Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. freie richterliche Beweiswürdigung. Bindung an medizinische Gutachten. Kriegsopferversorgung. anlagebedingtes Leiden. multiple Sklerose. Verschlimmerung. Mitverursachung. Feststellung des schädigenden Ereignisses
Orientierungssatz
1. Das Gericht überschreitet die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung, wenn es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen (hier hinsichtlich der Frage der Verursachung einer multiplen Sklerose durch Polizeidienst und Kriegsgefangenschaft als auch hinsichtlich des Grades der dadurch bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit) hinweggeht und seine Auffassung an deren Stelle setzt (vgl BSG vom 25.8.1955 - 4 RJ 120/54 = SozR Nr 2 zu § 128 SGG).
2. Die Frage, ob es sich bei einer multiplen Sklerose um ein anlagebedingtes Leiden handelt, bei dem bereits ein krankhaftes Geschehen im Körper vor sich geht, ohne dass das Leiden nach außen hin in Erscheinung tritt, oder ob bei dieser Krankheit durch eine äußere Einwirkung die ruhende Anlage dahin beeinflusst werden kann, Veränderungen im Körper herbeizuführen, die ihrerseits das Leiden in Erscheinung treten lassen, ist medizinischer Natur und kann nicht losgelöst von medizinischen Gutachten im Rahmen einer rechtlichen Würdigung entschieden werden.
3. Der Tatrichter darf einen Sachverhalt, der ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal (hier das Vorliegen eines schädigenden Ereignisses) verwirklichen soll, nur dann als gegeben annehmen, wenn er den Sachverhalt nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung feststellen kann (vgl BSG vom 24.10.1957 - 10 RV 945/55 = BSGE 6, 70 = SozR Nr 1 (b2) zu § 1 SGG).
Normenkette
SGG § 128; KOVG BE 1951
Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 16.05.1956) |
SG Berlin (Urteil vom 11.05.1955) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Mai 1956 wird als unbegründet zurückgewiesen, soweit dem Kläger für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1950 eine Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 40 v.H. nach den Berliner Gesetz über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 zugesprochen worden ist.
Im übrigen wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin von 16. Mai 1956 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war während des Krieges Oberwachtmeister der Schutzpolizei der Reserve und kam am 27. April 1945 in Berlin in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er im September 1945 entlassen wurde. Er stellte am 2. September 1950 Antrag auf Gewährung einer Versorgungsrente wegen einer Lähmung am rechten Bein, die er auf einen Unfall in russischer Gefangenschaft bei einem Transport nach Stettin zurückführt. In dem überfüllten Eisenbahnwagen sei er auf einen Mauerstein gesprungen und infolge heftiger Schmerzen sofort zusammengebrochen. Anschließend sei er in einem Kriegsgefangenenlazarett 6 bis 8 Wochen behandelt und dann entlassen worden. Ein Gutachten der Nervenärztin Dr. R. vom 18. Juli 1951 kam zu dem Ergebnis, daß die bei dem Kläger vorliegende spastische Parese beider Beine mit sensiblen Störungen sowie geringe Veränderungen am rechten Arm mit großer Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer multiplen Sklerose sprächen. Diese Erkrankung sei während seiner Gefangenschaft plötzlich nach einem Unfall aufgetreten. Da die Strapazen der Gefangenschaft sehr wahrscheinlich zu Beginn der Erkrankung eine wesentliche Rolle gespielt hätten, sei ein Teil der jetzigen Beschwerden auf Kriegseinwirkungen zurückzuführen. Als Versorgungsleiden seien "funktionelle Schwäche am rechten Arm nach Unterarmbruch und Verschlimmerung einer bestehenden multiplen Sklerose" bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. vom 1. Juli 1950 ab anzunehmen. Der Prüfarzt des Versorgungsamts (VersorgA.) Prof. Dr. H. trat der Beurteilung der Nervenärztin Dr. R. mit der Begründung entgegen, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Fehltritt des Klägers beim Transport nach Stettin und seinem Nervenleiden nicht anerkannt werden kenne, da eine multiple Sklerose durch einen erheblichen Unfall nur dann verursacht werden könne, wenn durch ihn Hirn oder Rückenmark direkt betroffen würden und die klinischen Erscheinungen des Nervenleidens in unmittelbarem Anschluß daran aufträten.
Durch Bescheid vom 23. August 1951 erkannte das VersorgA. Berlin "funktionelle Schwäche am rechten Arm nach Unterarmbruch" als Schädigungsfolge an, ohne jedoch eine Rente nach dem Berliner Gesetz über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihrer Hinterbliebenen (KVG) von 24. Juli 1950 und dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren, da die MdE. weniger als 25 v.H. betrage. Die Anerkennung der beim Kläger bestehenden multiplen Sklerose wurde mit der Begründung abgelehnt, daß es sich um ein anlagebedingtes Leiden handle, dessen Entstehung oder Verschlimmerung nicht durch leichte Verletzungen in russischer Kriegsgefangenschaft hervorgerufen worden sei. Im Einspruchsverfahren wurde ein weiteres versorgungsärztliches Gutachten von dem Nervenarzt Dr. W. am 8. April 1952 erstattet. Dieser Sachverständige vertrat die Auffassung, daß dem vom Kläger angegebenen Unfall in russischer Kriegsgefangenschaft für die Entstehung oder den Verlauf der multiplen Sklerose keine belangvolle Bedeutung zukomme. Da der Kläger jedoch in der Gefangenschaft schlecht ernährt und ärztlich nicht richtig versorgt worden sei, könne eine abgegrenzte Verschlimmerung durch die Strapazen des Polizeidienstes und der russischen Kriegsgefangenschaft sowie durch den Fortfall der sachgemäßen Behandlung als wahrscheinlich angesehen werden. Der Prüfarzt des Landesversorgungsamts (LVersorgA.) Prof. Dr. R. hat den Ausführungen des Dr. W. mit der Begründung zugestimmt, daß nach der heute wissenschaftlich gültigen Lehrmeinung über die multiple Sklerose nicht unbedingt besonders schwere Strapazen die Voraussetzung für eine abgegrenzte Verschlimmerung des Leidens seien. Durch Einspruchsentscheidung des LVersorgA. Berlin vom 23. Februar 1953 wurden nunmehr anerkannt: "knöchern verheilter Speichenbruch rechts sowie organisches Nervenleiden (multiple Sklerose) im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung". Der Grad der MdE. wurde vom 1. Juli 1950 an auf 30 v.H. festgesetzt. Die Anerkennung einer richtunggebenden Verschlimmerung des Nervenleidens und die Gewährung der vom Kläger beantragten Pflegezulage wurden abgelehnt, da die Weiterentwicklung des Leidens nach Wegfall der schädigenden Einflüsse des Polizeidienstes und der Kriegsgefangenschaft schicksalsmäßig erfolgt sei.
Das Sozialgericht (SG.) Berlin hat auf die Klage ein fachärztliches Gutachten des Nervenarztes Dr. Sch. vom 22. März 1955 eingeholt, der die Wahrscheinlichkeit der Entstehung der multiplen Sklerose durch Einflüsse des Polizeidienstes oder der Kriegsgefangenschaft im Hinblick auf den sehr langsamen und schleichenden Verlauf der Krankheit, wie er auch ohne Unfall zu sein pflege, mit Sicherheit verneint hat. Der stetige Gesamtverlauf des Leidens spreche auch gegen eine richtunggebende Verschlimmerung. Die Anerkennung im Sinne einer einmaligen abgegrenzten Verschlimmerung sei ebenfalls wissenschaftlich nicht zu begründen; sie stelle die weitmöglichste Konzession dar, die zugunsten des Klägers im Hinblick auf die Lückenhaftigkeit des ätiologischen Wissens bei der multiplen Sklerose gemacht werden könne. Das SG. Berlin hat die Klage durch Urteil vom 11. Mai 1955 abgewiesen; es hat seine Entscheidung im wesentlichen auf das Gutachten des Dr. Sch. gestützt.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG.) Berlin die Eheleute A. und L. Sch. als Zeugen vernommen und auch die Ehefrau des Klägers gehört. Die Zeugen Sch, ... die seit 1944 mit dem Kläger in einem Hause wohnen, haben übereinstimmend ausgesagt, daß sie vor seiner Gefangennahme keine körperliche Behinderung des Klägers hätten feststellen können. Seit der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft sei der Kläger krank gewesen und habe sich nicht ohne Stock und ohne Schwanken beim Gehen fortbewegen können; dieser Zustand habe sich laufend verschlimmert. Der Kläger sei dann mit Krücken gegangen und schließlich im Krankenfahrstuhl gefahren. In letzter Zeit habe er selbst mit dem Krankenfahrstuhl die Wohnung nicht mehr verlassen können. Die Ehefrau des Klägers hat angegeben, daß er bereits an einem Stock gegangen sei, als sie ihn im Jahre 1948 geheiratet habe. Im übrigen bestätigte sie die Angaben der Zeugen A. und L. Sch.. Das LSG. hat durch Urteil vom 16. Mai 1956 die angefochtene Entscheidung des SG. Berlin vom 11. Mai 1955 aufgehoben und den Beklagten verurteilt,
1) bei dem Kläger die multiple Sklerose als Versorgungsleiden im Sinne der Mitverursachung anzuerkennen und
2) ihm für die Zeit vom 1. Juli 1950 bis 31. Dezember 1953 eine Beschädigtenrente nach einer MdE. von 40 v.H. und für die Zeit vom 1. Januar 1954 an eine Beschädigtenrente nach einer MdE. von 50 v.H. sowie
3) vom 1. Januar 1954 an eine Pflegezulage von monatlich 60 DM zu zahlen.
In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt: Nach der Beweisaufnahme stehe fest, daß der Kläger bis zu seiner Gefangennahme nicht gehbehindert gewesen sei, nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft jedoch nicht ohne Stock und ohne fremde Hilfe habe gehen können. Eine allmähliche Entwicklung der multiplen Sklerose könne in der hier maßgebenden Zeit von höchstens vier Monaten eine so hochgradige Gehbehinderung nicht hervorrufen. Danach seien die vom Kläger behaupteten anspruchsbegründenden Tatsachen als ursächlich für seine multiple Sklerose anzusehen. Für die Verschlimmerung einer multiplen Sklerose reichten die mit dem Polizeidienst und der Gefangenschaft verbundenen Strapazen aus. Der Begriff der Verschlimmerung setze aber eine bereits vor der Schädigung bestehende Gesundheitsstörung voraus; eine Anlage sei jedoch noch nicht als Gesundheitsstörung aufzufassen. Da bei dem Kläger vor seiner Einberufung zum Polizeidienst und seiner Gefangennahme die multiple Sklerose nicht in Erscheinung getreten sei, könne sie auch nicht verschlimmert worden sein; vielmehr seien der Unfall während der Kriegsgefangenschaft und die allgemein schlechten Verhältnisse in den Gefangenenlagern gleichwertige Mitursachen für die Erkrankung des Klägers. Da De. W. die MdE. mit 80 v.H. bewertet habe, sei die Hälfte mit 40 v.H. durch den Polizeidienst und den Unfall in der Gefangenschaft verursacht worden. Vom 1. Januar 1954 an sei der Kläger nach den Zeugenaussagen völlig erwerbsunfähig und hilflos gewesen, so daß von diesem Zeitpunkt an die durch das Versorgungsleiden bedingte MdE. auf 50 v.H. festzusetzen sei. Da die Gesundheitsschädigungen des Klägers nicht allein auf Einflüsse des Polizeidienstes und der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen seien, sondern auch auf seine Anlage, erscheine eine monatliche Pflegezulage in Höhe von 60 DM gerechtfertigt, obwohl der Gesundheitszustand des Klägers eine höhere Pflegezulage bedingen würde, wenn sein Leiden allein auf das schädigende Ereignis zurückzuführen wäre.
Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 26. Juni 1956 zugestellte Urteil des LSG. Berlin hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 6. Juli 1956, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 7. Juli 1956, Revision eingelegt und beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen die Entscheidung des SG. Berlin vom 11. Mai 1955 zurückzuweisen.
Mit der am 23. Juli 1956 eingegangenen Revisionsbegründung vom 19. Juli 1956 rügt der Beklagte zunächst eine Verletzung des § 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da das Berufungsgericht den Grundsatz der freien Beweiswürdigung dadurch verletzt habe, daß es bei der Feststellung des schädigenden Ereignisses an die Stelle des erforderlichen strengen Beweises den Nachweis der Wahrscheinlichkeit gesetzt habe. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift liege auch deshalb vor, weil sich das LSG. bei der Bewertung der Schädigungsfolgen über sämtliche Gutachten eigenmächtig ohne ausreichende Begründung hinweggesetzt habe. Ferner habe das Berufungsgericht den Begriff der Mitverursachung verkannt und zu Unrecht grundsätzlich die Hälfte der bestehenden MdE. als durch die anerkannten Schädigungsfolgen bedingt angesehen. Bei anlagebedingten Leiden könne der Begriff der "Mitverursachung" nicht in der Weise verwendet werden, wie es das Berufungsgericht getan habe. Der Begriff der Verschlimmerung sei auch dann gerechtfertigt, wenn die äußere Manifestation eines anlagebedingten Leidens erst im Wehrdienst und unter wesentlicher ursächlicher Mitwirkung einer Schädigung im Sinne des BVG aufgetreten sei.
Der Kläger beantragt, die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil des LSG. Berlin für zutreffend.
Die Revision des Beklagten ist durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthaft. Sie ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig.
Die Revision ist nicht begründet, soweit das LSG. dem Kläger für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1950 eine Beschädigtenrente nach einer MdE. um 40 v.H. nach dem KVG zugesprochen hat; denn die materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften dieses Gesetzes sind nicht revisibles Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG (vgl. BSG. 2 S. 106 [109-113] = SozR. SGG § 162 Bl. Da 4 Nr. 23; SozR. SGG § 162 Bl. Da 23 Nr. 90). Die Revision des Beklagten mußte daher, soweit sie den Anspruch des Klägers nach dem KVG betrifft, als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Revision ist jedoch insoweit begründet, als der Beklagte die Verurteilung zur Zahlung einer Beschädigtenrente für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Dezember 1953 nach einer MdE. um 40 v.H. und für die Zeit vom 1. Januar 1954 an nach einer MdE. um 50 v.H. sowie die Gewährung einer Pflegezulage in Höhe von monatlich 60 DM vom 1. Januar 1954 an nach dem BVG angefachten hat. Das BVG ist im Revisionsverfahren nachprüfbares Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG, da das Land Berlin dieses Gesetz inhaltsgleich durch das Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges vom 12. April 1951 (GVBl. für Berlin S. 317) übernommen hat (vgl. BSG. 1 S. 98 [100, 101] und 189).
Der Kläger rügt eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG), da sich das Berufungsgericht ohne stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen dadurch hinweggesetzt habe, daß es entgegen sämtlichen im Verfahren erhobenen Gutachten anstelle einer begrenzten Verschlimmerung der multiplen Sklerose durch die Strapazen des Polizeidienstes und der russischen Kriegsgefangenschaft eine Mitverursachung des Leidens durch diese Einwirkungen angenommen und ferner die MdE. mit 40 bzw. 50 v.H. höher bewertet habe als die Sachverständigen. Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 1. März 1956 (BSG. 2 S. 236) ausgeführt hat, ist ein Mangel des Verfahrens bei einer auf § 128 SGG gestützten Rüge nur dann gegeben, wenn das Berufungsgericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten hat. Nach der jahrzehntelangen Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts, der sich das BSG. angeschlossen hat (BSG. in SozR. SGG § 128 Bl. Da 1 Nr. 2) besteht keine Bindung des Gerichts an ärztliche Gutachten; der ärztliche Sachverständige ist nur ein Gehilfe des Richters, dessen Äußerung bei der Urteilsfindung dem Ganzen unter- und einzuordnen ist. Das Gericht ist hiernach bei der Würdigung ärztlicher Gutachten im Rahmen seines von sachlichen Gründen gestützten, nicht willkürlichen Ermessens frei. Es überschreitet allerdings die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen hinweggeht und seine Auffassung an deren Stelle setzt (vgl. BSG. a.a.O.). Wie das BSG. ferner ausgesprochen hat (BSG. 4 S. 147 [149]; BSG. in SozR. SGG § 128 Bl. Da 9 Nr. 25), beruht die Schätzung des Grades der MdE. durch eine Tatsacheninstanz auf der Ausübung des Hechts, nach der freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden (§ 128 SGG). Das Revisionsgericht kann daher eine solche Schätzung nur daraufhin nachprüfen, ob das LSG. die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten hat. Für die Entscheidung der Gradfrage bietet hiernach die ärztliche Auffassung lediglich einen Anhalt, da hierbei Erwägungen mitsprechen, die nicht in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichen Erfahrungen beruhen (vgl. BSG. a.a.O.)
Im vorliegenden Falle hat das Berufungsgericht die Vorschrift des § 128 SGG deswegen verletzt, weil es sowohl hinsichtlich der Frage der Verursachung der multiplen Sklerose des Klägers durch den Polizeidienst und die Kriegsgefangenschaft als auch hinsichtlich des Grades der dadurch bedingten MdE. ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen hinweggegangen ist und seine Auffassung an deren Stelle gesetzt hat. Der Prüfarzt des VersorgA. Dr. H. und der gerichtliche Sachverständige Dr. Sch. haben den ursächlichen Zusammenhang des Leidens mit Einwirkungen des Polizeidienstes und der Kriegsgefangenschaft (Unfall auf dem Transport von Trebbin nach Stettin) als nicht wahrscheinlich - auch nicht im Sinne einer abgegrenzten Verschlimmerung - angesehen. Demgegenüber haben sich die Nervenärzte Dr. R. Dr. W. und der Prüfarzt des L VersorgA. Prof. Dr. R. für eine abgegrenzte Verschlimmerung der multiplen Sklerose des Klägers durch die Strapazen in der russischen Kriegsgefangenschaft und den Fortfall der sachgemäßen Behandlung in der Gefangenschaft sowie für eine Bewertung der MdE. mit 30 v.H. ausgesprochen. Bei der Beurteilung, ob überhaupt oder welche äußeren Einwirkungen die Entstehung oder den Verlauf einer multiplen Sklerose beeinflussen können, handelt es sich im Hinblick auf die Lückenhaftigkeit des ätiologischen Wissens hinsichtlich dieser Krankheit um vorwiegend medizinische Fragen, die ohne die vermittelnde Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen nicht beantwortet werden können. Wenn sich das LSG. den Sachverständigen Dr. R. Dr. W. und Prof. Dr. R. angeschlossen hätte, wäre dies nicht zu beanstanden. Dagegen durfte es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe die schädigenden Ereignisse in der Kriegsgefangenschaft nicht entgegen den Gutachten, auf die es sich gestützt hat, als gleichwertige Mitursache wie die Anlage des Klägers zu dieser Krankheit bewerten. Solche stichhaltigen Gründe liegen jedoch nicht vor.
Seine von der Beurteilung der Sachverständigen abweichende Auffassung über die Mitverursachung des Leidens und die Höhe der dadurch bedingten MdE. hat das Berufungsgericht damit begründet, daß der Begriff der Verschlimmerung eine bereits vor der Schädigung bestehende Gesundheitsstörung voraussetze; die Anlage sei aber nicht schon als Gesundheitsstörung aufzufassen. Dieser Auffassung des Berufungsgerichts kann jedoch nicht zugestimmt werden; damit liegt auch kein stichhaltiger Grund für die Abweichung von den vorliegenden Gutachten vor. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG. sind in Anlehnung an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts und des Reichsversorgungsgerichts nur diejenigen Einzelbedingungen als Ursachen im Rechtssinne anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie rechtlich nur dann nebeneinanderstehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind (Urteil des erkennenden Senats vom 14.7.1955 in BSG. 1 S. 150 [156-157]. Der Senat hat in seinem Urteil vom 30. Oktober 1957 (BSG. 6 S. 87 [89] SozR. BVG § 1 Bl. Ca 5 Nr. 15) weiter entschieden, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen der Schädigung im Sinne des BVG und den schädigenden Folgen sowohl die Entstehung als auch die Verschlimmerung einer Gesundheitsstörung durch ein schädigendes Ereignis umfassen. Bei Anwendung dieser Grundsätze ist zu berücksichtigen, daß anlagebedingte Leiden - wie die multiple Sklerose - sich grundsätzlich nach eigener Gesetzlichkeit entwickeln und in typischer Weise verlaufen. Ein solches Leiden kann zwar von außen beeinflußt werden; maßgebend bleibt aber die Anlage, die stetig fortschreitende Veränderungen im Körper hervorruft, jedenfalls dann, wenn es sich bei dem Leiden um keine ruhende Anlage, sondern um ein krankhaftes Geschehen handelt. In diesen Fällen kann das äußere Ereignis nur den Zeitpunkt vorverlegen, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder es kann das Leiden schwerer auftreten lassen, als sonst zu erwarten gewesen wäre. Hierzu hat der erkennende Senat in seinen Urteilen vom 27. März 1958 - 8 RV 427/56 - und vom 3. Juli 1958 - 8 KV 947/57 - ausgesprochen, daß es sich insoweit nicht um eine Mitursache, sondern um eine Verschlimmerung des betreffenden Leidens handelt. Es gibt allerdings auch auf einer Anlage beruhende Leiden, bei denen erst durch eine äußere Einwirkung die ruhende Anlage dahin beeinflußt wird, Veränderungen im Körper herbeizuführen, die ihrerseits das Leiden in Erscheinung treten lassen. Im vorliegenden Falle ist in den erhobenen Gutachten die Frage nicht beurteilt worden, ob es sich bei der multiplen Sklerose um ein anlagebedingtes Leiden handelt, bei dem bereits ein krankhaftes Geschehen im Körper vor sich geht, ohne daß das Leiden nach außen hin in Erscheinung tritt, oder ob bei dieser Krankheit durch eine äußere Einwirkung die ruhende Anlage dahin beeinflußt werden kann, Veränderungen im Körper herbeizuführen, die ihrerseits das Leiden in Erscheinung treten lassen. Diese Frage ist medizinischer Natur und kann daher vom Senat nicht auf Grund der vorliegenden und hierüber keine hinreichende Auskunft gebenden Gutachten entschieden werden. Das Berufungsgericht hat somit dadurch, daß es ohne stichhaltige Gründe entgegen den erhobenen Gutachten eine Mitverursachung der multiplen Sklerose des Klägers durch schädigende Einwirkungen des Polizeidienstes und insbesondere der Kriegsgefangenschaft angenommen und die MdE. auf 40 v.H. bzw. 50 v.H. sowie eine Pflegezulage von monatlich 60 DM festgesetzt hat, gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) verstoßen.
Bei dieser Rechtslage bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob die Rüge des Beklagten zutrifft, daß das Berufungsgericht die Vorschrift des § 128 SGG auch deswegen verletzt habe, weil es bei der Feststellung des schädigenden Ereignisses anstelle des erforderlichen strengen Beweises den Nachweis der Wahrscheinlichkeit gesetzt habe. Im übrigen hat das BSG. hierzu in ständiger Rechtsprechung zu § 128 SGG ausgesprochen, daß der Tatrichter einen Sachverhalt, der ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal verwirklichen soll, nur dann als gegeben annehmen darf, wenn er den Sachverhalt nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung feststellen kann. Ist eine anspruchsbegründende Tatsache nicht feststellbar, so ist die Klage als unbegründet abzuweisen. Insoweit gilt auch in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit der Grundsatz der objektiven Beweislast, insbesondere der Feststellungslast, wonach die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von demjenigen zu tragen sind, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will, ohne daß es dabei auf die Stellung des Beteiligten im Verfahren als Kläger oder Beklagter ankommt (vgl. hierzu BSG. 6 S. 70 [72] mit zahlreichen Hinweisen).
Da das LSG. den Sachverhalt noch in medizinischer Hinsicht aufzuklären haben wird, ist die Sache nicht entscheidungsreif. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Berlin zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen