Leitsatz (amtlich)
Zur Berichtigung begünstigender Verwaltungsakte (Anschluß an BSG 1961-09-08 1 RA 104/59 = BSGE 15, 96-101).
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Berichtigung begünstigender Verwaltungsakte.
Bei der zunehmenden Kompliziertheit und Mechanisierung der Beurteilungsvorgänge auf dem Gebiet der Sozialversicherung darf die Möglichkeit zur Berichtigung von Unrichtigkeiten nicht zu eng begrenzt werden.
Zum Begriff des Rechenfehlers als Voraussetzung der Berichtigung eines Verwaltungsaktes.
Die Möglichkeit zur Berichtigung von Rechenfehlern in Verwaltungsakten ist zeitlich nicht begrenzt.
2. Für eine von Amts wegen zu berichtigende offenbare Unrichtigkeit ist es nicht erforderlich, daß sich der Fehler allein schon beim Lesen des Rentenbescheides aufdrängt; es genügt, daß sich die Unrichtigkeit aus außerhalb des Bescheides liegenden Umständen ergibt. Hierbei kommt es auch nicht entscheidend auf das Erkennungsvermögen der im konkreten Falle Beteiligten, sondern auf dasjenige verständiger Personen an.
3. Trotz Fehlens einer ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift können in bindend gewordenen Verwaltungsakten Schreib- und Rechenfehler sowie ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in entsprechender Anwendung des SGG § 138 berichtigt werden.
Für die Annahme einer "offenbaren Unrichtigkeit" ist es nicht erforderlich, daß sich der Fehler allein schon beim Lesen des Rentenbescheides aufdrängt; es genügt vielmehr, daß sich die Unrichtigkeit aus außerhalb des Bescheides liegenden Umstände ergibt. Es kommt hierbei nicht entscheidend auf das Erkennungsvermögen der im konkreten Falle Beteiligten, sondern auf dasjenige verständiger Personen an.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 138 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. März 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob ein auf Grund des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) erfolgter Rentenfestsetzungsbescheid nachträglich zum Nachteil des Rentners berichtigt werden darf.
Die Beklagte gewährte dem Kläger durch Bescheid vom 26. Juni 1957 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung (AV). Diesem Bescheid war als Anlage 1) u. a. eine Erläuterung der Steigerungsbeträge beigefügt, wonach sich für Beiträge aus der AV bis zum 31. Mai 1949 ein Steigerungsbetrag von 106,19 DM und für die Angestelltenversicherungszeiten vom 1. Juni 1949 an ein solcher von 120,92 DM ergab. Zur Berechnung der zur AV entrichteten Beiträge benutzte die Beklagte eine anläßlich eines früheren Rentenverfahrens für den Kläger gefertigte Beitragsübersicht. Aus dieser übernahm sie in die neue Beitragsaufstellung zwar richtigerweise den Übertrag von 15.169,48 DM (die für 36 Beitragsmonate bezifferten Beschäftigungsentgelte für die Zeit bis zum 31. Mai 1949), dazu aber nicht die auf der Rückseite dieser früheren Aufstellung sich ergebende Summe von 1.019,20 DM (Beschäftigungsentgelte für 4 Beitragsmonate nach dem 1. Juni 1949), sondern die sich aus sämtlichen Beträgen ergebende Schlußsumme von 16.188,68 DM. So kam es, daß der Berechnung der Steigerungsbeträge versehentlich Beschäftigungsentgelte in Höhe von rund 31.350,- DM zugrunde gelegt wurden, anstatt von dem Betrag von 16.188,68 DM auszugehen. Demzufolge wurde die monatliche Rente des Klägers mit 210,50 DM beziffert und zunächst in dieser Höhe gezahlt. Mit Bescheid vom 15. April 1959 berichtigte die Beklagte die seinerzeit festgesetzte Rentenhöhe auf den Betrag von monatlich 193,- DM. Der Kläger wandte sich gegen diese Berichtigung. Er bestreitet nicht die versehentlich falsche Berechnung bei der Rentenfestsetzung, ist aber der Meinung, daß die Beklagte an den Bescheid vom 26. Juni 1957 gebunden sei; er erstrebt deshalb die Weiterzahlung der Rente in der bisherigen Höhe. Klage und Berufung des Klägers waren ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ließ in seinem Urteil die Revision zu (Urteil vom 22. März 1961).
Der Kläger legte Revision ein mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Er begründete die Revision mit der Rüge, die Bindungswirkung des § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verbiete die Berichtigung des Bescheides vom 26. Juni 1957 zum Nachteil des Klägers; für eine entsprechende Anwendung des § 138 SGG sei kein Raum, weil eine einem Schreib- oder Rechenfehler ähnliche offenbare Unrichtigkeit nicht vorgelegen habe.
Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Die Beklagte durfte ihren fehlerhaften Bescheid berichtigen.
Ein begünstigender Verwaltungsakt wie der Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1957 wird in der Regel mit dem Zugang an den Berechtigten für die Verwaltung bindend, soweit nicht durch ein Gesetz anderes bestimmt ist (§ 77 SGG). Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 8. September 1961 (BSG 15, 96) dargelegt hat, ist nur unvollständig durch ausdrückliche gesetzliche Vorschriften bestimmt, in welchem Umfang und auf welche Weise solche Verwaltungsakte berichtigt oder zurückgenommen werden können, wenn sie fehlerhaft sind. Rechtsprechung und Rechtslehre haben deshalb schon immer unter allgemeiner Billigung diese Vorschriften ergänzt, vor allem auch für den Fall, daß ein Verwaltungsakt Unrichtigkeiten enthält (BSG aaO). Dieser Rechtsgedanke, der sowohl in ausdrücklichen Vorschriften über Verwaltungsverfahren als auch über gerichtliche Verfahren - z. B. auch in § 138 SGG - wiederkehrt, gilt auch für das Verwaltungsverfahren der Träger der Sozialversicherung. Im Ergebnis hat daher das LSG zu Recht die zu § 138 SGG entwickelten Grundsätze auch zur Entscheidung des vorliegenden Falles herangezogen.
Im vorliegenden Streitfall weist der Bescheid der Beklagten einen Fehler auf, der im Zusammenhang mit der Berechnung der Rente, und zwar bei dem dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Berechnungsvorgang, unterlaufen ist. Das in diesem Bescheid enthaltene unrichtige Ergebnis ist auf ein "mechanisches Versehen" im wahrsten Sinne des Wortes zurückzuführen, nämlich auf die Übernahme falscher Größen aus einer der Berechnung zugrunde liegenden Aufstellung. Dieser Fehler wirkt sich in der Höhe der festgesetzten Rente aus. Dies aber genügt, um ihn als im Zusammenhang mit dem erlassenen Verwaltungsakt zu beachtende Unrichtigkeit zu kennzeichnen. Bei der zunehmenden Kompliziertheit und Mechanisierung der Berechnungsvorgänge auf dem Gebiet der Sozialversicherung darf die Möglichkeit zur Berichtigung von Unrichtigkeiten nicht zu eng begrenzt sein. Nach Auffassung des Senats kann es dahingestellt bleiben, ob die im vorliegenden Fall unterlaufene Unrichtigkeit als ein Schreibfehler im weiteren Sinne (wie es das LSG annimmt) oder als ein Rechenfehler (wovon das SG ausgeht) anzusehen ist. Denn jedenfalls liegt eine den genannten Fehlern ähnliche offenbare Unrichtigkeit im Sinne der den verschiedenen Vorschriften über Verwaltungsverfahren (KOV, RAO) und das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten (§ 138 SGG, § 118 VwGO) zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgedanken vor.
Für die Frage, ob die vom Kläger nicht bestrittene Unrichtigkeit des angegriffenen Bescheides der Beklagten auch offenbar gewesen ist, ist es - wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 8. September 1961 dargelegt hat (aaO) - nicht erforderlich, daß sich der Fehler allein schon beim Lesen des Rentenbescheides aufdrängte; es genügt vielmehr, daß sich die Unrichtigkeit aus außerhalb des Bescheides liegenden Umständen ergab. Hierbei kommt es auch nicht entscheidend auf das Erkennungsvermögen der im konkreten Falle Beteiligten, sondern auf dasjenige verständiger Personen an. Eine Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt die Offenbarkeit der Unrichtigkeit. Der Kläger wie auch jede verständige andere Person mußte schon aus dem eigenen Wissen über den zugrunde liegenden Sachverhalt im Zusammenhang mit den dem Rentenbescheid vom 26. Juni 1957 beigefügten Erläuterungen, insbesondere zu den Spalten 5 und 6 der Anlage 1) erkennen, daß der Steigerungsbetrag für die Zeiten vom 1. Juni 1949 an nicht höher sein konnte als der für die Zeit vorher, in der er rund das fünfzehnfache Entgelt verdient hatte. Hierbei kommt es nicht darauf an, daß er den Grund für diese offenbare Unrichtigkeit erkannte; es genügt vielmehr, daß ihm dieses Ergebnis nicht richtig erscheinen konnte.
Der Senat hätte allerdings auch keine Bedenken, die hier unterlaufene Unrichtigkeit den sogenannten Rechenfehlern zuzurechnen. Es wäre wohl eine zu enge Auslegung des Begriffs "Rechenfehler", hierunter nur solche Fehler zu verstehen, die auf einer unrichtig durchgeführten Rechenmethode beruhen. Schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch wird es ebenso als Rechenfehler anzusehen sein, wenn - wie hier - trotz einwandfreier Rechenmethode ein unrichtiges Ergebnis dadurch herbeigeführt wird, daß zwei an sich richtig addierte Posten nicht hätten zusammengezählt werden dürfen. Als entscheidender Umstand dafür, daß in solchem Falle noch von Rechenfehler gesprochen werden kann, wird zu werten sein, daß solcher Fehlleistung nicht eine selbständige gedankliche Arbeit vorausgegangen ist, sie also nicht auf einem logischen Fehlschluß, sondern auf einem mechanischen Versehen beruht. Wenn einem solchen Fehler weder eine unrichtige Tatsachenwertung noch ein Rechtsirrtum zugrunde liegt, muß er daher nach Auffassung des Senats dem Rechenfehler gleichgestellt werden. Auch im vorliegenden Fall standen die für die Rentenfestsetzung erforderlichen Merkmale fest, und es gab weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht irgendeinen Zweifel. Gewollt war die fehlerfreie Berücksichtigung der bereits errechneten Beschäftigungsentgelte. Um die Einheit zwischen dem, was gewollt war, und dem, was tatsächlich geschehen ist, wieder herzustellen, wurde das Versehen später berichtigt.
In der vorliegenden Streitsache sind demnach die Voraussetzungen gegeben, unter denen nach den oben dargelegten allgemeinen Rechtsgrundsätzen trotz fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Vorschriften auch ein begünstigender Verwaltungsakt berichtigt werden kann. Die Möglichkeit der Berichtigung von derartigen Unrichtigkeiten ist zeitlich nicht begrenzt. Die in diesem Zusammenhang stehenden Erörterungen des Senats (aaO) darüber, ob bei Berichtigung von Fehlern anläßlich der Rentenumstellung im Jahre 1957 an einen bestimmten Endzeitpunkt zu denken wäre, sind im vorliegenden Streitfall deshalb nicht angebracht, weil es sich nicht um eine umgestellte Rente und einen entsprechenden Umstellungsbescheid handelt. Eine Rückforderung von überzahlten Rentenbeträgen ist nicht streitig; es bedarf daher auch keiner Entscheidung darüber, welche rechtliche Bedeutung dem Berichtigungsbescheid für die Vergangenheit zukäme.
Das angefochtene Urteil des LSG ist somit im Ergebnis richtig, die Revision des Klägers deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen