Leitsatz (amtlich)

Einer geschiedenen Frau darf - trotz Vorliegens der sonstigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen - "Witwenrente" nicht schon dann gewährt werden, wenn der verstorbene Versicherte für allein oder überwiegend schuldig erklärt worden ist; es müssen vielmehr auch alle übrigen Voraussetzungen erfüllt sein, von denen es nach dem Ehegesetz abhängt, ob der geschiedene Mann zur Zeit des Todes ihr Unterhalt zu leisten hatte.

 

Normenkette

RVO § 1256 Abs. 4 Fassung: 1934-05-17

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 6. September 1955 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin begehrt Witwenrente als geschiedene Ehefrau.

Die Ehe der Klägerin mit dem verstorbenen Versicherten wurde durch Urteil des Landgerichts Kiel vom 23. November 1949 geschieden. Der Ehemann trug allein die Schuld an der Scheidung. Die Unterhaltsklage der Klägerin und der gemeinsamen Kinder wies das Amtsgericht Elmshorn im Dezember 1951 ab, weil der geschiedene Mann leistungsunfähig war. Er starb - etwa einen Monat später - im Januar 1952. Die Klägerin beantragte im Februar 1952 Witwenrente. Die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein, die damals die Aufgaben der Angestelltenversicherung wahrnahm, lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 16.7.1953). Sie stützte sich dabei auf das Urteil des Amtsgerichts Elmshorn, das den verstorbenen Mann von Unterhaltszahlungen freigestellt hatte. Er habe auch tatsächlich keine Unterhaltszahlungen geleistet. Somit sei eine der gesetzlichen Voraussetzungen für die Zubilligung einer Witwenrente an eine geschiedene Frau, nämlich die Unterhaltsverpflichtung des früheren Mannes zur Zeit seines Todes, nicht erfüllt. Gegen diese Entscheidung rief die Klägerin erfolglos das Sozialgericht Schleswig und das Landessozialgericht Schleswig an. Das Sozialgericht führte aus, die Rentengewährung an eine geschiedene Frau sei eine Kannleistung, auf die kein Rechtsanspruch bestehe; dem Gericht sei es deshalb versagt, über die Gewährung dieser "Witwenrente" zu entscheiden (Urteil v. 6.4.1954). Das Landessozialgericht teilte diese Auffassung des Sozialgerichts nicht. Es hält eine richterliche Nachprüfung auch von Verwaltungsentscheidungen über Kannleistungen für zulässig, ist aber der Meinung, daß die im Gesetz selbst aufgestellte Voraussetzung für die Gewährung einer Witwenrente an eine geschiedene Frau, die Verpflichtung des Versicherten zur Unterhaltsleistung bis zur Zeit seines Todes hin, wegen der Leistungsunfähigkeit des Verstorbenen nicht gegeben sei. Es ließ die Revision zu (Urteil vom 6.9.1955).

An die Stelle der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein ist die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte nach ihrer Errichtung als Beklagte getreten.

Die Klägerin legte gegen das ihr am 4. November 1955 zugestellte Urteil des Landessozialgerichts am 22. November 1955 Revision ein und begründete sie am 25. November 1955. Sie beantragte, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und ihr die "Witwenrente" zuzusprechen. Sie rügte die Verletzung des § 28 Abs. 3 Satz 2 AVG in Verbindung mit § 1256 Abs. 4 RVO und führte dazu aus: Der Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften spreche zwar für die Rechtsauffassung des Landessozialgerichts und der Beklagten; doch dürfe es, vom Ergebnis aus gesehen, nicht auf die Unfähigkeit des Versicherten, Unterhalt zu leisten, ankommen, auch nicht darauf, daß kein verpflichtendes Unterhaltsurteil vorliege und der Versicherte seit der Scheidung keinen Unterhalt geleistet habe. Nur eine an dem Art. 20 GG, in dem die Bundesrepublik Deutschland als sozialer Rechtsstaat charakterisiert sei, ausgerichtete Auslegung führe zu einer sozial und ethisch richtigen Entscheidung. Es entspreche der Sozialstaatlichkeit, wenn allein der Tenor des Scheidungsurteils als ausreichend für die Beurteilung des Rentenanspruchs angesehen werde. Die Mittellosigkeit des Verstorbenen dürfe sich nach seinem Tode nicht gegen die Hinterbliebenen auswirken. An seine Stelle träte dann der vermögende Versicherungsträger. Lasse man den Schuldausspruch allein nicht genügen, so hänge die Rentengewährung an die geschiedene Frau von Zufälligkeiten ab. Unbillige Ergebnisse wären die Folge. Es erhielte z.B. die getrennt lebende oder die zweite Ehefrau Witwenrente, nicht dagegen die ohne Schuld geschiedene erste Frau.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen: Die Verpflichtung, Unterhalt zu leisten, müsse zur Zeit des Todes bestanden haben. Das Landessozialgericht habe aber festgestellt, daß der Versicherte zu dieser Zeit mittellos gewesen sei. Der Wortlaut des Gesetzes stütze, wie auch die Klägerin einräume, ihren Antrag. Er lasse keine Auslegung zu.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

"Witwenrente" kann einer geschiedenen Frau gewährt werden, "sofern ihr der Versicherte nach den Vorschriften des Ehegesetzes zur Zeit des Todes Unterhalt zu leisten hatte" (§ 28 Abs. 3 Satz 2 AVG, § 1256 Abs. 4 RVO).

Die Gewährung dieser "Witwenrente" ist nach dem Wortlaut des Gesetzes eine Kannleistung. Das Landessozialgericht hat - im Gegensatz zum Sozialgericht - mit Recht angenommen, daß die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über den Antrag auf eine solche "Witwenrente" gerichtlich nachprüfbar ist. Das Bayerische Landesversicherungsamt hatte sich schon vor dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes auf Grund der Generalklausel des Art. 19 Abs. 4 GG für eine gerichtliche Nachprüfung dieser Entscheidungen ausgesprochen (Entscheidung v. 14.1.1953 - Breithaupt 1953 S. 258). Nach dem Sozialgerichtsgesetz (§ 51 Abs. 1) unterliegt jeder Verwaltungsakt über eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit der Sozialversicherung - der umstrittene Ablehnungsbescheid ist ein solcher Verwaltungsakt - der Nachprüfung durch die Sozialgerichte. Diese Nachprüfung ist auch bei einer Kannleistung unbeschränkt möglich, soweit deren gesetzliche Voraussetzungen streitig sind, beschränkt zulässig, soweit es sich um die Ausübung des Ermessens handelt (§ 54 Abs. 2 SGG; im Ergebnis ebenso LSG. Baden-Württemberg, Entscheidung v. 6.9.1954, Breithaupt 1955 S. 263).

Das Gesetz stellt für die Zubilligung der "Witwenrente" aus der Angestelltenversicherung an die geschiedene Frau folgende Voraussetzungen auf: Erfüllung der Wartezeit, Erhaltung der Anwartschaft, Eintritt des Versicherungsfalles und Verpflichtung des Versicherten zur Leistung von Unterhalt an seine geschiedene Ehefrau. Sie müssen erfüllt sein, bevor der Rentenversicherungsträge r prüfen darf, ob er nach seinem Ermessen die Witwenrente gewähren will oder nicht. Fehlt es an einer dieser gesetzlichen Voraussetzungen, muß der Rentenantrag abgelehnt werden. Für eine Ermessensentscheidung ist dann, wie das Landessozialgericht zutreffend ausgeführt hat, kein Raum (ebenso Barth in Soz. Vers. 1956 S. 228).

Das Revisionsverfahren soll klären, ob die Rechtsansicht der Vorinstanz über die Unterhaltspflicht des verstorbenen Versicherten als Voraussetzung der Rentengewährung zutrifft, oder ob die richtige Auslegung der gesetzlichen Vorschriften - wie die Klägerin will - zu einem anderen Ergebnis führt. Die übrigen Voraussetzungen sind - unangezweifelt von den Beteiligten - erfüllt.

Nach den insoweit zunächst maßgebenden Vorschriften des Ehegesetzes von 1946 (vgl. § 1256 Abs. 4 RVO) ist der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau nicht nur davon abhängig, daß der Mann allein oder überwiegend für schuldig erklärt worden ist. Es kommt vielmehr auch auf die bisherigen Lebensverhältnisse der Ehegatten und auf etwaige Einkünfte der Frau aus eigenem Vermögen und eigener Erwerbstätigkeit an (§ 58 Eheges.); außerdem ist zu berücksichtigen, ob der geschiedene Mann durch die Zahlung von Unterhalt nicht bei Berücksichtigung seiner sonstigen - auch der später hinzugetretenen Verpflichtungen - den eigenen angemessenen Unterhalt gefährdet (§ 59 Eheges.). Beim Abwägen aller Möglichkeiten und Interessen kann die Pflicht zur Unterhaltsleistung völlig entfallen (Soergel, BGB, 8. Aufl., Anm. 3, 5, 6 zu § 58, Anm. 2 zu § 59 Eheges., Palandt, BGB, 15. Aufl., Anm. 2, 3 zu § 58, Anm. 4 zu § 59 Eheges., Hastler in DVZ 1950 S. 350, Barth a.a.O.). In § 1256 Abs. 4 RVO knüpft der Gesetzgeber durch die Fassung "Unterhalt zu leisten hatte" an die Fassung des § 58 Eheges. (vgl. § 66 Eheges. von 1938) "hat zu gewähren" und des § 59 Eheges. (vgl. § 67 Eheges. von 1938) "braucht nur ... zu leisten" an. Dadurch kommt zum Ausdruck, daß die Rentengewährung an eine geschiedene Frau von der konkreten Pflicht des Mannes zur Unterhaltsleistung abhängt (§§ 58, 59 Eheges.). Der Rentenversicherungsträger hat die Pflicht, diese sich aus dem Ehegesetz ergebende Folge zu berücksichtigen. Er muß diese Möglichkeit in jedem Einzelfall in Betracht ziehen, besonders dann, wenn - wie hier - die Pflicht zur Unterhaltsleistung wegen Unvermögens ausdrücklich verneint wurde. Er darf sich nicht nur auf den Schuldausspruch des Scheidungsurteils stützen.

Das Landessozialgericht ist in Übereinstimmung mit dem Amtsgericht Elmshorn davon ausgegangen, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes mittellos war. Mit Recht hat es daraus den Schluß gezogen, daß er zu dieser Zeit keinen Unterhalt zu leisten hatte. Nach dem Gesetz sind die Verhältnisse des Versicherten "zur Zeit des Todes" maßgeblich. Es kommt also nicht darauf an, wie sich seine Verhältnisse möglicherweise künftig entwickelt hätten. Auch dies hat das Landessozialgericht zutreffend ausgeführt. Die "Zeit des Todes" wird allerdings nicht als ein sehr eng begrenzter Zeitraum angesehen werden dürfen. Es wird darunter nicht nur der Todesmonat zu verstehen sein. Bei Unterbrechung tatsächlicher Unterhaltsleistungen haben der Bundesminister für Arbeit und die Arbeitsminister der Länder empfohlen, Zeiten der Leistungsunfähigkeit, die nicht länger als ein Jahr, in Ausnahmefällen höchstens bis zu zwei Jahren, dauern, als unwesentlich anzusehen (Schreiben des BMA vom 20.4.1956, BABl. 1956, S. 295). Das Bayerische Landesversicherungsamt hatte Unterbrechungen bis zu zwei Jahren unberücksichtigt gelassen (Bescheid vom 27.2.1953, Breithaupt 1953, S. 531). Im vorliegenden Rechtsstreit handelt es sich jedoch nicht um eine Unterbrechung in der Unterhaltsleistung. Der Versicherte ist vielmehr seit der Scheidung im Jahre 1949 unterhaltsunfähig gewesen. Für die Zeit nach der Scheidung hat nie eine Pflicht zur Unterhaltsleistung bestanden. Währt dieser Zustand - wie hier - über zwei Jahre, so überschreitet nach der Ansicht des Senats diese Zeitspanne jedenfalls den Zeitraum, den der Gesetzgeber mit den Worten "zur Zeit des Todes" umgrenzt hat. Eine so lange währende Unterhaltsunfähigkeit darf nicht unbeachtet bleiben.

Dieses Ergebnis widerspricht nicht dem Grundgesetz, in dem die Bundesrepublik Deutschland als sozialer Rechtsstaat bezeichnet ist (Art. 20 GG). Ein Widerspruch liegt - entgegen der Ansicht der Klägerin - nicht etwa darin, daß Leistungen der Rentenversicherung an geschiedene Frauen von "Zufälligkeiten", wie der Leistungsfähigkeit des Versicherten zur Zeit seines Todes, abhängen, während die Leistungen der Rentenversicherung an die Witwe, auch wenn die Ehegatten getrennt gelebt hatten, unbedingt zu gewähren sind. Es entspricht durchaus den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaates, daß die Versicherungsgesetze die echte Witwenrente nur vom Bestand der Ehe, nicht aber von den konkreten vermögensrechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Eheleute abhängig machen, Leistungen an geschiedene Frauen aber anders regeln. Zu den Pflichtleistungen der Rentenversicherung gehören Renten an die Hinterbliebenen des verstorbenen Versicherten. Wer Hinterbliebener ist, richtet sich aber nach den familienrechtlichen Vorschriften. Die geschiedene Frau gehört weder zu den in den Versicherungsgesetzen selbst bezeichneten Hinterbliebenen noch wird sie sonst in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu den Hinterbliebenen ihres früheren Ehemannes gerechnet. Daß § 1256 Abs. 4 RVO überhaupt Leistungen der Rentenversicherung an sie zuläßt, beruht auf sozialen Erwägungen. Es handelt sich hier um eine - übrigens erst im Jahre 1942 (§§ 3 und 7 des Gesetzes vom 19.6.1942, RGBl. I S. 407) eingeführte - besondere Ermächtigung der Versicherungsträger, über die Pflichtleistungen an die Hinterbliebenen hinaus beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen auch noch eine Kannleistung an eine "Nicht-Hinterbliebene" zu gewähren. Wenn diese Ermächtigung an die Voraussetzung geknüpft ist, daß beim Versicherungsfall des Todes der Versicherte seiner geschiedenen Frau nach den Vorschriften des Ehegesetzes Unterhalt zu leisten hatte, so liegt auch darin kein Verstoß gegen Art. 20 GG. Denn nur dann bedeutet der Tod des Versicherten für die geschiedene Frau ein Risiko, das dem der Witwe in etwa vergleichbar ist.

Das Urteil des Landessozialgerichts ist hiernach im Ergebnis richtig. Die Revision ist daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1983749

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