Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 14.07.1995; Aktenzeichen L 10 Ar 43/94)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 14. Juli 1995 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Revision betrifft die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 29. März bis 27. April 1993 und die Rückforderung der für diesen Zeitraum erbrachten Leistungen in Höhe von 1.006,20 DM.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger aufgrund einer Arbeitslosmeldung und Antragstellung am 10. Januar 1992 Alg ab diesem Tag (Bescheid vom 23. Januar 1992, Änderungsbescheid vom 31. März 1992). Im Wege eines Datenabgleichs erhielt die Beklagte Ende Juli 1993 davon Kenntnis, daß der Kläger in der Zeit vom 12. bis 28. März 1993 als Wachinspektor (mehr als kurzzeitig) beschäftigt war. Daraufhin hob sie mit Bescheid vom 25. August 1993 die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 12. bis 27. März (Samstag) 1993 auf und forderte das in dieser Zeit gezahlte Alg in Höhe von 541,80 DM zurück, weil der Kläger die Arbeitsaufnahme nicht mitgeteilt habe. Mit weiterem Bescheid vom selben Tage hob sie die Alg-Bewilligung auch für die Zeit vom 29. März bis 27. April 1993 auf und forderte die insoweit gezahlte Leistung in Höhe von 1.006,20 DM zurück, weil sich der Kläger nach der Arbeitsaufnahme erst am 28. April 1993 im Arbeitsamt (ArbA) gemeldet habe.

Der Widerspruch des Klägers, mit dem er ausschließlich die Aufhebung und Erstattung von Alg für die Zeit vom 29. März bis 27. April 1993 beanstandete, hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1993). Das Sozialgericht (SG) hat den angefochtenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 6. Mai 1994). Die Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 14. Juli 1995). Zur Begründung ist ausgeführt worden, daß nach der Zwischenbeschäftigung vom 12. bis 28. März 1993 eine erneute Arbeitslosmeldung nicht erforderlich gewesen sei, so daß diese – allein streitige – Leistungsvoraussetzung ebenfalls für die Zeit ab 29. März 1993 erfüllt gewesen sei.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 100 und 105 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) iVm § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Sie trägt vor, die bei erstmaligem Eintritt der Arbeitslosigkeit vorgenommene Arbeitslosmeldung entfalte Wirksamkeit nur für diesen eingetretenen Versicherungsfall bis zu dessen Beendigung durch eine Beschäftigungsaufnahme. Bei jeder erneut eintretenden Arbeitslosigkeit habe die Arbeitslosmeldung erneut zu erfolgen, um wieder Alg beziehen zu können.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat keinen Antrag gestellt und in der Sache nicht Stellung genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist iS der Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 25. August 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1993, mit dem die Beklagte die Alg-Bewilligung für die Zeit vom 29. März bis 27. April 1993 aufgehoben und die für diese Zeit gezahlten Leistungen in Höhe von 1.006,20 DM zurückgefordert hat. Nicht angefochten hat der Kläger den weiteren Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom selben Tag, der den vorhergehenden Leistungszeitraum vom 12. bis 27. März 1993 betraf.

In der Sache ergeben die Entscheidungsgründe des LSG zwar eine Verletzung der §§ 100, 105 AFG. Gleichwohl kann sich die Entscheidung aber aus anderen Gründen als richtig erweisen. Insoweit reichen die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht für eine abschließende Bewertung der Frage aus, ob die Beklagte die Alg-Bewilligung für den streitigen Zeitraum aufheben und die Erstattung der insoweit gewährten Leistungen verlangen durfte.

Die materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Leistungsbewilligung beurteilt sich nach § 48 SGB X, ggf iVm § 152 Abs 3 AFG (idF des Art 1 Nr 50 des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms ≪1. SKWPG≫ vom 21. Dezember 1993 – BGBl I 2353). Nach § 48 Abs 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt (Satz 1). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Satz 2 Nr. 2). Die Bestimmung des § 152 Abs 3 AFG modifiziert § 48 SGB X wie folgt: Liegen die in § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X genannten Voraussetzungen für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vor, ist dieser mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben.

Die Bewilligung von Alg erfolgte durch Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (vgl hierzu etwa BSG SozR 4100 § 138 Nr 25; BSGE 66, 134, 136 = SozR 3-4100 § 138 Nr 1). Nach den bisherigen Feststellungen des LSG erfolgte die Bewilligung ab 10. Januar 1992 durch den Bescheid vom 23. Januar 1992 und den Änderungsbescheid vom 31. März 1992. Etwaige weitere Folgebescheide hat das LSG nicht benannt. Es wird bei seiner erneuten Entscheidung jedoch Anlaß zu der Prüfung haben, ob vor Eintritt der hier zu beurteilenden Änderung im März 1993 noch weitere Bewilligungsbescheide ergangen sind, so daß diese, nicht aber die vom LSG aufgeführten Bescheide Rechtsgrundlage für die Gewährung von Alg im hier streitigen Zeitraum gewesen sein können.

Die erforderliche wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die beim Erlaß der – vom Senat zu berücksichtigenden – Bescheide vom 23. Januar und 31. März 1992 vorgelegen haben, ist darin zu erblicken, daß die Voraussetzungen für die Gewährung von Alg ab 12. März 1993 entfallen sind. Ab diesem Zeitpunkt stimmte die Leistungsbewilligung mit dem materiellen Recht nicht mehr überein (§ 100 Abs 1 AFG). Hiernach hat Anspruch auf Alg, wer arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, die Anwartschaftszeit erfüllt, sich beim ArbA arbeitslos gemeldet und Alg beantragt hat. Diese Anspruchsvoraussetzungen waren mit der Aufnahme der (mehr als kurzzeitigen) Beschäftigung am 12. März 1993 nicht mehr gegeben. Der Kläger war ab diesem Zeitpunkt weder arbeitslos (§ 101 AFG) noch verfügbar (§ 103 AFG). Darüber hinaus hat seine (zuvor erfolgte) Arbeitslosmeldung (§ 105 AFG) mit der Beschäftigungsaufnahme ihre Wirksamkeit verloren. Das ergibt sich aus dem Wesen der Arbeitslosmeldung.

Schon den Überschriften des Ersten und Zweiten Unterabschnitts des Vierten Abschnitts des AFG ist zu entnehmen, daß die Gewährung von Alg und Arbeitslosenhilfe (Alhi) der Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit dient (“Leistungen der Arbeitslosenversicherung”). Demgemäß bezieht sich die Arbeitslosmeldung, die materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung und Tatsachenerklärung zugleich ist (BSGE 60, 43, 45 = SozR 4100 § 105 Nr 2; BSG SozR 1300 § 28 Nr 7; Hennig/Kühl/Heuer/Henke, Komm zum AFG, Stand Juni 1996, § 100 Anm 5 und § 105 Rzn 6 ff), nicht allein auf die Vermittlungstätigkeit der Beklagten; sie dient zumindest auch der Anzeige des Eintritts des Leistungsfalles der Arbeitslosigkeit. Dies bedeutet einerseits, daß eine nicht der Wahrheit entsprechende Arbeitslosmeldung (Arbeitslosmeldung trotz bestehenden Beschäftigungsverhältnisses) als unwirksam anzusehen sein dürfte (BSG, Urteil vom 14. Dezember 1995 – 11 RAr 75/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen, und Urteil vom 21. März 1996 – 11 RAr 93/95 –, unveröffentlicht, jeweils mwN). Dies führt andererseits dazu, daß sich die Arbeitslosmeldung (im Fall tatsächlich eintretender Arbeitslosigkeit) in ihrer Wirkung auf die Dauer der tatsächlich eingetretenen Arbeitslosigkeit beschränkt. Aus diesem Grund bedarf es im Anschluß an eine die Arbeitslosigkeit ausschließende Beschäftigung – entgegen der Ansicht des LSG – nicht einer sog Gegenerklärung (“negativen Arbeitslosmeldung”), um eine frühere Arbeitslosmeldung hinfällig zu machen. Vielmehr ist in einem solchen Fall ein Leistungsanspruch erst (wieder) gegeben, wenn alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, darunter die Arbeitslosmeldung. Darauf hat der erkennende Senat für den Bereich der Alhi bereits in seiner Entscheidung vom 21. Juli 1977 – 7 RAr 132/75 – hingewiesen (BSGE 44, 164, 173 = SozR 4100 § 134 Nr 3). Ob in Fällen der vorliegenden Art – anders als im zitierten Fall – uneingeschränkt auch ein neuer Leistungsantrag zu fordern ist, läßt der Senat ausdrücklich offen; denn darauf kommt es nicht an, wenn schon die erforderliche Arbeitslosmeldung fehlt.

Demgemäß kann sich der Kläger nicht mit Erfolg auf § 151 Abs 2 AFG aF (= § 151 AFG in der ab 21. Mai 1996 geltenden Fassung; vgl Art 4 und 6 Abs 1 des Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 2. Mai 1996 – BGBl I 656) berufen. Danach darf die Leistung, wenn die Entscheidung über die Bewilligung einer laufenden Leistung ganz aufgehoben worden ist, von neuem nur gewährt werden darf, wenn sie erneut beantragt ist. Diese Regelung bezieht sich schon ihrem Wortlaut nach lediglich auf den Leistungsantrag; sie trifft keine Aussage zum Fortbestand einer Arbeitslosmeldung im Fall einer die Arbeitslosigkeit beendenden Beschäftigung. Deshalb steht auch das Urteil des erkennenden Senats vom 17. März 1981 – 7 RAr 20/80 – (DBIR Nr 2529 zu § 151 AFG) zur vorerwähnten Rechtsauffassung des Senats nicht in Widerspruch. Denn es betrifft einerseits den vorübergehenden Wegfall der Verfügbarkeit (nicht der Arbeitslosigkeit) und andererseits die Frage, inwieweit im Anschluß daran gemäß § 151 Abs 2 AFG aF ein neuer Leistungsantrag erforderlich ist, nicht aber die Erforderlichkeit erneuter Arbeitslosmeldung im Zusammenhang mit dem Eintritt eines neuen Leistungsfalles bzw erneuter Arbeitslosigkeit.

Die dargelegte Rechtssituation ist nicht so unbillig, wie der Kläger anzunehmen scheint; denn sie gewährleistet, daß derjenige, der den ihm gesetzlich auferlegten Mitteilungspflichten nicht nachkommt, nicht anders als derjenige behandelt wird, der seinen Pflichtenkreis ordnungsgemäß wahrnimmt.

Zwischenzeitlich hat sich der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) der Ansicht des erkennenden Senats sowohl für den Bereich des Alg (Urteil vom 14. Dezember 1995, aaO) als auch für den Bereich der Alhi (Urteil vom 21. März 1996, aaO) angeschlossen. Dies bestärkt den erkennenden Senat in der Überzeugung, an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten.

Vorliegend ist jedenfalls bis zum Ablauf des 27. April 1993 kein erneuter Leistungsfall eingetreten. Zwar ist der Kläger am 29. März 1993 wieder arbeitslos geworden. Möglicherweise war zu diesem Zeitpunkt auch die Voraussetzung der Verfügbarkeit wieder erfüllt. Indes fehlte es – abgesehen von der Antragstellung – an einer erneuten Arbeitslosmeldung. Diese erfolgte nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG erst am 28. April 1993.

Ist sonach in den tatsächlichen Verhältnissen, die im Zeitpunkt der Alg-Bewilligung vorgelegen haben, am 12. März 1993 eine wesentliche Änderung eingetreten, die sich bis zum 27. April 1993 fortgesetzt hat, ist für die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Alg-Bewilligung entscheidungserheblich, ob am 12. März 1993, nicht etwa am 29. März 1993, in der Person des Klägers die oben zu § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X genannten Voraussetzungen verwirklicht waren. Hierzu hat das LSG – aus seiner Sicht zu Recht – keine Tatsachenfeststellungen getroffen. Der erkennende Senat darf dies nicht selbst nachholen, weshalb das zweitinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG ua darauf zu achten haben, daß im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X nicht ein objektiver, sondern ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen ist (vgl hierzu etwa BSG, Urteile vom 25. April 1990 – 7 RAr 20/89 – und 14. September 1995 – 7 RAr 14/95 –, beide unveröffentlicht; Hauck/Haines, SGB X/1, 2, Stand August 1995, § 45 Rz 23, § 48 Rz 21). Der Prüfung dieser Voraussetzung ist das LSG nicht etwa deshalb enthoben, weil der angefochtene Bescheid bezüglich des Zeitraumes vom 12. bis 27. März 1993 bestandskräftig geworden ist. Denn die Bindungswirkung dieses Bescheides erstreckt sich nur auf seinen Verfügungssatz, nicht auf die ihn tragenden Gründe (BSGE 46, 236, 237 = SozR 1500 § 77 Nr 29 mwN; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 77 Rz 5b). Sollte das LSG bei seiner neuen Entscheidung zu dem Ergebnis gelangen, daß § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X verwirklicht und ein atypischer Fall (vgl dazu BSGE 59, 111, 114 ff = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSG SozR 1300 § 48 Nr 22 und SozR 3-4100 § 103 Nr 9) nicht gegeben ist, kann offenbleiben, ob der angegriffene Bescheid seine Rechtfertigung in § 48 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB X allein oder in § 48 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB X iVm § 152 Abs 3 AFG findet. Der Senat hält es deshalb nicht für tunlich (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), zur Anwendbarkeit des § 152 Abs 3 AFG auf Fälle der vorliegenden Art schon jetzt eine abschließende Bewertung vorzunehmen. Sollten die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X zu verneinen sein, ist an eine Prüfung auch der Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X zu denken.

Schließlich wird das LSG über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1415615

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