Leitsatz (amtlich)
1. Ist die Verkündung des Urteils eines LSG zu Unrecht unterblieben und statt dessen das Urteil den Beteiligten zugestellt worden, so ist der Mangel der Verkündung nicht von Amts wegen zu berücksichtigen.
2. Bei Streit über die Entziehung einer Rente nach SVD 3 Nr 1 iVm RVO § 1293 Abs 2 muß nach SGG § 79 Nr 1 ein Vorverfahren stattfinden.
3. Ein Nachschieben von neuen Tatsachen und Gründen zur Rechtfertigung eines Verwaltungsaktes ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht zulässig, wenn dadurch die Rechtsverteidigung des Betroffenen beeinträchtigt wird.
Hat demnach der Versicherungsträger die Entziehung einer Rente auf RVO § 1293 Abs 1 gestützt und sich erst im sozialgerichtlichen Verfahren auf RVO § 1293 Abs 2 berufen, ohne daß über die Entziehung nach RVO § 1293 Abs 2 ein Vorverfahren stattgefunden hat, so ist er mit diesem neuen Vorbringen nicht zu hören.
Leitsatz (redaktionell)
Mehr, als den Beteiligten die Möglichkeit geboten wird, an der Beweisaufnahme teilzunehmen und zu ihrem Ergebnis gehört zu werden, ist auch unter dem Gesichtspunkt der Gewährung rechtlichen Gehörs nicht zu verlangen.
Normenkette
SGG § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 96 Fassung: 1953-09-03, § 132 Fassung: 1953-09-03, § 133 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1293 Fassung: 1934-05-17; SVD 3 Nr. 1
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das auf Grund der Verhandlung vom 5. Oktober 1955 ergangene Urteil des Landessozialgerichts Celle aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 7. Februar 1955 zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die beklagte Landesversicherungsanstalt hatte der Klägerin auf Grund eines ärztlichen Gutachtens, in dem ihre Erwerbsminderung auf 55 v.H. geschätzt worden war, mit Wirkung vom 1. Januar 1952 die Invalidenrente wegen vorübergehender Invalidität gewährt. Bei einer Nachuntersuchung im Mai 1952 kam der untersuchende Arzt zu dem Ergebnis, daß der Gesundheitszustand der Klägerin sich inzwischen soweit gebessert habe, daß Invalidität nicht mehr vorliege. Darauf entzog die Beklagte der Klägerin die Rente mit Ablauf des Monats Juli 1952 wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse (§ 1293 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -). In dem anschließenden Streitverfahren vor dem Oberversicherungsamt Oldenburg, das nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht Oldenburg überging, stützte die Beklagte den Entziehungsbescheid außerdem auf § 1293 Abs. 2 RVO i. Verb.m. Ziff. 1 der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 (ArbBl. brit. Zone 1947 S.12), wonach eine Rente auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten entzogen werden kann, wenn eine neue Untersuchung ergibt, daß er nicht mehr invalide ist.
Das Sozialgericht gab der Klage statt und verurteilte die Beklagte zur Weitergewährung der Invalidenrente über den Monat Juli 1952 hinaus. Es ging im Anschluß an ein Gutachten des Gerichtsarztes davon aus, daß der Zustand der Klägerin sich in der Zeit zwischen der Gewährung und der Entziehung der Rente nicht wesentlich verändert habe; für die Anwendung des § 1293 Abs. 1 RVO sei daher kein Raum. Die Entziehung der Rente sei aber auch nicht nach § 1293 Abs. 2 RVO gerechtfertigt; denn diese Vorschrift sei mit dem 31. Dezember 1937 außer Kraft getreten und auch nach dem Kriege nicht wieder in Kraft gesetzt worden. Die SVD Nr. 3 habe als interne Verwaltungsanweisung der Militärregierung kein neues Recht schaffen können.
Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht Celle das Urteil des Sozialgerichts auf und stellte den Rentenentziehungsbescheid wieder her. Das Berufungsgericht ist zwar mit dem Sozialgericht der Ansicht, daß eine Entziehung der Rente nach § 1293 Abs. 1 RVO im vorliegenden Falle nicht in Betracht komme, weil der Gesundheitszustand der Klägerin in der fraglichen Zeit im wesentlichen unverändert geblieben sei. Es hält jedoch im Gegensatz zur ersten Instanz die Entziehung der Rente auf Grund des § 1293 Abs. 2 RVO für gerechtfertigt; denn § 1293 Abs. 2 RVO sei gemäß Ziff. 1 SVD Nr. 3 als eine Vorschrift des geltenden Rechts anzusehen, die bei Erfüllung ihrer - hier gegebenen - Voraussetzungen auch angewendet werden müsse.
Die vom Landessozialgericht zugelassene Revision der Klägerin richtet sich in erster Linie gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, § 1293 Abs. 2 RVO stelle eine noch heute anwendbare Rechtsvorschrift dar. Selbst wenn dies aber der Fall wäre, könne das angefochtene Urteil nicht bestehen bleiben; das Berufungsgericht habe verkannt, daß die Entziehung der Rente nach § 1293 Abs. 2 RVO im Ermessen des Versicherungsträgers stehe; die Beklagte habe dieses Ermessen fehlerhaft ausgeübt, weil sie die von ihr in einem Grenzfall bewilligte Rente schon fünf Monate nach der Rentenbewilligung wieder entzogen habe.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Senat hat zunächst geprüft, ob das Verfahren des Berufungsgerichts an wesentlichen, von Amts wegen zu berücksichtigenden Mängeln leidet, dies jedoch verneint. Das angefochtene Urteil ist - obwohl "auf Grund der Verhandlung vom 5. Oktober 1955" erlassen - nicht verkündet worden; das Vordergericht hat sich vielmehr damit begnügt, das Urteil den Beteiligten zuzustellen. Ein solches Verfahren ist nach § 133 SGG nur für Urteile vorgesehen, die nicht auf Grund mündlicher Verhandlung ergehen. Im vorliegenden Fall waren die Beteiligten im Termin vom 5.Oktober 1955, in dem über die Berufung mündlich verhandelt werden sollte, sämtlich nicht erschienen. Das Berufungsgericht hat deswegen offenbar angenommen, daß eine mündliche Verhandlung im Sinne des § 133 SGG nicht stattgefunden habe. Gegen diese Auffassung spricht die Vorschrift des § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG, wonach - abweichend vom Zivilprozeß, vgl. § 137 Abs. 1 ZPO, - die mündliche Verhandlung bereits mit der Darstellung des Sachverhalts (durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter) beginnt. Dagegen spricht ferner die Erwägung, daß die Öffentlichkeit, wenn eine Sache schon öffentlich verhandelt wird, auch ein berechtigtes Interesse an der öffentlichen Verkündung der gerichtlichen Entscheidung hat (vgl. §§ 169, 173 GVG, 61 Abs. 1 SGG). Die Frage, ob das angefochtene Urteil der Verkündung bedurfte, braucht hier indessen nicht abschließend beantwortet zu werden; denn auch im Falle einer fehlerhaften Verlautbarung läge kein von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel vor.
Das ehemalige Reichsgericht hat zwar in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß ein nicht oder nicht ordnungsmäßig verkündetes Urteil als Scheinurteil anzusehen sei, das vom Revisionsgericht von Amts wegen aufgehoben werden müsse (vgl. die Nachweise in BGHZ. 14, 39, insbesondere RGZ. 90, 286 und 133, 215). Demgegenüber hat aber der Große Senat des Bundesgerichtshofes (BGH.) in einem Beschluß vom 14.Juni 1954 (BGHZ. 14, 39) den Standpunkt eingenommen, daß die Verletzung (zwingender) Verkündungsvorschriften das Urteil nicht in jedem Falle zu einem Nichturteil mache. Diese Rechtsfolge trete vielmehr nur dann ein, wenn die verletzte Vorschrift so wesentlich sei, daß ohne ihre Beachtung das Urteil nicht als im Rechtssinne verlautbart angesehen werden könne (a.a.O. S. 46). Zur Begründung seiner Auffassung hat der BGH. auf die Vorschriften über die Revisions- und Wiederaufnahmegründe der ZPO (§§ 551, 579) verwiesen, nach denen selbst schwerwiegende Verfahrensverstöße die Wirksamkeit des Urteils als solche nicht berühren. Außerdem hat er auf die Gefahren für den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit aufmerksam gemacht, die sich ergeben würden, wenn äußerlich fehlerfreien Entscheidungen noch nach Jahren die Wirksamkeit abgesprochen werden könnte. Diese Erwägungen gelten auch für das sozialgerichtliche Verfahren. Der Senat ist weiterhin der Auffassung daß sie nicht nur in dem vom BGH. entschiedenen Falle Platz greifen, in dem es sich um die Wirksamkeit eines Urteils handelte, das in einem den Parteien nicht bekanntgegebenen Termin verkündet worden war, sondern in gleicher Weise auch dann gelten, wenn das Gericht die Verkündung zu Unrecht unterlassen, das Urteil den Beteiligten aber zugestellt hatte.
Im sozialgerichtlichen Verfahren werden Urteile in der Regel durch Verkündung verlautbart, der sich die Zustellung an die Beteiligten anschließt (§§ 132, 135 SGG). Eine Ausnahme machen nur Urteile, die ohne mündliche Verhandlung ergehen; diese werden lediglich zugestellt (§ 133 SGG). In anderen Fällen darf von der Verkündung schon wegen der scharfen Trennung der Verlautbarungsformen, die das SGG mit der ZPO (§ 310) gemeinsam hat (anders z.B. § 78 MRVO 165), nicht abgesehen werden. Gleichwohl ist die Zustellung eines Urteils, das an sich der Verkündung bedurft hätte, aber nicht verkündet worden ist, nicht ohne jede rechtliche Wirkung. Denn mit der Zustellung an die Beteiligten ist das von den Richtern intern beschlossene Urteil als eine - im gleichen Rechtszuge nicht mehr abänderbare - Entscheidung des Gerichts in die Außenwelt getreten und hat selbständige Bedeutung erlangt. Mit der Zustellung ist den Mindestanforderungen genügt, die an die Verlautbarung einer gerichtlichen Entscheidung zu stellen sind. In aller Regel werden die Beteiligten dem ihnen schriftlich zugestellten und äußerlich mängelfreien Urteil auch dasselbe Vertrauen wie einer ordnungsmäßig verkündeten Entscheidung entgegenbringen. Es würde dem Gedanken, das Vertrauen der Beteiligten in den Bestand von Gerichtsentscheidungen zu schützen, widersprechen und müßte zu einer erheblichen Erschütterung der Rechtssicherheit führen, wenn die Wirksamkeit eines den Beteiligten zugestellten Urteils unter Umständen noch nach Jahren mit der Behauptung in Frage gestellt werden könnte, die Verkündung sei zu Unrecht unterblieben.
Ist hiernach davon auszugehen, daß das angefochtene Urteil mit der Zustellung an die Beteiligten wirksam geworden ist, so kann das Gericht - mangels einer entsprechenden Revisionsrüge - die Frage nicht entscheiden, ob das Urteil des Landessozialgerichts hätte verkündet werden müssen (§§ 132, 133 SGG). Denn selbst wenn dies anzunehmen wäre, würde die Rechtsverletzung nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sein, da sie jedenfalls die rechtsstaatlichen Grundlagen des Verfahrens nicht berühren und auch im Revisionsverfahren nicht fortwirken würde.
Das Urteil des Berufungsgerichts bietet auch insoweit keinen Anlaß zur Beanstandung, als das Landessozialgericht bei seiner Urteilsfindung das Gutachten des Dr. W verwertet hat, von dessen Inhalt die Klägerin keine Kenntnis gehabt hat; dadurch ist der Klägerin das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 62, 127, 128 Abs. 2 SGG) weder in unzulässiger Weise versagt noch geschmälert worden. Das Berufungsgericht hat die Klägerin in der Benachrichtigung vom Termin der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, daß zu demselben Termin auch der - später in der Verhandlung gehörte - Dr. W als Sachverständiger geladen worden sei. Die Benachrichtigung enthielt keine ausdrückliche Mitteilung darüber, zu welcher Beweisfrage der Sachverständige gehört werden sollte. Eine solche Mitteilung war auch nicht erforderlich, weil nach Lage der Dinge kein Zweifel bestehen konnte, daß der Sachverständige sich nur zur Frage der Invalidität der Klägerin äußern würde. In diesem Rahmen hat die mündliche Vernehmung des Sachverständigen sich tatsächlich auch gehalten. Eine Verletzung des § 127 SGG, der die Beteiligten, die zum Termin der mündlichen Verhandlung nicht erschienen und von der dafür vorgesehenen Beweiserhebung nicht benachrichtigt worden sind, vor einem ungünstigen Urteil in diesem Termin schützt, scheidet deshalb aus. Das Urteil des Berufungsgerichts ist auch nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt, zu denen sich die Klägerin nicht äußern konnte (§ 128 Abs. 2 SGG). Die Klägerin hat von der Vernehmung des Sachverständigen Dr. W. rechtzeitig Kenntnis erlangt; sie hätte der Beweiserhebung beiwohnen können und dabei ausreichend Gelegenheit gehabt, Fragen an den Sachverständigen zu richten (§ 116 SGG) und zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen. Mehr als daß den Beteiligten die Möglichkeit geboten wird, an der Beweisaufnahme teilzunehmen und zu ihrem Ergebnis gehört zu werden, ist auch unter dem Gesichtspunkt der Gewährung rechtlichen Gehörs nicht zu verlangen; die Tragweite dieses Grundsatzes im Rahmen des Beweiserhebungsverfahrens sollte durch die Vorschriften der §§ 127, 128 Abs. 2 SGG offenbar abschließend bestimmt werden. Kommt somit im Verfahren vor dem Berufungsgericht eine Versagung rechtlichen Gehörs nicht in Betracht, so ist doch der Revision aus anderen Gründen stattzugeben.
Das Berufungsgericht geht bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des streitigen Entziehungsbescheides zutreffend davon aus, daß der Klägerin die Rente nicht nach § 1293 Abs. 1 RVO entzogen werden kann, weil diese Vorschrift eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Rentenberechtigten voraussetzt, der Gesundheitszustand der Klägerin sich aber nach den getroffenen Feststellungen in der Zeit zwischen der Gewährung und Entziehung der Rente nicht wesentlich verändert hat. Das Berufungsgericht nimmt jedoch zu Unrecht an, daß die Entziehung der Rente auf § 1293 Abs. 2 RVO gestützt werden könne.
§ 1293 Abs. 2 ist durch die Verordnung vom 17. Mai 1934 (RGBl. I S. 419) in die RVO eingefügt worden, nachdem schon vorher § 24 des Gesetzes zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Invaliden-, der Angestellten- und der knappschaftlichen Versicherung vom 7. Dezember 1933 (RGBl. I S. 1039) - inhaltlich gleichlautend - bestimmt hatte, daß in der Invaliden- und Angestelltenversicherung die Entziehung einer Rente auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Rentenempfängers zulässig sei, wenn eine erneute Prüfung ergebe, daß der Rentenempfänger nicht mehr invalide (berufsunfähig) sei. Die Geltungsdauer des § 1293 Abs. 2 RVO ist damals gemäß § 24 Abs. 2 des Gesetzes vom 7. Dezember 1933 bis zum Ende des Jahres 1937 begrenzt worden, weil die Vorschrift eine ausgesprochene Notmaßnahme darstelle, die sobald wie möglich wieder dem Grundsatz der Rechtskraftwirkung weichen müsse (Amtl. Begründung, abgedruckt bei Eckert-Hoffmeister-Dobbernack, Kommentar zur Verordnung vom 17. Mai 1934, S. 204). Als die Rentenversicherungen nach dem Zusammenbruch des Jahres 1945 erneut in eine wirtschaftlich schwierige Lage gerieten, setzte die britische Militärregierung durch die SVD Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 (ArbBl. brit.Zone 1947, S. 12) die vor dem Kriege - bis Ende 1937 - in Kraft gewesenen Bestimmungen wieder in Kraft, nach denen die Entziehung einer Rente auch dann gestattet war, "wenn bei einer neuen ärztlichen Untersuchung festgestellt wurde, daß der Rentenberechtigte nicht mehr invalide oder berufsunfähig ist" (Ziff. 1 SVD Nr. 3). Damit ist, wie der 1. Senat im Urteil vom 9. Februar 1956 (BSG. 2, 188) näher dargelegt hat, § 1293 Abs. 2 RVO i.d.F. der Verordnung vom 17. Mai 1934 für das Gebiet der britischen Besatzungszone "vorläufig" (vgl. Vorspruch zur SVD Nr.3) wieder zu einer Vorschrift des geltenden Rechts geworden, deren Verbindlichkeit - jedenfalls zur Zeit - nicht in Frage gestellt werden kann. Das hat auch das Berufungsgericht nicht verkannt; es ist jedoch insofern einem Rechtsirrtum erlegen, als es angenommen hat, § 1293 Abs. 2 RVO müsse bei Erfüllung seines Tatbestandes angewendet werden.
Nach § 1293 Abs. 2 RVO ist die Entziehung einer Invalidenrente unter bestimmten Voraussetzungen "zulässig". Daraus hat der 1. Senat in der angegebenen Entscheidung (BSG. 2, 188, insbesondere 195 f.) geschlossen, daß der Versicherungsträger im Falle des § 1293 Abs. 2 RVO nicht unter allen Umständen verpflichtet sei, die Rente zu entziehen; nach dem Wortlaut des Gesetzes sei es vielmehr in sein Ermessen gestellt, ob er von der Befugnis zur Rentenentziehung Gebrauch machen wolle oder nicht. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Stützt der Versicherungsträger den Entziehungsbescheid ausdrücklich nur auf § 1293 Abs. 1 RVO und ergibt sich im gerichtlichen Verfahren, daß diese Vorschrift den Bescheid nicht trägt, daß aber die Voraussetzungen des § 1293 Abs. 2 RVO gegeben sind, so können die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht ihrerseits den Entziehungsbescheid aus diesem Rechtsgrunde (§ 1293 Abs. 2) aufrechterhalten; damit würden sie entgegen den Prinzipien der Gewaltenteilung ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen (BSG. 2, 142 ff. (149), vgl. auch Schütz, MDR 1954 S. 459). Beruft sich der Versicherungsträger hingegen selbst, wie hier geschehen, auf die Vorschrift des § 1293 Abs. 2 RVO, so haben die Gerichte die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes grundsätzlich auch unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß eine Rentenentziehung gemäß § 1293 Abs. 2 RVO erst nach erfolgloser Einlegung eines Widerspruchs zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht werden kann, wie sich aus §§ 78, 79 Nr. 1 SGG ergibt.
§ 78 SGG macht die Erhebung der Klage in den gesetzlich vorgesehenen Fällen von der Durchführung eines Vorverfahrens abhängig; nach § 79 Nr. 1 SGG findet ein Vorverfahren statt, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der nicht eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift lassen dem Zweifel Raum, ob Aufhebungsklagen nur dann dem Vorverfahrenszwang unterliegen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die kein Rechtsanspruch besteht, d.h. eine sogenannte Kannleistung (z.B. Heilverfahren) betrifft, oder ob Anfechtungsklagen grundsätzlich ein Vorverfahren voraussetzen, wobei nur solche Verwaltungsakte ausgenommen sind, die Leistungen mit Rechtsanspruch (z.B. Renten) zum Gegenstand haben. Beide Auslegungen sind nach der Fassung des Gesetzes möglich und in Rechtsprechung und Schrifttum vertreten worden (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-4.Aufl., Stand; 31.3.1956, S.240 w, x). Unter diesen Umständen verdient die Auslegung den Vorzug, deren Ergebnisse dem Sinn des Gesetzes am besten gerecht werden. Einen Anhaltspunkt dafür, in welcher Richtung das rechtspolitische Anliegen des § 79 Nr.1 SGG zu suchen ist, gibt die Begründung des Entwurfes einer Sozialgerichtsordnung (BT.-Drucks.I/1949 Nr.4357); dort wird zu § 28, dem späteren § 79 SGG, ausgeführt, für den Rechtsschutzsuchenden biete die Überprüfung des Verwaltungsakts im Vorverfahren unmittelbare Vorteile, da bei Ermessensansprüchen von den Gerichten nur Rechtsrügen zu beachten seien, während die im Vorverfahren zur Nachprüfung berufenen Instanzen das Ermessen der Stelle, die den Bescheid erlassen habe, ersetzen (berichtigen) könnten. Ähnliche Erwägungen finden sich schon in der Begründung zu § 70 des Entwurfs einer Verwaltungsgerichtsordnung (BT.-Drucks.I/1949 Nr.4278, 1. WP.). Hiernach soll das Vorverfahren offenbar wesentlich mit dazu dienen, den streitigen Verwaltungsakt vor Einleitung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens "im Ermessenspunkt" (Begründung zu § 70 der Verwaltungsgerichtsordnung) nachzuprüfen. Diese Zweckbestimmung läßt es geboten erscheinen, alle Ermessensentscheidungen - vorbehaltlich des § 81 SGG - der Nachprüfung im Widerspruchsverfahren zu unterwerfen (ebenso Brackmann a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Da es sich bei der Rentenentziehung nach § 1293 Abs. 2 RVO - unabhängig davon, ob man darin einen Verwaltungsakt erblicken will, der eine Leistung mit oder ohne Rechtsanspruch betrifft - jedenfalls um eine Ermessensentscheidung handelt, ist die Aufhebungsklage dagegen erst nach erfolgloser Einlegung des Widerspruchs zulässig. Vorher kann die Frage, ob die Bewilligung der Rente von Anfang an ungesetzlich war und deshalb nach § 1293 Abs. 2 RVO entzogen werden konnte, weder von Seiten des Versicherten noch von Seiten des Versicherungsträgers zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht werden; insbesondere kann der Versicherungsträger die Behauptung, der Versicherte habe die Rente von vornherein zu Unrecht empfangen, nicht ohne weiteres zur Rechtfertigung einer zunächst auf andere Gründe gestützten Rentenentziehung "nachschieben".
Das sogenannte Nachschieben neuer rechtlicher oder tatsächlicher Gründe im Laufe des gerichtlichen Verfahrens wird in der Gerichtspraxis und in der Rechtslehre ganz überwiegend als zulässig angesehen (vgl. BVerwGE 1, 311, 313 mit Nachweisen; Brackmann a.a.O. S.232 d). Dabei werden jedoch allgemein eine Reihe von Einschränkungen gemacht, namentlich in der Hinsicht, daß das neue Vorbringen weder den angefochtenen Verwaltungsakt in seinem Wesensgehalt und Ausspruch verändern noch den Betroffenen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigen dürfe (BVerwG a.a.O.). Folgt man dieser Auffassung, so kann es im vorliegenden Fall schon fraglich sein, ob der zunächst auf § 1293 Abs. 1 RVO gestützte Rentenentziehungsbescheid durch die nachträgliche Berufung auf § 1293 Abs. 2 RVO nicht in seinem Wesen verändert wurde. Diese Frage braucht hier indessen nicht geklärt zu werden; denn die nachträgliche Berufung auf § 1293 Abs. 2 RVO ist hier jedenfalls schon deswegen unzulässig gewesen, weil der Klägerin dadurch die Möglichkeit genommen wurde, die Anwendung des § 1293 Abs. 2 RVO unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit von der dazu berufenen Widerspruchsstelle nachprüfen zu lassen. Daß der Verlust dieser Möglichkeit für die Klägerin eine wesentliche Beeinträchtigung ihrer Rechtsverteidigung bedeutete, liegt auf der Hand. Wenn die Beklagte von ihrer Befugnis, die Rente nach § 1293 Abs. 2 RVO zu entziehen, Gebrauch machen wollte, so hätte sie der Klägerin darüber einen schriftlichen Bescheid erteilen müssen (§§ 1633, 1631 RVO). Die mündlich und noch dazu in Abwesenheit der Klägerin dem Gericht gegenüber abgegebene Erklärung der Beklagten, daß sie den Klagabweisungsantrag auch auf § 1293 Abs.2 RVO stütze, genügte nicht. - Da das Gericht - wie dargelegt - auch nicht befugt ist, von sich aus § 1293 Abs. 2 anzuwenden - sofern nicht zuvor der Versicherungsträger einen auf diese Vorschrift gestützten Verwaltungsakt erlassen hat und das Vorverfahren durchgeführt ist - muß die Vorschrift des § 1293 Abs. 2 RVO bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides der Beklagten außer Betracht bleiben.
Eine andere Rechtsgrundlage für den Entziehungsbescheid ist weder geltend gemacht noch ersichtlich. Die Entziehung der Invalidenrente ist daher nicht gerechtfertigt. Das Urteil des Berufungsgerichts war hiernach aufzuheben und die Berufung gegen das der Klage stattgebende Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen