 Anm. 3). Der Senat sieht keinen Anlaß, hiervon abzugehen. Er hält an der in seiner früheren Entscheidung geäußerten Auffassung auch entgegen der Kritik von Tannen in "Deutsche Rentenversicherung" 1964 S. 65, 66 fest. Wenn hier gesagt ist, § 78 AVG sei ein Gesetz im Sinne von § 51 Abs. 3 SGG, das die der Rechtsnatur nach privatrechtliche Ersatzforderung des Versicherungsträgers zur Durchsetzung der Aufrechnung verfahrensrechtlich dem öffentlichen Recht zugewiesen habe, so verkennt diese Auffassung, daß § 51 Abs. 3 SGG nach Wortlaut und Sinn nur die Zuweisung von (sonstigen) öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten an die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit betrifft und daß die Aufnahme der Ersatzforderung in den Katalog aufrechenbarer Ansprüche nach § 78 AVG an ihrer privatrechtlichen Natur nichts ändert. Deshalb können im Streitfalle die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über das Bestehen der Ersatzforderung nicht selbständig entscheiden.
Die im Prozeß auftretenden verfahrensmäßigen Schwierigkeiten sind nach der Auffassung des Senats dadurch zu lösen, daß das Gericht das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die umstrittene Gegenforderung aussetzt. § 114 SGG (der die Aussetzung regelt) nennt zwar diesen Fall nicht. Diese Vorschrift bestimmt aber nur, inwieweit dem Gericht ein Ermessen eingeräumt ist, das Verfahren auszusetzen, und schließt deshalb eine Aussetzung dort nicht aus, wo prozeßrechtliche Grundsätze hierzu zwingen (vgl. BSG aaO; BGH aaO). Wie der Senat bereits entschieden hat, kann in diesen Fällen das Gericht dem aufrechnenden Beteiligten, hier also der Beklagten, bei der Aussetzung des Rechtsstreits eine Frist zur Erhebung der Klage vor dem anderen Gericht setzen. Läßt sie die ihr auferlegte Frist ungenützt verstreichen, so kann das Gericht das Vorhandensein einer Gegenforderung als nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast nicht erwiesen behandeln und ohne Rücksicht auf sie der Klage stattgeben. Durch eine Entscheidung dieses Inhalts, die keine Rechtskraftwirkung nach § 141 Abs. 2 SGG hat, wird die Beklagte nicht gehindert, die behauptete Gegenforderung etwa später noch beim Zivilgericht einzuklagen.
Weil das LSG seine Entscheidungsbefugnis überschritten hat, muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Das Revisionsgericht kann den Rechtsstreit in der angegebenen Richtung nicht selbst weiterbehandeln, weil neue - nach der Aussetzung des Verfahrens eintretende - Tatsachen in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden könnten. Es ist deshalb erforderlich, von der in § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG gegebenen Möglichkeit der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht Gebrauch zu machen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem endgültigen Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen