Leitsatz (amtlich)
Die AVG § 100 Abs 2 (= RVO § 1321 Abs 2), § 19 WGSVG - beide idF vor dem 20. RAG - sind nicht auf Verfolgte anwendbar, die nach dem 8.5.1945 in die 1938/39 in das deutsche Reich eingegliederten Gebiete zurückgekehrt sind und sie erst nach 1949 wieder verlassen haben.
Normenkette
AVG § 100 Abs 2 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1321 Abs 2 Fassung: 1960-02-25; WGSVG § 19 Fassung: 1970-12-22; AVG § 100 Abs 5 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1321 Abs 5 Fassung: 1960-02-25; WGSVG § 18 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 30.05.1980; Aktenzeichen L 1 An 150/79) |
SG Berlin (Entscheidung vom 12.06.1979; Aktenzeichen S 10 An 2564/79) |
Tatbestand
Der 1906 geborene Kläger ist rassisch Verfolgter iS von § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er war ab 1926 in B (Oberschlesien) versicherungspflichtig beschäftigt. Im September 1939 floh er aus Furcht vor der nationalsozialistischen Verfolgung über Lemberg in die Sowjetunion. Von dort wurde er aufgrund polnisch-sowjetischer Vereinbarungen Anfang Juli 1946 nach B repatriiert. Im Februar 1957 wanderte er über Wien in die USA aus. Seit 1962 besitzt er die amerikanische Staatsbürgerschaft; vorher war er nach seinen Angaben bis 1918 österreichischer und sodann polnischer Staatsbürger. Der Kläger ist deutscher Volkszugehöriger iS von § 4 Abs 4 BEG; als Vertriebener ist er nicht anerkannt.
Im Januar 1976 erkannte die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Altersruhegeld ab 1. September 1971 an. Dabei berücksichtigte sie Zeiten von Oktober 1927 bis Februar 1957 als Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) und die Zeit vom 2. September 1939 bis 31. Juli 1946 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit. Sie stellte weiter fest, daß diese Rente in vollem Umfange ruhe. Den Widerspruch des Klägers, mit dem dieser die Auszahlung des Altersruhegeldes begehrte, wies die Beklagte zurück; auch die Voraussetzungen der §§ 100 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), § 19 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG), beide in der seinerzeit geltenden Fassung vor dem 20. Rentenanpassungsgesetz (im folgenden: aF), seien nicht erfüllt, weil der Kläger nicht als Vertriebener anerkannt sei und erst nach dem 1. Januar 1950 das Vertreibungsgebiet endgültig verlassen habe.
Der dagegen erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) statt, das Landessozialgericht (LSG) wies sie ab. In der Begründung des Berufungsurteils ist ausgeführt, das Altersruhegeld des Klägers ruhe nach den §§ 94, 96 AVG iVm dem Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag vom 29. Oktober 1954 (BGBl II 1956 S 487) und Art 4 Abs 2 des deutsch-amerikanischen Sozialversicherungsabkommens vom 7. Januar 1976 (BGBl II 1976 S 1357). Die Voraussetzungen der §§ 97, 98 AVG seien schon deswegen nicht erfüllt, weil der Kläger keine Beitragszeiten im Geltungsbereich des AVG zurückgelegt habe; da der Kläger insoweit wie ein Deutscher behandelt werde, scheide eine Verletzung von Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) aus. Eine Anwendung von § 100 Abs 1 AVG aF sei nicht möglich, weil der Kläger weder Deutscher iS von Art 116 Abs 1 GG noch früherer deutscher Staatsangehöriger iS von Art 116 Abs 2 Satz 1 GG sei und § 100 Abs 4 AVG aF hier eine Gleichbehandlung mit Deutschen nach Maßgabe der zwischenstaatlichen Abkommen ausschließe. Auch in § 100 Abs 2 AVG aF iVm § 19 WGSVG aF finde das Klagebegehren keine Stütze, weil der Kläger keinen Vertriebenen- oder Flüchtlingsausweis besitze und erst 1957 endgültig aus den ehemals eingegliederten Gebieten ausgewandert sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, er sei dadurch, daß der Regierungspräsident in Köln das Vorliegen der Voraussetzungen des § 150 BEG bejaht habe, als Vertriebener anerkannt worden. Darauf, daß er nach 1945 wieder in seine Heimat zurückgekehrt sei, könne es nicht ankommen; doch selbst wenn man hier anderer Ansicht sei, könne nicht unberücksichtigt bleiben, daß er 1946 zwangsweise nach B verbracht worden sei und seine Heimat erst 1957 habe verlassen können.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung
der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet; die Beklagte hat zu Recht das Ruhen des Rentenanspruchs festgestellt.
Der Kläger ist bei Anwendung der §§ 94, 96 ff AVG wie ein Deutscher zu behandeln, da ihm als Staatsangehörigen der USA durch Art IV Nr 2 des Vertrages mit den USA vom 29. Oktober 1954 und Art 4 Abs 1 des Abkommens vom 7. Januar 1976 Inländerbehandlung zugestanden ist. Seine Rente ruht daher nach § 96 AVG. Die Voraussetzungen der §§ 97 Abs 1, 98 Abs 2 AVG sind schon deswegen nicht erfüllt, weil der Kläger ausschließlich Versicherungszeiten außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes zurückgelegt hat. Daß diese Ruhensregelung verfassungsgemäß ist, hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 5. November 1980 (SozR 2200 § 1317 Nr 19) ausgeführt; auch das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluß des Dreierausschusses vom 7. Oktober 1980 (SozR 2200 § 1317 Nr 8) eine Verfassungswidrigkeit verneint.
Der Kläger kann aber auch, wie das LSG zutreffend erkannt hat, aus § 100 AVG aF, der nach Art 2 § 40a AnVNG für Versicherungsfälle vor Juli 1977 weitergilt, keine Rechte herleiten. Absatz 1 scheidet aus, weil der Kläger weder Deutscher iS von Art 116 Abs 1 GG noch früherer deutscher Staatsangehöriger iS von Art 116 Abs 2 GG ist und eine Gleichstellung mit einem Deutschen iS von Art 116 Abs 1 GG sich hier auch nicht aus dem Handels-, Schiffahrts- und Freundschaftsvertrag vom 29. Oktober 1954 ergibt; denn dieser bezieht sich ebenso wie das Abkommen vom 7. Januar 1976 nur auf Leistungen der sozialen Sicherheit, zu denen die Kannleistung nach § 100 Abs 1 AVG aF nicht zählt (§ 100 Abs 4 AVG aF). Eine Anwendung von § 100 Abs 2 AVG aF scheitert bereits daran, daß der Kläger nicht als Vertriebener anerkannt ist. Diese Anerkennung erfolgt durch Ausstellung eines Vertriebenenausweises gemäß §§ 15 ff des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG); einen solchen besitzt der Kläger nicht. Die Bejahung der Voraussetzungen des § 150 BEG aF durch den Regierungspräsidenten in Köln stellt keine Anerkennung als Vertriebener im genannten Sinne dar (vgl SozR 5070 § 20 Nr 1), auch wenn zu diesen Voraussetzungen die Eigenschaft als Vertriebener iS des BVFG gehörte. Im übrigen müßte die Anwendung des § 100 Abs 2 AVG aF noch an den Erwägungen scheitern, die, wie später ausgeführt wird, ebenfalls zur Nichtanwendung des § 19 Abs 1 WGSVG aF führen. Schließlich gehört der Kläger nicht zum Personenkreis des § 100 Abs 5 AVG aF.
Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus § 19 WGSVG aF. Abs 2 vermag das Begehren des Klägers schon deswegen nicht zu stützen, weil dieser nicht am 8. Mai 1945 in B seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt gehabt und dieses Gebiet danach vor dem 1. Januar 1950 verlassen hat. Bei Abs 1 kann unterstellt werden, daß der Kläger als Verfolgter aus den in den Jahren 1938 und 1939 in das Deutsche Reich eingegliederten Gebieten lediglich deswegen nicht als Vertriebener iS des § 1 Abs 2 Nr 1 BVFG anerkannt werden kann, weil er sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt hat; der Senat kann hier auch davon ausgehen, daß der Kläger hinsichtlich der deutschen Volkszugehörigkeit die Voraussetzungen des § 4 Abs 4 BEG erfüllt. Gleichwohl kann er nicht aufgrund des § 19 Abs 1 WGSVG iVm § 100 Abs 2 AVG aF vom Ruhen der Rente verschont werden.
Insofern hat das LSG zu Recht auf die gesetzliche Systematik, hier die der §§ 100 Abs 2 und 5 AVG aF, 18 und 19 WGSVG aF, hingewiesen. Danach erfaßt das Gesetz in § 100 Abs 5 AVG aF Verfolgte, die bis zum 8. Mai 1945 das Gebiet des Deutschen Reiches (Stadt Danzig) verlassen haben, und in § 18 WGSVG aF solche, die dies erst in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 getan haben. Demgegenüber betreffen die §§ 100 Abs 2 AVG, 19 Abs 1 und 2 WGSVG aF Verfolgte aus den 1938 und 1939 eingegliederten Gebieten; auch sie unterscheiden aber hinsichtlich des Zeitpunktes des Verlassens nach demselben Datum ungeachtet dessen, daß das Datum des 8. Mai 1945 in § 100 Abs 2 AVG (iVm § 1 Abs 2 Nr 1 BVFG) und in § 19 Abs 1 WGSVG aF im Gesetzeswortlaut nicht genannt ist (so schon SozR 2200 § 1317 Nr 9; vgl ferner § 19 Abs 1 WGSVG nF, der nun ausdrücklich ein Verlassen bis zum 8. Mai 1945 verlangt).
Wie der 4. Senat des BSG in seinem Urteil vom 29. Mai 1968 (BSGE 28, 29 ff) zu den Verfolgten aus dem Reichsgebiet aber schon dargelegt hat, fehlt es an einem "Verlassen" dieses Gebietes bis zum 8. Mai 1945, wenn der Verfolgte nach dem 8. Mai 1945 nach Deutschland zurückgekehrt und dann erneut ausgewandert ist; Sinn und Zweck der Vorschrift gebieten, unter dem Verlassen nicht nur den der Vergangenheit angehörenden Vorgang einer räumlichen Veränderung, sondern auch den eines weiter bestehenden Zustandes zu verstehen. Dem ist auch für den Anwendungsbereich des § 100 Abs 2 AVG aF iVm § 1 Abs 2 Nr 1 BVFG, der durch § 19 Abs 1 WGSVG lediglich erweitert wird, zu folgen. Auch hier wird ein verfolgungsbedingtes "Verlassen" eines bestimmten Gebietes und damit eine nicht wieder aufgehobene Trennung von diesem Gebiet vorausgesetzt. Nur in einem solchen Fall hat die verfolgungsbedingte Flucht einen einer Vertreibung gleichzuachtenden Verlust der Heimat zur Folge gehabt. Eine andere Auslegung würde Verfolgte, die nach dem Ende der Verfolgung in ihr Herkunftsgebiet zurückgekehrt sind, ohne einsichtigen Grund gegenüber solchen Verfolgten begünstigen, die im Verfolgungsgebiet verblieben oder gar in ein Konzentrationslager verbracht (vgl SozR 2200 § 1321 Nr 2) worden sind; während die letzteren Leistungen nur bei einem Verlassen des Gebietes vor dem 1. Januar 1950 erhalten können, würde es bei Verfolgten, die nach dem 8. Mai 1945 wieder in das Vertreibungsgebiet zurückgekehrt waren, auf den Zeitpunkt des endgültigen Verlassens des Vertreibungsgebietes nicht ankommen. Daß ein solches Ergebnis nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen kann, ergibt sich aber auch daraus, daß die Vorschriften der §§ 100 Abs 2 AVG aF, 19 Abs 1 WGSVG aF nur auf § 1 Abs 2 Nr 1 BVFG, nicht aber auf § 1 BVFG im ganzen, insbesondere des Abs 2 Nr 3, Bezug nehmen, wie das nahegelegen hätte, wenn auch Fälle wie der vorliegende hätten erfaßt werden sollen.
Auf den Kläger kann § 19 WGSVG (Abs 2) aF auch nicht entsprechend angewandt werden (vgl SozR 5070 § 19 Nr 1). Ob der Kläger 1946 freiwillig nach B zurückgekehrt ist und ob er gehindert war, seine Heimat früher als im Jahre 1957 zu verlassen, kann nicht entscheidend sein. Der Kläger kann insoweit nicht anders behandelt werden als Verfolgte, die ihr Heimatgebiet erst nach dem 8. Mai 1945 verlassen haben (§§ 18 und 19 Abs 2 WGSVG aF); auch sie können sich nicht darauf berufen, daß sie das Heimatgebiet ggf nicht vor 1950 verlassen konnten. Daß es auch nach dem 31. Dezember 1949 Verfolgten vielfach nicht möglich war, das Vertreibungsgebiet zu verlassen, war dem Gesetzgeber bekannt; wenn er in § 19 Abs 2 WGSVG aF gleichwohl den Stichtag des 1. Januar 1950 festgesetzt hat, so hat er, ohne damit gegen Art 3 Abs 1 GG zu verstoßen (vgl SozR 5070 § 19 Nr 1), die Härten hingenommen, die mit jeder Stichtagsregelung im Einzelfall verbunden sind. Ist ein Verfolgter nach dem 8. Mai 1945 zwangsweise wieder in sein Herkunftsgebiet verbracht worden, so steht dies zudem nicht mehr in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der vorausgegangenen Verfolgung.
Nach alledem war, da sich das angefochtene Urteil als zutreffend erweist, die Revision mit der sich aus § 193 SGG ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Fundstellen