Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückforderung. Renten. Leistungen
Orientierungssatz
Der Unfallversicherungsträger darf die vor rechtskräftiger Entscheidung gezahlten Rentenbeträge nur zurückfordern, soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers vertretbar ist. Hierbei kommt es auf die im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung bestehenden Verhältnisse an (vgl BSG 1966-03-15 11 RA 309/64 = SozR Nr 8 zu § 1301 RVO).
Normenkette
RVO § 628 S. 2; SGG § 154 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.03.1968) |
SG Hannover (Entscheidung vom 19.06.1967) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. März 1968 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beklagte gewährte dem Kläger wegen des Arbeitsunfalls vom 26. Mai 1956 eine Dauerrente vom 10 v. H., welche sie ihm mit Ablauf Oktober 1962 entzog. Der Entziehungsbescheid wurde vom Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 7. Januar 1964 aufgehoben. Die Beklagte legte Berufung ein und behielt sich im Schreiben vom 20. März 1964, mit dem sie dem Kläger die Auszahlung der Rente gemäß § 154 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ab 7. Januar 1964 ankündigte, die Rückforderung dieser Leistung vor. Das Landessozialgericht (LSG) schlug in der Verhandlung am 9. Dezember 1965 einen Vergleich vor, wonach der Kläger die Klage zurücknehmen, die Beklagte auf eine Rückforderung verzichten sollte; diesen Vorschlag lehnte die Beklagte ab. Nachdem sodann das LSG mit Urteil vom 18. Januar 1966 die Klage rechtskräftig abgewiesen hatte, forderte die Beklagte mit Schreiben vom 14. März 1966 die für die Zeit vom 7. Januar 1964 bis zum 31. März 1966 gezahlte Rente - insgesamt 790, 10 DM - vom Kläger zurück. Auf den Widerspruch des Klägers prüfte die Beklagte dessen wirtschaftliche Verhältnisse; in ihrem den Widerspruch zurückweisenden Bescheid vom 30. September 1966 führte die Beklagte aus, die Voraussetzungen für eine Rückforderung nach § 628 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien erfüllt; mit einer Zurückzahlung in Raten erklärte sich die Beklagte einverstanden.
Das SG Hannover hat die hiergegen erhobene Klage durch Urteil vom 19. Juni 1967 abgewiesen.
Das LSG Niedersachsen hat durch Urteil vom 14. März 1968 die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Der Rückerstattungsanspruch der Beklagten stütze sich auf die - im Wege der Lückenausfüllung heranzuziehende - Vorschrift des § 717 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Nach den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. August 1967 (BSG 27, 102) und 19. Dezember 1967 (8 RV 509/65) sei der Leistungsempfänger, wenn ein zusprechendes SG-Urteil aufgehoben werde, entsprechend dieser Vorschrift zur Rückzahlung dessen verpflichtet was der Versicherungsträger in Ausführung des SG-Urteils gemäß § 154 Abs. 2 SGG an Leistungen erbracht habe. Um diesen Tatbestand handele es sich hier.
Auf ein - auch nur mitwirkendes - Verschulden der Beklagten könne sich der Kläger nicht berufen (BSG-Urteil vom 15. März 1966, Breithaupt 1966, 766, 767). Angesichts des von der Beklagten im Ausführungsbescheid erklärten Vorbehalts habe der Kläger auf eigene Gefahr gehandelt, wenn er die Rentenbeträge verbraucht haben sollte. Auf den allgemeinen Grundsatz, daß auf eine öffentlich-rechtliche Forderung verzichtet werden könne, wenn ihre Einziehung für den Verpflichteten eine besondere Härte darstelle, könne sich der Kläger nicht berufen. Ein besonderer Härtefall sei angesichts seiner und seiner Familienangehörigen Einkommensverhältnisse nicht gegeben. Dem Kläger sei zuzumuten, den Rückforderungsanspruch aus seinem Arbeitsverdienst zu befriedigen, außerdem könnten auch die Ehefrau und der Sohn des Klägers aus ihren Einkünften hierzu beitragen, zumal da auch ihnen die dem Kläger vorläufig gezahlten Rentenbeträge zugute gekommen seien. Sollte ihm die Rückzahlung in einem Betrag nicht möglich sein, stehe es dem Kläger frei, bei der Beklagten Ratenzahlung zu beantragen. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 3. April 1968 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16. April 1968 Revision eingelegt und sie am 24. Mai 1968 wie folgt begründet: Das Urteil des 10. BSG-Senats vom 15. August 1967, von dessen Rechtsauffassung das LSG ausgegangen sei, treffe nicht zu, § 717 ZPO beziehe sich auf die Vollstreckung aus einem Urteil. In Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit habe aber der Versicherungsträger auf Grund eines Urteils nicht dieses selbst auszuführen, sondern vorher durch einen Bescheid Leistungen zu erbringen. Damit entfalle die Unmittelbarkeit zwischen dem in § 717 ZPO normierten Schadensersatzanspruch und dem Schaden des Versicherungsträgers; denn zwischen Urteil und empfangener Leistung habe sich der Bescheid eingeschoben, der erst die vom Kläger begehrte Leistung bewirke. Träfe der in BSG 27, 102 vertretene Standpunkt zu, so wäre § 628 RVO überflüssig. Möglicherweise erkläre sich die Auffassung des 10. BSG-Senats daraus, daß das Begriffsmerkmal "vor rechtskräftiger Entscheidung" (§ 628 Satz 1 RVO) in § 47 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) nicht enthalten sei. Das LSG habe mithin zu Unrecht die Nachprüfung der einzelnen in § 628 RVO aufgezählten Voraussetzungen unterlassen. Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil im Ergebnis bei. Nach ihrer Ansicht stellt die Nichterwähnung des § 628 RVO in den Entscheidungsgründen des LSG einen bloß formalen Mangel dar; denn das LSG habe in Wirklichkeit die Voraussetzungen dieser Vorschrift doch ausreichend festgestellt und geprüft. In der an sich bedenklichen Auffassung des LSG, auch die Ehefrau und der Sohn des Klägers könnten aus ihren Einkünften zur Rückzahlung beitragen, sei lediglich eine nicht ganz korrekte Formulierung zu erblicken; gemeint sei offenbar, daß der Kläger der Ehefrau und dem Sohn angesichts ihrer ausreichenden eigenen Einkünfte keinen Unterhalt zu leisten brauchte.
II
Die zulässige Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an die Vorinstanz zurückverwiesen werden muß.
Während die Beklagte und das SG die Frage, ob der Kläger zur Rückzahlung von 790,10 DM an die Beklagte verpflichtet ist, unter Zugrundelegung des § 628 RVO geprüft haben, ist diese Vorschrift in den Gründen des Berufungsurteils völlig unberücksichtigt geblieben. Der Vorderrichter hat sich vielmehr - angelehnt an Entscheidungen des 10. (BSG 27, 102) und des 8. BSG-Senats (Urteil vom 19. Dezember 1967 - 8 RV 509/65) - ausschließlich mit § 717 Abs. 2 ZPO befaßt und in dieser Vorschrift die Rechtsgrundlage des von der Beklagten erhobenen Anspruchs erblickt. Dieser Standpunkt wird innerhalb des LSG Niedersachsen keineswegs einhellig vertreten, vielmehr findet sich dort auch die Auffassung, bei der Forderung eines Unfallversicherungsträgers auf Rückzahlung der auf Grund eines nicht rechtskräftigen SG-Urteils gemäß § 154 Abs. 2 i. V. m. § 199 Abs. 1 SGG erbrachten Geldleistungen handele es sich um einen Anwendungsfall des im allgemeinen Verwaltungsrecht entwickelten öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs (so LSG Niedersachsen, Urteil vom 21. Juli 1970 - L 3 U 13/70), der aus dem allgemeinen Grundsatz abgeleitet wird, daß ohne Rechtsgrund gewährte öffentliche Leistungen zurückgefordert werden können. Das Bestehen eines solchen Erstattungsanspruchs wird in § 628 RVO vorausgesetzt und seine Geltendmachung zugleich den in Satz 2 des näheren aufgeführten Einschränkungen unterworfen (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., Stand August 1969, S. 730 e, f, h, 732 mit weiteren Nachweisen; Glasner, BG 1969, 31 BSG-Urteil vom 30. Januar 1970 - 2 RU 107/67).
Ob der Rückerstattungsanspruch wegen Leistungen, die vor rechtskräftiger Entscheidung gezahlt werden mußten, mit dem in § 717 Abs. 2 ZPO geregelten Schadensersatzanspruchs vergleichbar ist, bedarf keiner näheren Prüfung. Den in BSG 27, 107, 108 angeführten Argumenten ist nämlich zu entnehmen, daß für den 10. BSG-Senat u. a. der - von § 628 Satz 1 RVO abweichende - Wortlaut des § 47 Abs. 1 VerwVG maßgebend gewesen ist. Eine Auseinandersetzung mit der zu § 47 VerwVG i. V. m. § 154 Abs. 2 SGG ergangenen Rechtsprechung erübrigt sich insbesondere auch deshalb, weil der 10. BSG-Senat neuerdings (Urteil vom 16. September 1970 - 10 RV 645/69) ausdrücklich hervorgehoben hat, auch nach seiner Auffassung dürfe ein Versicherungsträger den ihm zustehenden öffentlich-rechtlichen Rückerstattungsanspruch gegen einen unberechtigten Leistungsempfänger nur unter den bestimmten Voraussetzungen geltend machen, die der Gesetzgeber nach sozialen Gesichtspunkten jeweils - für das Gebiet der Unfallversicherung speziell in § 628 RVO - aufgestellt habe. Der Vorderrichter hätte also auch von seinem - vom erkennenden Senat nicht gebilligten - rechtlichen Ausgangspunkt her beachten müssen, daß der Rückerstattungsanspruch der Beklagten nach § 628 RVO bestimmten Einschränkungen unterliegt, welche im einzelnen zu prüfen sind.
Trotz Nichtanführung des § 628 Satz 2 RVO hat das LSG allerdings die ersten beiden der darin aufgezählten Kriterien - mangelndes Verschulden der Beklagten an der Überzahlung und Kenntnis des Klägers von seiner noch nicht feststehenden Bezugsberechtigung - der Sache nach geprüft und ist dabei zu dem zutreffenden Ergebnis gelangt, daß der Rückerstattungsanspruch der Beklagten hieran nicht scheitert. Insbesondere hat das LSG mit Recht dargelegt, daß ein - auch nur mitwirkendes - Verschulden der Beklagten daran, daß dem Kläger die 790, 10 DM ausgezahlt wurden, nicht etwa darin zu erblicken ist, daß die Beklagte es seinerzeit unterließ, den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 199 Abs. 2 SGG zu beantragen (ebenso BSG in Breithaupt 1966, 767 - insoweit wicht mit abgedruckt in SozR Nr. 8 zu § 1301 RVO; siehe auch Brackmann aaO S. 732, 732 c; Lauterbach, Gesetzliche UV, 3. Aufl., Anm. 5 a zu § 628).
Rechtlichen Bedenken unterliegt das angefochtene Urteil jedoch, soweit es die dritte der in § 628 Satz 2 RVO aufgezählten Voraussetzungen für die Geltendmachung des Rückerstattungsanspruchs behandelt. Danach darf die Beklagte die vor rechtskräftiger Entscheidung gezahlten Rentenbeträge nur zurückfordern, soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers vertretbar ist. Da es hierbei auf die im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung bestehenden Verhältnisse ankommt (vgl. SozR Nr. 8 zu § 1301 RVO; Brackmann aaO S. 732 d, e), hätte das LSG die wirtschaftliche Lage des Klägers am 30. September 1966 (Erlaß des Widerspruchsbescheids) prüfen müssen. Dies ist nicht geschehen, das angefochtene Urteil enthält lediglich Feststellungen zur Höhe des Arbeitseinkommens, das der Kläger in der Zeit von Februar/März 1967 an bezogen hat. Ferner trifft die Ansicht des LSG, die Ehefrau und der Sohn des Klägers könnten "zur Rückerstattung beitragen", in dieser Formulierung nicht zu; Einkünfte von Familienangehörigen des Rückerstattungspflichtigen dürfen im Rahmen des § 628 Satz 2 RVO nur unter dem Gesichtspunkt berücksichtigt werden, ob seine wirtschaftlichen Verhältnisse durch Unterhaltsverpflichtungen an seine Familie beeinträchtigt sind (vgl. Brackmann aaO S. 732 e; Lauterbach aaO, Anm. 5 c zu § 628). Schließlich hat das LSG verkannt, daß es hier auf das - oben genannte - besondere Merkmal der wirtschaftlichen Vertretbarkeit ankommt und nicht auf einen "allgemeinen Grundsatz, daß auf eine öffentlich-rechtliche Forderung verzichtet werden kann, wenn ihre Einziehung für den Verpflichteten eine besondere Härte darstellt".
Auf die begründete Revision des Klägers muß hiernach das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen nicht in der Sache selbst entscheiden kann, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens überlassen bleibt.
Fundstellen