Leitsatz (redaktionell)
1. Der Senat schließt sich der Entscheidung des 10. Senats vom 1955-11-15 10 RV 85/54 = BSGE 2, 29 an. Dort ist für die Tatbestände des BVG § 5 Abs 1 Buchst a entschieden worden, daß nur unmittelbare Einwirkungen von Kampfhandlungen usw als unmittelbare Kriegseinwirkungen anzusehen sind.
Diese Erwägungen müssen auch für die gleichgelagerten Tatbestände des BVG § 5 Abs 1 Buchst b gelten. Bei ihnen muß ebenfalls aus der Entstehungsgeschichte, aus dem Zusammenhang mit BVG § 1 Abs 2 und aus einer sinnvollen Abgrenzung des Tatbestandsmerkmals der unmittelbaren Kriegseinwirkung geschlossen werden, daß nur die unmittelbaren Einwirkungen der näher bezeichneten behördlichen Maßnahmen für eine Schädigung iS des BVG bedeutsam sein sollen.
2. Eine während eines Fliegeralarms eingetretene gesundheitliche Schädigung ist keine unmittelbare Kriegseinwirkung, wenn sie lediglich auf die allgemeinen Verdunkelungsmaßnahmen zurückzuführen ist und der Fliegeralarm auf den Beschädigten auch nicht unmittelbar eingewirkt hat.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1953-08-07, Buchst. b Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 26. Januar 1956 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
In der Nacht vom 2. auf den 3. September 1941 kam die Klägerin während eines Fliegeralarms in der Wagenhalle der Städtischen Straßenbahnen Chemnitz zu Schaden. Wegen der Folgen, nämlich
"Gesichtsnervenlähmung mit ihren Folgeerscheinungen (wie Verengerung der linken Lidspalte infolge Lidödems, Empfindungslosigkeit der linken Gesichtsseite u. der linksseitigen Nasen- und Mundschleimhaut, Störung der Tränenabsonderung links und Geschmacksstörung der li. Zungenhälfte, Lähmung der linksseitigen Kaumuskulatur, Schiefstellung des Mundes, linksseitige Taubheit) und nervöse Beschwerden"
erhält sie von der Berufsgenossenschaft für Straßen-, Privat- und Kleinbahnen eine Unfallrente in Höhe von zur Zeit 80 v.H. der Vollrente.
Am 17. März 1950 beantragte sie wegen dieser Schäden die Gewährung von Versorgung. Das Versorgungsamt lehnte durch den Bescheid vom 26. Oktober 1951 die Gewährung von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab. Es liege keine unmittelbare Kriegseinwirkung vor, weil die Klägerin zunächst den Luftschutzraum aufgesucht, ihn dann verlassen habe und auf dem Weg zur Abortanlage durch die abgedunkelte Wagenhalle in die Arbeitsgrube gefallen sei.
Mit der Berufung nach altem Recht hat die Klägerin geltend gemacht, sie sei bereits auf dem Wege zum Luftschutzraum in die Arbeitsgrube gefallen; an weiteres könne sie sich nicht mehr entsinnen. Das Oberversicherungsamt hat durch Urteil vom 17. Juni 1952 die Berufung zurückgewiesen.
Die Klägerin hat Rekurs zum ehemaligen Bayer. Landesversicherungsamt eingelegt, der nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Landessozialgericht übergegangen ist. Sie ist bei ihrer Darstellung geblieben, sie sei auf dem Wege zum Luftschutzraum in die Arbeitsgrube gefallen. Durch Urteil vom 26. Januar 1956 hat das Landessozialgericht die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klägerin sei schon im Luftschutzraum gewesen und habe ihn dann verlassen, um die Abortanlage aufzusuchen. Der Gang dorthin durch die Halle habe nicht mit dem Fliegerangriff zusammengehangen. Es müsse davon ausgegangen werden, daß in dem Luftschutzraum die vorgeschriebenen Trockenaborte vorhanden gewesen seien, so daß kein Anlaß bestanden habe, ihn zu verlassen. Wenn die Klägerin auch durch die Verdunklung zu Schaden gekommen sei, so stehe ihr deswegen kein Anspruch zu. Die Halle sei zwar erst nach dem Fliegeralarm vollkommen verdunkelt worden; dies sei aber keine zusätzliche Maßnahme infolge des Fliegeralarms, sondern nur der Übergang von der Teil- zur Vollverdunklung. Beide Verdunklungsarten aber seien Bestandteile allgemeiner Verdunklungsmaßnahmen. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen, weil es sich bei der Auslegung des Begriffs der unmittelbaren Kriegseinwirkung durch Fliegeralarm um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,
1.) das angefochtene Urteil und die diesem zugrunde liegenden Vorentscheidungen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die bei der Klägerin bestehende Supraorbitalneuralgie als Schädigungsfolge nach dem BVG anzuerkennen und der Klägerin Rente nach einer Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit um 80 % vom 1. Oktober 1950 ab zu gewähren;
2.) hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Sie rügt eine Verletzung der §§ 103, 153 Abs. 1 SGG und der §§ 1 Abs. 2 Buchst. a, 5 Abs. 1 Buchst. b BVG. Sie macht insbesondere geltend, für den Unfall sei ausschließlich der Fliegeralarm verantwortlich zu machen. Die hierfür wesentlichen Momente seien in der Verdunklung der Werkhalle, die nur während des Alarms erfolgte, in der entschuldbaren mangelnden Vertrautheit der Klägerin mit den örtlichen Verhältnissen und insbesondere in der durch den Alarm bedingten Irritierung der Klägerin zu erblicken.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Januar 1956 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das Urteil für zutreffend. Die Klägerin habe durch ihr eigenverantwortliches Verhalten den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem kriegerischen Geschehen und den eingetretenen Schaden unterbrochen.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist durch Zulassung statthaft. Das Rechtsmittel ist aber nicht begründet.
Entgegen dem Vorbringen der Klägerin in ersten und zweiten Rechtszug hat das Landessozialgericht festgestellt, daß sie den Luftschutzraum erreicht, dann verlassen hat und anschließend zu Schaden gekommen ist. Insoweit hat sich das Berufungsgericht auf die Unfallakten, insbesondere auf die in ihnen enthaltenen Angaben der Klägerin und die Unfallanzeige, gestützt. In der Revisionsinstanz sind hiergegen keine Revisionsgründe vorgebracht worden, so daß der Senat nach § 163 SGG an diese tatsächlichen Feststellungen gebunden ist.
Zu Unrecht glaubt die Klägerin einen wesentlichen Verfahrensmangel, nämlich eine unzureichende Sachaufklärung, darin erblicken zu können, daß das Landessozialgericht nicht geprüft habe, ob das Auslösen des Fliegeralarms sie in einen Angst- und Erregungszustand versetzt habe, auf den der Eintritt des Körperschadens zurückgeführt werden müsse. Sie beruft sich insoweit auf das Urteil vom 20. März 1956 (BSG. 2 S. 265 [268/270]), in den der Senat entschieden hat, daß schon das Auslösen des Fliegeralarms durch das Ertönen der Sirene eine behördliche Maßnahme darstellt, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung steht und über die allgemeinen Verdunklungsmaßnahmen hinausgeht (§ 5 Abs. 1 Buchst. b BVG). Die Rüge, das Berufungsgericht hätte unter Berücksichtigung dieser Grundsätze prüfen müssen, ob die Klägerin den Luftschutzraum infolge eines Angst- und Erregungszustandes verlassen hätte, ist nicht begründet.
Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es bestimmt im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die nach seiner Beurteilung der materiellen Rechtslage zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind. Sein Ermessen ist nur durch die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem hiernach für seine Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt (BSG. in SozR. SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7). Es hat in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen, ob es noch von weiteren Beweismitteln Gebrauch machen muß. Hierzu brauchte sich das Landessozialgericht in diesem Falle auch unter Berücksichtigung der Entscheidung vom 20. März 1956 (BSG. 2 S. 265 ff.) nicht veranlaßt zu sehen. Denn die Grundsätze dieser Entscheidung können auf den vorliegenden Rechtsstreit nicht angewandt werden, weil der Sachverhalt wesentlich anders ist als der früher entschiedene. In ihm war unstreitig, daß der Verletzte im Zusammenhang mit der Erregung über das Auslösen eines Fliegeralarms verstorben war. Hier aber hat die Klägerin in der ersten und zweiten Instanz erklärt, sie sei auf dem Wege zum Luftschutzraum in die Arbeitsgrube gefallen und könne sich auf weiteres nicht mehr besinnen. Demgegenüber hat das Landessozialgericht die das Revisionsgericht bindende Feststellung getroffen, daß die Klägerin den Luftschutzraum aufgesucht und verlassen und daß sich dann erst der Unfall zugetragen hat. In den Akten der Versorgungsbehörde und der Berufsgenossenschaft befindet sich kein Anhalt für einen Erregungszustand der Klägerin. Im übrigen steht schon ihr ursprüngliches Vorbringen, sie sei auf dem Wege zum Luftschutzraum verunglückt, der Annahme entgegen, daß sie infolge der Auslösung des Fliegeralarms in einen solchen Zustand geraten sein könnte. Hiernach lag für das Berufungsgericht kein Anlaß vor, die in der Revisionsbegründung verlangten weiteren Ermittlungen vorzunehmen. § 103 SGG ist somit nicht verletzt. Im übrigen ist die Behauptung, der Fliegeralarm habe die Klägerin in einen Angst- und Erregungszustand versetzt, erstmalig in der Revisionsinstanz aufgestellt worden. Sie ist ein neues Vorbringen und kann infolgedessen nicht berücksichtigt werden.
Weiter hat die Klägerin eine Verletzung des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG geltend gemacht. Auch diese Rüge ist nicht begründet. Nach der angegebenen Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung, mit Ausnahme der allgemeinen Verdunklungsmaßnahmen.
Das Landessozialgericht hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Abdunklung der Werkhalle während des Fliegeralarms unter diese allgemeinen Verdunklungsmaßnahmen fällt und keine besondere behördliche Maßnahme für den hier zu entscheidenden Einzelfall darstellt. Die Verdunklung gehörte zum luftschutzmäßigen Verhalten, das aus der nach § 2 des Luftschutzgesetzes vom 26. Juni 1935 (RGBl. I S. 827) eingeführten Luftschutzpflicht entsprang. Nach § 5 Satz 2 der 8. Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz (VerdunklungsVO) vom 23. Mai 1939 (RGBl. I S. 965) war die Verdunklung vom Aufruf des Luftschutzes ab ohne besondere Bekanntgabe täglich vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Hellwerden als Dauerzustand durchzuführen. Nach § 8 a.a.O. waren für die zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten Lebens und des Verkehrs dringend notwendigen Lichtquellen Verdunklungsmaßnahmen durchzuführen, alle übrigen Lichtquellen aber außer Betrieb zu setzen. In den §§ 9 ff. a.a.O. sind die Verdunklungsmaßnahmen im einzelnen aufgeführt, wobei im Einzelfall die erforderliche Maßnahme nach dem Grundsatz des luftschutzmäßigen Verhaltens durchzuführen war. Innerhalb der in § 5 Satz 2 a.a.O. festgelegten Zeitspanne war im vorliegenden Falle der Fliegeralarm ausgelöst worden. Wenn bei dieser Sachlage auch die Unterscheidung des Landessozialgerichts zwischen Teil- und Vollverdunklung nicht bedenkenfrei ist, so hat es doch aus der geschilderten Rechtslage im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die von ihm festgestellte Verdunklung der Werkhalle nach dem Auslösen des Fliegeralarms eine allgemeine Verdunklungsmaßnahme im Rahmen des luftschutzmäßigen Verhaltens auf Grund der bezeichneten Vorschriften war und deshalb unter die Ausnahme des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG fällt. Hierbei kann unerörtert bleiben, ob die Verdunklung der Werkhalle vor dem Fliegeralarm noch nicht durchgeführt war und ob dies etwa auf einer behördlichen Erlaubnis beruhte; denn jedenfalls wird hierdurch die rechtliche Beurteilung der nach dem Auslösen des Alarms durchgeführten Verdunklung als allgemeine Verdunklungsmaßnahme nicht berührt.
Schließlich gibt es zu Bedenken keinen Anlaß, daß das Landessozialgericht über das Vorhandensein der luftschutzmäßig vorgeschriebenen Trockenaborte keine Feststellungen getroffen, sondern dieses unterstellt hat. Denn wenn die Unterstellung nicht gerechtfertigt und die Klägerin genötigt gewesen wäre, den Schutzraum zu dem festgestellten Zweck zu verlassen, so würde weder das Auslösen des Alarms noch der Aufenthalt im Luftschutzkeller während des Alarms unmittelbar zum Sturz in die Arbeitsgrube geführt haben und schon deshalb die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG nicht angewandt werden können. Der Senat schließt sich insoweit der Entscheidung des Zehnten Senats vom 15. November 1955 (BSG. 2 S. 29 ff.) an. Dort ist für die Tatbestände des § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG entschieden worden, daß nur unmittelbare Einwirkungen von Kampfhandlungen usw. als unmittelbare Kriegseinwirkungen anzusehen sind. Diese Erwägungen müssen auch für die gleichgelagerten Tatbestände der Vorschrift des § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG gelten. Bei ihnen muß ebenfalls aus der Entstehungsgeschichte, aus dem Zusammenhang mit § 1 Abs. 2 BVG und aus einer sinnvollen Abgrenzung des Tatbestandsmerkmals der unmittelbaren Kriegseinwirkung geschlossen werden, daß nur die unmittelbaren Einwirkungen der näher bezeichneten behördlichen Maßnahmen für eine Schädigung im Sinne des BVG bedeutsam sein sollen. Hier hatte die Klägerin nach dem Verlassen des Luftschutzraums durch das trotz der Abdunklung versuchte Durchschreiten der ihr noch nicht ganz vertrauten Werkhalle aus eigenem Entschluß eine derartige Gefahrenlage geschaffen, daß durch sie beim Sturz in die Arbeitsgrube eine unmittelbare Einwirkung der behördlichen Maßnahme, nämlich des Auslösens des Fliegeralarms mit dem anschließenden Zwang, den Luftschutzraum aufzusuchen, nicht mehr angenommen werden kann. Bei dieser Sachlage bedurfte es keiner Prüfung, ob die Ausführungen des Landessozialgerichts zutreffen, die Möglichkeit einer unmittelbaren Kriegseinwirkung sei in jedem Falle mit den Betreten des Luftschutzkellers abgeschlossen gewesen. Hiernach ist § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG nicht verletzt.
Da sonach die gerügten Mängel des Verfahrens nicht vorliegen und die angefochtene Entscheidung zur Frage einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Ergebnis zu Bedenken keinen Anlaß gibt, war die Revision, wie geschehen, zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen