Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Geltung der Reichsversicherungsgesetze für Ghettoarbeit im Generalgouvernement – Absehen von Zeugenvernehmung – schriftliche Zeugenerklärung
Leitsatz (amtlich)
1. Ghettoarbeit im damals sogenannten Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete unterfiel grundsätzlich nicht den Reichsversicherungsgesetzen; eine Anrechnung als Versicherungszeit richtet sich daher nach den §§ 15, 16 FRG iVm § 20 WGSVG bzw § 17a FRG.
2. Zu den Voraussetzungen für das Absehen von der Vernehmung eines im Ausland wohnenden Zeugen, von dem bereits eine schriftliche Erklärung vorliegt.
Stand: 10. Dezember 2001
Normenkette
RVO § 1248 Abs. 5; WGSVG §§ 19-20; FRG § 15 Abs. 1, § 16 Abs. 1, § 17a; SGG §§ 117, 118 Abs. 1; ZPO § 377 Abs. 4
Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. April 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung von Altersruhegeld (ARG). Dabei geht es vor allem darum, ob die Arbeit der Klägerin während eines Ghettoaufenthalts im damals sogenannten Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete rentenversicherungsrechtlich zu berücksichtigen ist.
Die jüdische Klägerin ist Verfolgte iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Sie wurde am 20. Juni 1922 in R./Polen geboren und lebt seit 1946 in P. (Israel), wo sie die israelische Staatsangehörigkeit erwarb.
Im November 1990 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen und Gewährung von Rente unter Anrechnung von Fremdrentenzeiten. Dabei gab sie ua an, sie habe von 1937/38 bis zum Kriegsausbruch im Jahre 1939 als Schneiderin in einer Cooperative gearbeitet. Anschließend sei sie der Verfolgung ausgesetzt gewesen. Dazu wurden Erklärungen der Zeugen L. L. vom 28. Mai 1991 und M. Z. W. vom 26. Mai 1991 vorgelegt. Nach Auswertung der beigezogenen, die Klägerin betreffenden Entschädigungsakten sowie einer Stellungnahme der Heimatauskunftsstelle Polen II vom 21. September 1992 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin mit Bescheid vom 27. Januar 1993 ab, weil keine anrechenbaren Versicherungszeiten feststellbar seien. Mit ihrem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie habe bereits ab 1934 neben dem Besuch eines technischen Gymnasiums gleichzeitig in einer diesem angegliederten Schneiderei-Cooperative gearbeitet. Nach Erteilung des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 25. November 1993 erhob die Klägerin beim Sozialgericht Düsseldorf (SG) Klage. Zur Stützung ihres Vorbringens reichte sie Erklärungen der Zeugen D. G. vom 4. Dezember 1993, M. F. vom 15. Dezember 1993 und C. R. vom 12. Dezember 1994 ein. Das SG ließ die Zeugen W., R. und L. in Israel vernehmen. Durch Urteil vom 14. Februar 1997 wies es sodann die Klage ab.
Mit ihrer dagegen beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) eingelegten Berufung begehrte die Klägerin zusätzlich eine rentenrechtliche Berücksichtigung ihrer Arbeit im Ghetto R. von Mai 1940 bis Januar 1943. Dazu übersandte sie schriftliche Erklärungen der in Israel wohnenden Zeuginnen A. S. vom 10. Februar 1998, M. Z. vom 8. Februar 1998 und T. K. vom 10. Februar 1998. Durch Urteil vom 17. April 2000 wies das LSG die Berufung – unter weitgehender Bezugnahme auf die erstinstanzliche Entscheidung – im wesentlichen mit folgender Begründung zurück:
Die Klägerin könne kein ARG beanspruchen, weil die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt sei. Da die behaupteten Beschäftigungen bei einem nichtdeutschen Versicherungsträger zurückgelegt worden seien, beurteile sich ihre Anrechenbarkeit nach §§ 15, 16 des Fremdrentengesetzes (FRG). Dabei könne offenbleiben, ob die Klägerin damals iS von § 17a FRG bzw § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) gehört habe. Jedenfalls habe sie nicht glaubhaft gemacht (vgl § 4 FRG, § 3 WGSVG), daß sie zur streitigen Zeit versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Für die Zeit bis 1939 habe sie im Entschädigungsverfahren stets nur eine Schulausbildung angegeben. Im übrigen seien die insoweit von ihr und den Zeugen im Rentenverfahren gemachten Angaben widersprüchlich.
Auch eine Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten im Ghetto R. von Mai 1940 bis Januar 1943 scheide aus. Dafür sei Voraussetzung, daß es sich dabei um ein nach dem damaligen Recht der §§ 1226 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gehandelt habe, das durch eine Vereinbarung über den Austausch von Arbeit und Lohn zwischen ihr und einem deutschen Arbeitgeber zustande gekommen sei. Die Klägerin habe dort jedoch keine freiwillige, sondern eine ihr aufgezwungene Arbeit verrichtet, welche nicht der Rentenversicherungspflicht unterlegen habe. Damals habe im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete, zu dem R. gehört habe, die Verordnung über die Einführung des Arbeitszwanges für die jüdische Bevölkerung im Generalgouvernement vom 26. Oktober 1939 gegolten, aufgrund deren die Juden durch obrigkeitliche Anordnungen zur Zwangsarbeit herangezogen und in Zwangsarbeitertruppen zusammengefaßt worden seien. Durch die dazu ergangene Zweite Durchführungsvorschrift vom 12. Dezember 1939 sei zusätzlich bestimmt worden, daß die Zwangsarbeitspflichtigen nach Möglichkeit entsprechend etwa erlernter Berufe bei lagermäßiger Unterbringung zur Arbeit eingesetzt würden. Zwar behaupte die Klägerin, daß sie die Tätigkeit als gelernte Schneiderin in der Schneiderei-Cooperative im Ghetto von R. freiwillig aufgenommen habe und dafür vereinbarungsgemäß entlohnt worden sei, doch erscheine diese Angabe angesichts der entgegenstehenden damaligen Gesetzeslage im Generalgouvernement nicht überzeugend. Es dürfte vielmehr so gewesen sein, wie es die Klägerin in ihrem früheren Antrag auf Entschädigung für Schaden an Körper und Gesundheit vom 7. August 1963 und in ihrer „eidlichen Erklärung” vom 27. Juli 1963 mitgeteilt habe, daß sie nämlich nach der Besetzung ihrer Heimatstadt sofort schwerste Zwangsarbeit bei elender Ernährung habe verrichten müssen. Dies sei von den Zeugen A. W., T. G. K. und P. W. in den Erklärungen vom 8. August 1963, 22. September 1963 und 7. September 1955 bestätigt worden. Dem entspreche es auch, daß die Klägerin laut Anamnese im ärztlichen Gutachten vom 27. Dezember 1970 angegeben habe, sie habe für ihre Ghettotätigkeit in der Schneiderei-Cooperative keine Bezahlung erhalten und sei eine Zeit lang auch im Außenkommando beim Bahnbau eingesetzt gewesen (ebenso zum letzten Punkt schon die eidesstattliche Erklärung der Klägerin vom 7. September 1955).
Angesichts der eindeutigen Gesetzeslage im Generalgouvernement und angesichts der nicht aufzuklärenden Widersprüche in den Aussagen der Klägerin sei nicht zu erwarten, daß die von ihr beantragte Vernehmung der Zeuginnen K., S. und Z., die ohnehin nur im Wege der Rechtshilfe und daher ohne die Möglichkeit eines persönlichen Eindrucks durch das erkennende Gericht vorgenommen werden könnte, zu einer weiteren Sachaufklärung führen würde. Dies müsse um so mehr gelten, als von diesen Zeuginnen bereits schriftliche Erklärungen vorlägen, in denen die behauptete Beschäftigung als Näherin im Ghetto R. bestätigt worden sei. Deshalb habe der Senat in Übereinstimmung mit den vom Bundesgerichtshof (BGH) in der Entscheidung vom 14. Juni 1967 (in RzW 1967, 500) aufgestellten Grundsätzen von der beantragten Zeugenvernehmung abgesehen.
Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Zur Begründung trägt sie ua vor:
Die angefochtene Entscheidung könne auf einem Verfahrensmangel beruhen, da das LSG den in der mündlichen Verhandlung vom 17. April 2000 hilfsweise gestellten Beweisanträgen zur Vernehmung der Zeuginnen K., S. und Z. ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Durch die beantragte Vernehmung der Zeuginnen habe Beweis darüber erhoben werden sollen, ob sie, die Klägerin, während ihrer behaupteten Beschäftigung im Ghetto R. von Mai 1940 bis Januar 1943 einer entgeltlichen und damit versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen sei. Alle drei Zeuginnen hätten aus eigener Wahrnehmung dazu Angaben machen können. Das LSG habe mit einer untauglichen Begründung versucht, sich der Durchführung der Beweisaufnahme zu entziehen.
Soweit das LSG auf die Gesetzeslage im Generalgouvernement verweise, sei es nicht davon ausgegangen, daß unter keinen erdenklichen Umständen ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis im Ghetto R. habe begründet werden können. Indem es gleichwohl der Meinung gewesen sei, die beantragte Vernehmung der Zeuginnen könne nicht zur Bejahung eines Beschäftigungsverhältnisses führen, habe das LSG eine Beweiswürdigung unzulässigerweise vorweggenommen. Entsprechendes gelte bezüglich des Hinweises des LSG, durch die Zeugenvernehmung ließen sich die von ihm behaupteten Widersprüche in ihren Angaben nicht aufklären. Ebensowenig stichhaltig sei die Begründung, daß die Vernehmung der Zeuginnen nur im Wege der Rechtshilfe hätte vorgenommen werden können und deshalb für den Berufungssenat keine Möglichkeit bestanden habe, sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Denn das Gericht hätte jederzeit die Möglichkeit gehabt, die Zeuginnen persönlich zu hören, auch wenn dies mit Kosten verbunden gewesen wäre.
Schließlich habe das LSG auch nicht im Hinblick auf die Entscheidung des BGH vom 14. Juni 1967 von der Zeugenvernehmung absehen dürfen. Die Verwertung von schriftlichen Erklärungen anstelle einer persönlichen Vernehmung komme nach dieser Rechtsprechung nur in Betracht, wenn sie für die Aufklärung und Feststellung des Sachverhaltes als ausreichend und zweckmäßig erscheine. Davon könne bei den schriftlichen Aussagen der Zeuginnen nicht ausgegangen werden, denn diese ließen hinsichtlich des Vorliegens einer versicherungspflichtigen Beschäftigung so viele Fragen offen, daß sie nicht geeignet seien, den hier streitigen Sachverhalt ausreichend aufzuklären.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG vom 17. April 2000 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision der Klägerin ist begründet; sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die vorinstanzlichen Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob die für eine Rentengewährung erforderliche Wartezeit erfüllt ist. Insbesondere ist unklar, ob die Klägerin während ihres Ghettoaufenthaltes in einem als Versicherungszeit anrechenbaren Beschäftigungsverhältnis gestanden hat.
Der Rentenanspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung, da der Rentenantrag im November 1990 gestellt worden ist und sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB VI≫).
Rechtsgrundlage für den Anspruch auf ARG ist § 1248 Abs 5 iVm Abs 7 Satz 3 RVO. Diese Vorschrift ist trotz des Auslandswohnsitzes der Klägerin (vgl § 30 Abs 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB I≫) anwendbar. Dies folgt aus § 30 Abs 2 SGB I iVm dem Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über soziale Sicherheit (Abk Israel SozSich) idF des Änderungsabkommens vom 7. Januar 1986 (BGBl 1975 II 246, 1986 II 863), das in Art 4 Abs 1 iVm Art 3 Abs 1 Buchst a und Art 2 Abs 1 Nr 1 Buchst c eine Gleichstellung israelischer Staatsangehöriger, die sich in Israel aufhalten, mit deutschen Staatsangehörigen vorsieht. Im übrigen ergibt sich bereits aus den Vorschriften über die Rentenzahlung ins Ausland (vgl §§ 1315 ff RVO iVm § 37 Abs 1 SGB I), daß ein Aufenthalt im Ausland der Begründung eines Rentenanspruchs aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung nicht von vornherein entgegensteht.
Gemäß § 1248 Abs 5 RVO erhält ARG ein Versicherter, der das 65. Lebensjahr vollendet und nach Abs 7 Satz 3 dieser Vorschrift die Wartezeit von 60 Kalendermonaten erfüllt hat. Während die Klägerin bereits im Juni 1987 die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hat, ist fraglich, ob sie auch die erforderliche Wartezeit vorweisen kann. Als anrechnungsfähige Versicherungszeiten kommen insoweit Beitrags- und Ersatzzeiten iS von §§ 1250, 1251 RVO in Betracht (vgl § 1249 RVO), wobei die Anrechnung von Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs 2 RVO das vorherige Bestehen einer Versicherung oder die spätere Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit voraussetzt.
Was die rentenrechtliche Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten anbelangt, so macht die Klägerin im Revisionsverfahren ausschließlich geltend, daß sie von Mai 1940 bis Januar 1943 während ihres Aufenthaltes im Ghetto R. versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Die Anrechnung solcher Zeiten richtet sich nicht nach § 1250 RVO, sondern nach §§ 15, 16 FRG.
Eine Anerkennung als Beitragszeit iS von § 1250 Abs 1 Buchst a RVO setzt voraus, daß nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten. Das LSG hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob für den streitigen Zeitraum eine Beitragszahlung angenommen werden kann. Dies wäre dann unbedenklich, wenn hier nach § 14 Abs 2 WGSVG in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung (aF) die Berücksichtigung einer fiktiven Beitragszeit möglich wäre. Die zum 1. Januar 1992 in Kraft getretene Neufassung der §§ 7 bis 17 WGSVG (nF) findet vorliegend noch keine Anwendung, da sie sich – wie in § 7 WGSVG nF zum Ausdruck kommt – auf das ebenfalls im Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) enthaltene SGB VI beziehen. § 14 Abs 2 WGSVG aF bestimmt: Hat der Verfolgte eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt und sind aus Verfolgungsgründen für die Beschäftigung oder Tätigkeit keine Beiträge entrichtet worden, so gelten für diese Zeiten Beiträge als entrichtet. Unter einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung iS dieser Vorschrift ist grundsätzlich eine Beschäftigung zu verstehen, die nach dem seinerzeit geltenden deutschen Recht konkret Versicherungspflicht begründet hat (vgl BSG SozR 5070 § 19 Nr 9, 16). Soweit das LSG ohne nähere Begründung davon ausgegangen ist, daß die Frage einer Versicherungspflicht der Klägerin „nach dem damaligen Recht des § 1226 Abs 1 Nr 1 ff RVO” zu beurteilen ist, vermag der erkennende Senat dem nicht zu folgen.
Die Stadt R. (damalige deutsche Bezeichnung: Reichshof) lag im sogenannten Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete. Sie gehörte zum Distrikt Krakau (vgl Koch/Hartmann, Die Rentenversicherung im SGB, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Polen, Teil C, Anhang 1, S C3; Mischkowsky, Die eingegliederten Ostgebiete und das Generalgouvernement, 1951, S 91 f). Das Generalgouvernement wurde durch den Erlaß des „Führers und Reichskanzlers” über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete vom 12. Oktober 1939 (RGBl I 2077) errichtet. Im Gegensatz zu anderen Gebieten Polens (vgl den Erlaß über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8. Oktober 1939, RGBl I 2042, geändert 2057) wurde es dem Deutschen Reich zwar an–, aber nicht eingegliedert (vgl zB Klein, AöR 32 ≪1941≫, 227 ff, 258 ff; Majer, VerwArch 1999, 163, 168 f; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im 2. Weltkrieg, 1989, S 173; Viehweg, Reichsverwaltungsblatt 1940, 581 ff; Weh, Deutsches Recht 1940, 1393 ff). Trotz vielfältiger Abhängigkeiten war das Generalgouvernement mithin dem Deutschen Reich gegenüber Ausland (aA wohl SG Düsseldorf, Urteil vom 23. März 2000 – S 15 RJ 50/98 –, Umdruck S 11 ff). Das bisher geltende Recht blieb grundsätzlich in Kraft, wurde jedoch in der Folgezeit verschiedentlich durch Verordnungen des Ministerrates für die Reichsverteidigung, des Beauftragten für den Vier-Jahres-Plan sowie des Generalgouverneurs geändert und ergänzt (vgl §§ 4, 5 des Erlasses vom 12. Oktober 1939; allgemein dazu Adami, Deutsches Recht 1940, 604 ff).
Im Bereich der Sozialversicherung ergab sich im wesentlichen folgende Rechtslage: Hinsichtlich der Versicherungspflicht galten weitgehend die polnischen Sozialversicherungsgesetze fort (vgl §§ 1 f der Verordnung über die Sozialversicherung in den besetzten polnischen Gebieten vom 17. Oktober 1939, Verordnungsblatt für die besetzten Gebiete in Polen S 58; dazu Frauendorfer, Soziales Deutschland 1941, V 93 ff; Koch/Hartmann, aaO, Polen, Einführung 2.3.4, S B12; Mischkowsky, aaO, (S 10) S 95 ff; Stamm, Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht 1942, 37). Für die im Generalgouvernement beschäftigten deutschen Staatsangehörigen wurden allerdings durch die Verordnung über die Sozialversicherung der deutschen Staatsangehörigen im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete vom 17. Juni 1940 (RGBl I 908 = Verordnungsblatt für das Generalgouvernement ≪VBlGG≫ I 387) rückwirkend zum 1. Oktober 1939 – mit gewissen Abweichungen – die Vorschriften der Reichsversicherung eingeführt (vgl auch den Erlaß des Reichsarbeitsministers ≪RAM≫ vom 19. Oktober 1940, AN 1940, II 376; Grünewald, Die Arbeiter-Versorgung 1940, 253 ff). Dieser Personenkreis erweiterte sich später um Angehörige des Protektorates Böhmen und Mähren sowie Ausländer (vgl Erlasse des RAM vom 20. August 1941, AN 1941, II 346, und vom 24. Februar 1942, AN 1942, II 165; dazu auch Mischkowsky, aaO, S 98 f).
Als polnische Staatsangehörige, die nach damaliger deutscher Rechtsauffassung sogar als staatenlos angesehen wurden (vgl RGZ 167, 274, 277), gehörte die Klägerin danach bei der Ausübung einer abhängigen Beschäftigung nicht zu den von den Reichsversicherungsgesetzen erfaßten Personen (vgl dazu auch BSG SozR 5070 § 14 Nr 9; Schleswig-Holsteinisches LSG Breithaupt 1972, 232). Anders als für den ehemaligen Reichsgau Warteland (vgl dazu BSG SozR 3-5070 § 14 Nr 3) sind für das Generalgouvernement auch keine Regelungen ersichtlich, durch die ein ursprünglich den polnischen Sozialversicherungsgesetzen unterfallendes Versicherungsverhältnis später in die Reichsversicherung überführt worden sein könnte. Auch aus heutiger Sicht erscheint es nicht möglich, die Klägerin dem Personenkreis gleichzustellen, für den seinerzeit bei einer Beschäftigung im Generalgouvernement die Reichsversicherungsgesetze galten. Wenn damals auf polnische Versicherte die polnischen Sozialversicherungsgesetze anwendbar blieben, so liegt darin insbesondere keine gegen fundamentale Prinzipien der Gerechtigkeit verstoßende Behandlung (vgl dazu allgemein BSG SozR 3-2200 § 1251 Nr 7 S 50), deren Fortwirkung im gegenwärtigen Recht verhindert werden müßte (aA SG Düsseldorf, Urteil vom 23. März 2000 – S 15 RJ 50/98 –, Umdruck S 11 ff, 20; Pawlita, ZfS 1999, 71, 77). Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, daß diese Regelung die gesamte polnische Bevölkerung, also nicht nur deren jüdischen Teil, betraf. Soweit für diesen Personenkreis leistungsrechtliche Einschränkungen vorgenommen wurden (vgl zB die Zweite Verordnung über die Sozialversicherung im Generalgouvernement vom 7. März 1940, VBlGG I 92), wirken sich diese heute nicht mehr aus.
Scheidet mithin eine Anrechnung von Beitragszeiten unmittelbar nach § 1250 RVO aus, so bleibt eine Berücksichtigung von Versicherungszeiten gemäß §§ 15, 16 FRG zu prüfen. § 15 Abs 1 Satz 1 FRG sieht vor, daß Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen. Nach Maßgabe des § 16 FRG gilt entsprechendes für Beschäftigungszeiten im Vertreibungsgebiet. Zwar gehört die Klägerin – soweit ersichtlich – nicht zu dem gemäß § 1 FRG begünstigten Personenkreis. Insbesondere ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß sie eine anerkannte Vertriebene iS von § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ist. Ihr kann jedoch die Regelung des § 20 WGSVG zugute kommen, die durch Art 21 Nr 4 RRG 1992 rückwirkend zum 1. Februar 1971 (vgl § 20 Abs 3 Satz 1 WGSVG) neu gefaßt worden ist. Nach Abs 1 Satz 1 dieser Vorschrift stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des BVFG vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Da die Klägerin als Verfolgte iS von § 1 BEG anerkannt ist und Polen vor dem 1. Juli 1990 verlassen hat (vgl § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG), kann sie vertriebene Verfolgte sein, wenn sie – mangels einer damaligen deutschen Volkszugehörigkeit (vgl § 6 BVFG) – iS von § 20 Abs 1 Satz 2 iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat (vgl dazu zB BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 7).
Gemäß § 17a FRG finden die für die gesetzliche Rentenversicherung maßgebenden Vorschriften dieses Gesetzes auch auf Personen Anwendung, die bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf ihr jeweiliges Heimatgebiet erstreckt hat, dem dSK angehört haben, das 16. Lebensjahr bereits vollendet hatten und sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt haben. Auch diese Norm könnte der Klägerin weiterhelfen, da sie beim Beginn des deutschen Angriffs auf Polen im September 1939 bereits das 16. Lebensjahr vollendet hatte (vgl dazu BSG SozR 3-5050 § 17a Nr 2, 3).
Ob die für die Anwendung sowohl des § 20 WGSVG als auch des § 17a FRG erforderliche (ehemalige) Zugehörigkeit zum dSK im vorliegenden Fall bejaht werden kann, haben die Vorinstanzen offengelassen. Seine Ablehnung einer Anerkennung der im Revisionsverfahren noch streitigen Versicherungszeit von Mai 1940 bis Januar 1943 hat das LSG darauf gestützt, daß die Klägerin seinerzeit nicht in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Dieser Beurteilung ist bereits deshalb nicht ohne weiteres zu folgen, weil das LSG dabei zu Unrecht von einer Anwendbarkeit der RVO ausgegangen ist. Unterstellt man, daß die Klägerin zu den nach § 20 WGSVG oder § 17a FRG maßgebenden Stichtagen dem dSK angehört hat, finden die §§ 15, 16 FRG mit der Folge Anwendung, daß deren Tatbestandsmerkmale zu prüfen sind.
Gemäß § 15 Abs 1 FRG kommt es darauf an, ob nach dem seinerzeit im Generalgouvernement geltenden Recht eine Beitragszeit zurückgelegt worden ist. Nach § 15 Abs 3 FRG stehen Zeiten einer Beschäftigung, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten iS des Abs 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit (vgl § 15 Abs 2 FRG) Beiträge nicht entrichtet worden sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich, soweit für sie nach Bundesrecht Beiträge zu zahlen gewesen wären. Damit kann zwar möglicherweise die Frage einer tatsächlichen Beitragsentrichtung offenbleiben, nicht jedoch Inhalt und Anwendung der im Generalgouvernement in Kraft gebliebenen polnischen Sozialversicherungsgesetze bezüglich einer Versicherungspflicht der Klägerin. Aufgrund seiner abweichenden Rechtsauffassung hat das LSG dazu keine Feststellungen getroffen. Da es sich dabei um nicht revisibles Recht handelt, dessen Feststellung den Tatsacheninstanzen obliegt (vgl Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 6. Aufl, § 162 RdNr 6a f), ist der erkennende Senat grundsätzlich gehindert zu beurteilen, ob die Voraussetzungen des § 15 FRG vorliegen. Es besteht auch keine Veranlassung, die insoweit fehlenden Feststellungen zum damaligen polnischen Sozialversicherungsrecht ausnahmsweise im Revisionsverfahren nachzuholen (vgl dazu zB BSGE 71, 163, 165 = SozR 3-5050 § 15 Nr 4). Denn auch dadurch könnte eine Zurückverweisung der Sache nicht vermieden werden. Es fehlt nämlich jedenfalls an hinreichenden Tatsachenfeststellungen für eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits.
Abgesehen davon, daß ungeklärt ist, ob für die Klägerin damals Rentenversicherungsbeiträge entrichtet worden sind (dies würde eine Anerkennung von Zeiten ohne Rücksicht auf die Einschränkungen des § 15 Abs 3 FRG ermöglichen), lassen die berufungsgerichtlichen Feststellungen auch keine Aussage darüber zu, ob die Klägerin damals iS von § 15 Abs 3 FRG Zeiten einer Beschäftigung zurückgelegt hat, für die nach Bundesrecht Beiträge zu zahlen gewesen wären. Entsprechendes gilt hinsichtlich des in § 16 Abs 1 Satz 2 FRG vorgesehenen Erfordernisses, daß die fragliche Beschäftigung nach dem am 1. März 1957 geltenden Bundesrecht Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung hätte begründet haben müssen, wenn sie im Bundesgebiet verrichtet worden wäre.
Der danach bedeutsame unbestimmte Rechtsbegriff der versicherungspflichtigen Beschäftigung iS des deutschen Sozialversicherungsrechts ist in letzter Zeit durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gerade in bezug auf Arbeiten, die während eines Ghettoaufenthaltes verrichtet worden sind, näher konkretisiert worden (vgl dazu BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15; BSG SozR 3-2200 § 1218 Nr 16; BSG SozR 3-5070 § 14 Nr 2, 3). Danach ist eine von den Merkmalen der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit bestimmte Beschäftigung, die grundsätzlich der Versicherungspflicht unterliegt, von nichtversicherungspflichtiger Zwangsarbeit abzugrenzen (vgl zB BSG SozR 3-5070 § 14 Nr 3 S 19 f). Dies gilt auch, soweit die Arbeit unter den allgemeinen Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verrichtet worden ist (vgl BSG SozR 3-2200 § 1248 Nr 16; BSG SozR 3-5070 § 14 Nr 3). Es besteht kein Anlaß, angesichts der besonderen Verhältnisse im damaligen Generalgouvernement von dieser Rechtsprechung abzuweichen, wenn es um die von § 15 Abs 3, § 16 Abs 1 Satz 2 FRG geforderte Prüfung geht, ob es sich um eine Beschäftigung gehandelt hat, die nach Bundesrecht versicherungspflichtig gewesen wäre (aA wohl SG Düsseldorf, Urteil vom 23. März 2000 – S 15 RJ 50/98 –, Umdr S 25 ff; Pawlita, ZfS 1999, 71, 75 ff). Insbesondere würde es den Rahmen des Typusbegriffs der (versicherungspflichtigen) Beschäftigung sprengen, bei der damaligen Arbeit von jüdischen Verfolgten allein darauf abzustellen, ob eine Tätigkeit verrichtet wurde, die in rechtsstaatlich geprägten Gesellschaften gewöhnlich von freien, bezahlten Arbeitskräften ausgeübt wird, dh ob im Ergebnis – auch wirtschaftlich gesehen – Erwerbsarbeit geleistet wurde (so jedoch SG Düsseldorf, aaO, S 110).
Entgegen der Auffassung des LSG läßt sich eine Beschäftigung in diesem Sinne anhand der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht verneinen. Zwar ist die Vorinstanz davon ausgegangen, die Klägerin habe im Ghetto R. keine freiwillige, sondern eine ihr aufgezwungene Tätigkeit verrichtet, da sie weder hinsichtlich der Aufnahme noch der Ausgestaltung ihrer Arbeit in der Schneiderei-Cooperative habe Einfluß ausüben können. Diese Feststellungen können der revisionsgerichtlichen Entscheidung jedoch nicht zugrunde gelegt werden; denn sie sind in verfahrensfehlerhafter Weise zustande gekommen. Insoweit greift die Rüge der Klägerin durch, das LSG habe seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (vgl § 103 SGG) verletzt. Es hätte sich nach den Umständen des vorliegenden Falls zu weiteren Ermittlungen, insbesondere zu einer Vernehmung der von der Klägerin benannten Zeuginnen K., S. und Z., gedrängt fühlen müssen.
Zur Begründung seiner diesbezüglichen Beurteilung hat sich das LSG zunächst auf die Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements vom 26. Oktober 1939 (VBlGG 6) und die dazu ergangene Zweite Durchführungsvorschrift vom 12. Dezember 1939 (VBlGG 246) gestützt. Dabei hat es jedoch unterlassen, sich näher damit zu befassen, wie dieser Arbeitszwang nach den einschlägigen Regelungen umgesetzt werden sollte und wie er dann tatsächlich durchgeführt worden ist. Es liegt bereits ein gewisser Widerspruch darin, daß die Vorinstanz einerseits der genannten Verordnung entnimmt, die dem Arbeitszwang unterliegenden Juden sollten „in Zwangsarbeitertruppen zusammengefaßt” werden (vgl § 1 Abs 1 Satz 2 der Verordnung; dazu auch § 2 der Zweiten Durchführungsvorschrift, wo von einem Arbeitseinsatz bei lagermäßiger Unterbringung die Rede ist), andererseits aber ohne weiteres davon ausgeht, auch die Tätigkeit der Klägerin in einer Schneiderei-Cooperative während ihres Ghettoaufenthaltes (also offenbar ohne lagermäßige Unterbringung) müsse nach diesen Bestimmungen zwangsweise verrichtet worden sein. Des weiteren ist das Berufungsgericht nicht darauf eingegangen, daß die Zweite Durchführungsvorschrift zwischen der Erfassung der dem Arbeitszwang unterliegenden Personen, die sich überdies zunächst nur auf männliche Juden erstrecken sollte (vgl § 3 der Zweiten Durchführungsvorschrift), und dem Arbeitseinsatz selbst unterscheidet, der erst auf besonderen Abruf seitens der deutschen Behörden erfolgen sollte (vgl § 4 der Zweiten Durchführungsvorschrift). Ebensowenig hat das LSG berücksichtigt, daß verschiedene Vorschriften des im Generalgouvernement geltenden Rechts auf die Möglichkeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von Juden hindeuten. So sieht zB § 8 der Zweiten Verordnung über die Sozialversicherung im Generalgouvernement (Unterstützungen und Verfahren) vom 7. März 1940 (VBlGG I 92) bestimmte Leistungen für „versicherte Juden” vor. Besonders zu erwähnen ist insoweit auch die Neunte Durchführungsverordnung zur Verordnung vom 31. Oktober 1939 über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und den Arbeitsschutz im Generalgouvernement (Regelung von Arbeitsbedingungen der Juden im Generalgouvernement) vom 15. Dezember 1941 (VBlGG 1942, 3). Schließlich hat sich das Berufungsgericht auch nicht mit dem Schrifttum auseinandergesetzt, das verschiedentlich über den Einsatz von Juden in freien Arbeitsverhältnissen berichtet (vgl zB Barwig in Barwig/Saathoff/Weyde ≪Hrsg≫, Entschädigung für NS-Zwangsarbeit, 1998, S 28 f; Majer, „Fremdvölkische” im Dritten Reich, 1981, S 554 ff; Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement, 1999, S 115 ff, 164 ff).
Bestand bereits aufgrund dieser rechtlichen und geschichtlichen Gegebenheiten besondere Veranlassung, die genauen Umstände näher aufzuklären, unter denen die Klägerin während ihrer Zeit im Ghetto R. gearbeitet hat, so gilt dies erst recht im Hinblick auf die vom LSG herausgestellten Widersprüche zwischen dem Berufungsvorbringen der Klägerin sowie den von ihr dazu vorgelegten Zeugenerklärungen auf der einen Seite und früheren im Entschädigungsverfahren gemachten Angaben auf der anderen Seite. Abgesehen davon, daß der Begriff „Zwangsarbeit”, der von der Klägerin im Entschädigungsverfahren offenbar auch für die Tätigkeit im Ghetto verwendet worden ist, subjektiv geprägt sein kann und keinen Aufschluß über die konkreten Arbeitsbedingungen gibt, zwingen derartige Unstimmigkeiten geradewegs dazu, alle verfügbaren Beweismittel auszuschöpfen (vgl zB BSG Breithaupt 1956, 716; BVerwG Buchholz 310 § 96 VwGO Nr 32).
Das Gericht darf die Vernehmung eines Zeugen grundsätzlich nur dann ablehnen, wenn das angebotene Beweismittel schlechterdings untauglich ist, wenn es auf die unter Beweis gestellte Tatsache nicht ankommt oder diese als wahr unterstellt wird (vgl BGHZ 40, 367, 374; BVerwG Buchholz 310 § 86 Abs 1 VwGO Nr 112). Da das LSG die Entgeltlichkeit der von der Klägerin im Ghetto verrichteten Tätigkeit, welche von den Zeuginnen K., S. und Z. unter anderem hätte bekundet werden sollen, weder als unerheblich angesehen noch als wahr unterstellt hat, hätte es auf die beantragte Zeugenvernehmung nur dann verzichten dürfen, wenn es sich dabei um völlig ungeeignete Beweismittel gehandelt haben sollte. Eine derartige Untauglichkeit läßt sich den Feststellungen des LSG nicht entnehmen.
Insbesondere reicht der allgemeine Hinweis der Vorinstanz darauf, daß die Zeuginnen nur im Wege der Rechtshilfe und daher ohne die Möglichkeit eines persönlichen Eindrucks durch den Berufungssenat hätten vernommen werden können, als Begründung für das Unterlassen der beantragten Beweiserhebung nicht aus. Sofern das LSG eine persönliche Vernehmung der Zeuginnen vor ihm selbst als erforderlich angesehen hat (vgl dazu BGH NJW 1990, 3088 f), durfte es zwar die Beweisaufnahme durch ein israelisches Gericht (vgl § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 363 der Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫) für ungeeignet halten; es hätte dann jedoch zunächst versuchen müssen, die Zeuginnen zu einem eigenen Gerichtstermin in Deutschland zu laden, bevor es zu der Überzeugung kommen konnte, die Beweismittel seien gänzlich untauglich, da der Vernehmung tatsächliche oder rechtliche Hindernisse entgegenstünden (vgl dazu BGH BGHR StPO § 244 Abs 2 – Auslandszeuge 2; BGH NJW 1990, 1124; 1992, 1768; Damrau in Münchener Komm zur ZPO, 2. Aufl, § 377 RdNr 5; Chr. Berger in Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl, § 377 RdNr 33). Daß sich die Zeuginnen von vornherein oder auf Anfrage des LSG geweigert hätten, zu einer Vernehmung nach Deutschland zu kommen, ist dem Berufungsurteil nicht zu entnehmen.
Wie die Klägerin zutreffend rügt, durfte das LSG auch angesichts der vorliegenden schriftlichen Erklärungen der Zeuginnen nicht von deren Vernehmung absehen. Die Vorinstanz hat insoweit den auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (vgl § 117 SGG) nicht hinreichend beachtet. Es braucht hier nicht entschieden zu werden, unter welchen Voraussetzungen im einzelnen dieser Grundsatz durchbrochen werden kann, insbesondere auch nicht, ob die Sozialgerichte Auskünfte jeder Art nach § 106 Abs 3 Nr 3 SGG von Privatpersonen auch dann einholen dürfen, wenn die Voraussetzungen des § 118 Abs 1 SGG iVm § 377 ZPO nicht erfüllt sind (vgl dazu BSG SozR 1500 § 117 Nr 3). Jedenfalls setzt die Verwertung einer solchen Auskunft anstelle einer mündlichen Zeugenaussage voraus, daß sie nach den besonderen Umständen des Einzelfalles ein geeignetes Mittel zur Erforschung des Sachverhalts darstellt (vgl BSGE 4, 60, 62; 16, 182, 187). Abgesehen davon, daß die von der Klägerin unaufgefordert eingereichten Zeugenerklärungen kaum als gerichtlich eingeholte Auskünfte iS von § 106 Abs 3 Nr 3 SGG angesehen werden können, ist das LSG – zu Recht – selbst nicht davon ausgegangen, diese reichten aus, um Tatsachen glaubhaft zu machen (vgl § 4 FRG), welche die Bejahung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung der Klägerin im Ghetto ermöglichten. Zum einen handelt es sich um pauschale Angaben, die sich nicht näher mit den Bedingungen des Eingehens und Ablaufes der betreffenden Arbeit befassen. Zum anderen bestehen, wie das LSG festgestellt hat, insoweit Widersprüche zu den Bekundungen der Klägerin und weiterer Personen im Entschädigungsverfahren.
In diesem Zusammenhang kann sich das LSG auch nicht auf die in dem Urteil des BGH vom 14. Juni 1967 (RzW 1967, 500) aufgestellten Grundsätze stützen. Dabei hat die Vorinstanz bereits unberücksichtigt gelassen, daß die von ihr herangezogene Entscheidung des BGH auf der Anwendung einer Bestimmung beruht, die bei Erlaß des Berufungsurteils schon lange nicht mehr in Kraft war. Nach § 377 Abs 4 ZPO in der damals geltenden Fassung (aF) der Verordnung zur Vereinfachung des Zustellungswesens vom 17. Juni 1933 (RGBl I 394) konnte eine schriftliche Zeugenerklärung, deren Richtigkeit der Zeuge an Eides Statt versichert hat, nach dem Ermessen des Gerichts für ausreichend angesehen werden, wenn beide Parteien damit einverstanden waren. Diese Vorschrift ist in der Folgezeit mehrfach geändert worden. An ihre Stelle ist ab 1. April 1991 § 377 Abs 3 ZPO idF (nF) des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes vom 17. Dezember 1990 (BGBl I 2847) getreten. Dieser bestimmt: Das Gericht kann eine schriftliche Beantwortung der Beweisfrage anordnen, wenn es dies im Hinblick auf den Inhalt der Beweisfrage und die Person des Zeugen für ausreichend erachtet. Der Zeuge ist darauf hinzuweisen, daß er zur Vernehmung geladen werden kann. Das Gericht ordnet die Ladung des Zeugen an, wenn es dies zur weiteren Klärung der Beweisfrage für notwendig erachtet. Unterstellt man die Anwendbarkeit dieser Norm im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl § 202 SGG), so ist nicht ersichtlich, daß der Berufungssenat den sich daraus ergebenden Anforderungen gerecht geworden ist. Weder hat er eine schriftliche Beantwortung von konkreten Beweisfragen angeordnet noch die schriftlichen Bekundungen der Zeuginnen für ausreichend gehalten.
Im übrigen hat die Klägerin zutreffend darauf hingewiesen, daß auch nach den seinerzeit vom BGH aufgestellten Grundsätzen im vorliegenden Fall eine gezielte Zeugenvernehmung nicht unterbleiben durfte. Selbst wenn danach gemäß § 377 Abs 4 ZPO aF eine Verwertung der von der Klägerin vorgelegten Zeugenerklärungen zulässig war, hätte das LSG hier nicht ohne weiteres von der beantragten Vernehmung der Zeuginnen Abstand nehmen dürfen. Zum einen hat die Vorinstanz – anders als in dem vom BGH entschiedenen Fall – hier nicht zum Ausdruck gebracht, daß sie bereits aufgrund der im Entschädigungsverfahren gemachten Angaben absolut davon überzeugt sei (vgl dazu BVerwG NVwZ 1982, 244), die Klägerin habe seinerzeit Zwangsarbeit geleistet. Vielmehr ist in dem Berufungsurteil nur dargelegt worden, es „dürfte” so gewesen sein, wie die Klägerin damals bekundet habe, daß sie nämlich nach der Besetzung ihrer Heimatstadt sofort schwerste Zwangsarbeit habe verrichten müssen. Zum anderen hat das LSG nicht erkennen lassen, daß es dem persönlichen Eindruck der Zeuginnen keine entscheidende Bedeutung beigemessen hat (vgl BGH RzW 1967, 500, 502). Vielmehr ist seinen Entscheidungsgründen eher zu entnehmen, daß es lediglich von einer Vernehmung der Zeuginnen im Wege der Rechtshilfe – gerade wegen der fehlenden Möglichkeit eines persönlichen Eindrucks durch den Berufungssenat – keine weitere Aufklärung des Sachverhalts erwartet hat.
Letztlich beruht das Unterlassen der Zeugenvernehmung auf einer unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung durch das LSG (vgl dazu BSGE 2, 273, 275; BSG SozR Nr 27 zu § 162 SGG). Ein Richter darf die Vernehmung eines Zeugen grundsätzlich nicht mit der Begründung ablehnen, er werde sich von dessen Aussage nicht überzeugen lassen (vgl BSG, Urteile vom 26. Januar 1983, USK 8341, und vom 2. März 1983, USK 8358; BVerwG Buchholz 310 § 96 VwGO Nr 11; BVerwG Buchholz 310 § 86 Abs 1 VwGO Nr 112). Eben dies hat das LSG im Ergebnis getan, indem es die von ihm in den Aussagen der Klägerin festgestellten Widersprüche als nicht aufklärbar angesehen hat, ohne vorher die dazu benannten Zeuginnen vernehmen zu lassen oder selbst zu vernehmen.
Da nach alledem weitere Ermittlungen erforderlich sind, die der erkennende Senat im Revisionsverfahren nicht durchführen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 3 SGG). Diesem Gericht steht es frei, ob es nunmehr zunächst die Zugehörigkeit der Klägerin zum dSK oder die tatsächlichen und rechtlichen Umstände deren damaliger Tätigkeit klärt. Soweit es dabei auf die Aussagen von in Israel wohnenden Zeugen ankommt, könnte sich die Verwendung eines Beweisfragenkataloges anbieten, bevor eine Ladung der Zeugen nach Deutschland versucht wird. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
NZS 2002, 96 |
SozR 3-2200 § 1248, Nr. 17 |