Leitsatz (redaktionell)

1. Das Gericht bestimmt von seinem sachlich rechtlichen Standpunkt aus nach freiem Ermessen ( SGG § 128 ) den Umfang und die Art der nach SGG § 103 zu seiner Überzeugungsbildung notwendigen Ermittlungen.

Die Aufklärungs- und Ermittlungspflicht obliegt dem Gericht insoweit, als der Vortrag der Beteiligten und der Sachverhalt als solcher bei sorgfältiger Überlegung dazu Anlaß bietet. Das Gericht braucht nicht allen theoretisch denkbaren Möglichkeiten von Amts wegen nachzugehen, wenn der vorgetragene Sachverhalt hierzu keine Veranlassung gibt. Es muß jedoch den vorgetragenen und bereits ermittelten Sachverhalt in jeder Richtung prüfen, ob er zur Feststellung weiterer Tatsachen drängt, die ihrerseits den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen des erhobenen Anspruchs entsprechen.

2. Das Gericht muß nach SGG § 118 in entsprechender Anwendung der ZPO §§ 402 , 403 , 396 den Gutachtern die zu prüfenden Punkt genau angeben, insbesondere wenn es sich um Fragen handelt, die für die rechtliche Einordnung des Tatbestandes von Bedeutung sind, auf die aber der Kläger als Laie bei der Untersuchung möglicherweise nicht selbst hinweist bzw hinweisen kann.

Wenn das Gericht Gutachten aus dem Verfahren vor den Verwaltungsbehörden oder der Vorinstanz verwendete, mußte es eine entsprechende Ergänzung der Gutachten veranlassen.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-0903, § 118 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO §§ 402-403, 396

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. März 1955 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger bezog Versorgung nach dem Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetz (WFVG) wegen Verlustes sämtlicher Zehen an beiden Füßen und Teilverlustes der Zwischenfußknochen als Folge von Erfrierung im Wehrdienst. Nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 wurden als Schädigungsfolgen Verlust sämtlicher Zehen und Teilverlust der Mittelfußknochen, Durchblutungsstörungen an beiden Füßen, Weichteilschwund an der rechten Ferse und traumatischer Plattfuß beiderseits anerkannt.

Zu dem Antrag auf Anerkennung einer Spondylarthritis der Lendenwirbelsäule als Folge von Einwirkungen beim Brückenbau im Wehrdienst hat das Versorgungsamt (VersorgA.) ausgeführt, daß eine Spondylarthrosis der Lendenwirbelsäule nicht feststellbar sei.

Die anerkannten Körperschäden wurden nach versorgungsärztlicher Untersuchung als Schädigungsfolgen in den nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) erteilten Umanerkennungsbescheid vom 27. Mai 1952 übernommen. In dem Bescheid ist weiter ausgeführt, der Befund habe keine Abrisse, Infraktionen, Kompressionen oder Verdichtungszonen als Folge von Unfällen ergeben. Die geringgradige Spondylosis deformans sei Folge der konstitutionell bedingten Wirbelsäulenerkrankung und stehe nicht im ursächlichen Zusammenhang mit Schädigungen im Sinne des § 1 BVG .

Der Einspruch des Klägers wurde zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG.) hat die Klage nach Einholung eines weiteren ärztlichen Gutachtens ebenfalls abgewiesen. Mit Urteil vom 9. März 1955 hat das Landessozialgericht (LSG.) die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, auf Grund der übereinstimmenden, wissenschaftlich begründeten und schlüssigen Gutachten stehe fest, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Wehrdienst und der beim Kläger festgestellten Spondylosis weder im Sinne der Entstehung noch der Verschlimmerung bestehe, daß diese Erkrankung vielmehr anlagebedingt sei. Die jetzt festgestellten geringfügigen spondylarthrotischen Veränderungen hätten sich mit zunehmendem Alter schicksalsmäßig entwickelt. Revision ist nicht zugelassen.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, es sei nicht aufgeklärt worden, ob die spondylarthrotischen Veränderungen der Wirbelsäule von den anerkannten Erfrierungsschäden und den sich daraus ergebenden falschen statischen Verhältnissen herzuleiten seien. Außerdem sei das Gesetz bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen den spondylarthrotischen Veränderungen und Einflüssen des Wehrdienstes verletzt worden.

Die Beklagte hat Verwerfung der Revision beantragt. Die vom Kläger geäußerte Ansicht sei so abwegig, daß kein Arzt Veranlassung gehabt habe, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da sie nicht zugelassen ist, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und vorliegt, oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinn des BVG das Gesetz verletzt ist ( § 162 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - Bundessozialgericht - BSG. - 1 S. 150 und 254).

Der Kläger rügt unzureichende Sachaufklärung als wesentlichen Verfahrensmangel nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG , da der Einfluß der Teilamputation an beiden Füßen auf die statischen Verhältnisse des Körpers und damit auf die Wirbelsäule nicht geklärt worden sei. Dieser gerügte Verfahrensmangel liegt vor.

Das Gericht bestimmt von seinem sachlich rechtlichen Standpunkt aus nach freiem Ermessen ( § 128 SGG ) den Umfang und die Art der nach § 103 SGG zu seiner Überzeugungsbildung notwendigen Ermittlungen. Die Aufklärungs- und Ermittlungspflicht obliegt ihm insoweit, als der Vortrag der Beteiligten und der Sachverhalt als solcher bei sorgfältiger Überlegung dazu Anlaß bietet. Das Gericht braucht nicht allen theoretisch denkbaren Möglichkeiten von Amts wegen nachzugehen, wenn der vorgetragene Sachverhalt hierzu keine Veranlassung gibt. Es muß jedoch den vorgetragenen und bereits ermittelten Sachverhalt in jeder Richtung prüfen, ob er zur Feststellung weiterer Tatsachen drängt, die ihrerseits den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen des erhobenen Anspruchs entsprechen. Das LSG. hat mit Recht den ursächlichen Zusammenhang der Wirbelsäulenveränderungen mit dem Wehrdienst nach § 1 BVG geprüft. Es hat aber seine Ermittlungen nur auf den unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang erstreckt, bei dem die Einwirkung selbst einen Körperschaden herbeiführt. Dagegen hat es nicht geprüft, ob der Sachverhalt nicht in die Richtung eines weiteren mittelbaren ursächlichen Zusammenhangs weist, bei dem die Einwirkungen des Wehrdienstes zunächst nicht selbst den Schaden herbeigeführt, sondern nur eine weitere wesentliche Bedingung ausgelöst haben, die ihrerseits unmittelbar den Schaden nach sich gezogen hat.

Hier war es notwendig, zu prüfen, ob die als Schädigungsfolge anerkannte sehr umfangreiche Amputation an den Füßen eine Verschiebung der statischen Verhältnisse herbeigeführt und diese wiederum zu den Veränderungen der Wirbelsäule geführt hat, zumal schon die Plattfüße beiderseits als mittelbare Folgen anerkannt waren. Das LSG. mußte sich entgegen der Auffassung des Revisionsbeklagten zu dieser Prüfung um so mehr veranlaßt sehen, weil einige der medizinischen Sachverständigen auf die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen den statischen Verhältnissen und den Veränderungen der Wirbelsäule hingewiesen hatten. Der Gutachter Dr. C (23.5.1949) führt aus, die veränderten statischen Verhältnisse seien durch die ausgebildeten Plattfüße begründet, die angegebenen Rückenschmerzen seien s. E. rein statische Beschwerden und nicht organisch bedingt, da der Röntgenbefund dafür zu gering sei. Der Gutachter Dr. M (14.2.1952) zitiert eine Arbeit von Prof. L, wonach ungünstige statische Verhältnisse mit langandauernder körperlicher Beanspruchung beim Zustandekommen von spondylotischen und arthrotischen Veränderungen der Wirbelsäule eine besondere Bedeutung hätten. In ähnlicher Weise hat der Facharzt für Orthopädie Dr. ... (21.10.1953) auf die Möglichkeit statischer Veränderungen hingewiesen. Das LSG. wurde seiner Prüfungspflicht nicht dadurch enthoben, daß die Gutachter nicht weiter auf einen Zusammenhang zwischen den Amputationen usw. und den Veränderungen an der Wirbelsäule eingegangen sind. Das Gericht muß nach § 118 SGG in entsprechender Anwendung der §§ 402 , 403 , 396 Zivilprozeßordnung (ZPO) den Gutachtern die zu prüfenden Punkte genau angeben, insbesondere wenn es sich um Fragen handelt, die für die rechtliche Einordnung des Tatbestands von Bedeutung sind, auf die aber der Kläger als Laie bei der Untersuchung möglicherweise nicht selbst hinweist bzw. hinweisen kann. Wenn das LSG. Gutachten aus dem Verfahren vor den Verwaltungsbehörden oder der Vorinstanz verwendete, mußte es eine entsprechende Ergänzung der Gutachten veranlassen.

Daß der Kläger angibt, die Rückenschmerzen beständen seit 1942, während das Rückenleiden bei Verursachung durch veränderte statische Verhältnisse erst später entstanden sein könnte, steht nicht entgegen. Denn die Ursachen der subjektiv gleichempfundenen Rückenschmerzen können sich im Laufe der Zeit geändert haben, zumal die früheren Befunde an der Wirbelsäule keine krankhaften Veränderungen aufwiesen. Das LSG. hat diese Sachaufklärung unterlassen. Die Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels trifft somit zu. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.

Auf die weitere Rüge, das Gesetz sei bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs verletzt ( § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ) brauchte danach nicht mehr eingegangen zu werden.

Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das LSG. anders entschieden hätte, wenn die medizinischen Gutachter die Frage eines Zusammenhangs zwischen den als Wehrdienstschädigung anerkannten Amputationen usw., einer Veränderung der statischen Verhältnisse und der Spondylosis der Wirbelsäule behandelt hätten. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.

Das BSG. konnte nicht selbst entscheiden, da - wie dargelegt - weitere Ermittlungen tatsächlicher Art durch Anhörung medizinischer Gutachter erforderlich sind. Die Sache war deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2290817

RegNr, 13846

Die Kriegsopferversorgung, 1958 RsprNr 751 (red. Leitsatz 1)

Die Kriegsopferversorgung, 1958 RsprNr 753 (red. Leitsatz 2)

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