Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfolgungszeiten

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Einwände gegen die Rechtsprechung des erkennenden Senats geben nach erneuter Prüfung keinen Anlaß, diese Rechtsprechung aufzugeben.

 

Normenkette

AVG § 10 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1233 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. September 1965 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger war vor 1933 insgesamt 59 Kalendermonate in der Angestelltenversicherung versichert. 1933 wanderte er aus, weil er aus rassischen Gründen (als Jude) verfolgt wurde. Die Zeiten von April 1933 bis 31. Dezember 1949 wurden als Ersatzzeiten anerkannt. Das Begehren des Klägers, ihm die freiwillige Weiterversicherung nach § 10 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu gestatten, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Oktober 1963 ab, weil mit 59 Pflichtbeitragsmonaten die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt seien; die Ersatzzeit könne nicht als Vorversicherungszeit berücksichtigt werden. Nach erfolglosem Widerspruch des Klägers hob das Sozialgericht (SG) Berlin den ablehnenden Bescheid und den Widerspruchsbescheid auf und stellte fest, der Kläger sei zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt (Urteil vom 7. Dezember 1964). Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Berlin am 29. September 1965 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab: Das Verfolgtengesetz vom 22. August 1949 regele für die Rentenversicherung nur die Leistungsansprüche der Verfolgten, hinsichtlich des Rechts zur freiwilligen Weiterversicherung enthalte es keine Vorschriften; es handele sich dabei nicht um eine Lücke des Gesetzes, aus dem sonstigen Inhalt des Verfolgtengesetzes ergebe sich vielmehr, daß das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung auch für die Verfolgten nach den allgemeinen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften zu beurteilen sei; durch die am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze und das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 habe sich hieran nichts geändert, auch aus Art. ... des Bundesentschädigungs-Schlußgesetzes (BEG-Schlußgesetz) vom 14. September 1965 ergebe sich nichts anderes. Das LSG ließ die Revision zu.

Der Kläger legte frist- und formgerecht Revision ein, er beantragte,

unter Aufhebung des Urteils des LSG Berlin vom 29. September 1965 das Urteil des SG Berlin vom 7. Dezember 1964 wiederherzustellen.

Zur Begründung trug er vor, der Gesetzgeber wolle den Verfolgungsschaden in vollem Umfange, also auch auf versicherungsrechtlichem und nicht nur auf leistungsrechtlichem Gebiet, wiedergutmachen; der Kläger sei durch seine verfolgungsbedingte Auswanderung an der Entrichtung weiterer Beiträge gehindert worden; da er weiterhin im Ausland lebe, dürfe es ihm nicht zum Nachteil gereichen, daß er aus Unkenntnis bis 31. Dezember 1956 von der nach damaligem Recht gegebenen Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung keinen Gebrauch gemacht habe; jedenfalls zwinge aber Art. ... des BEG-Schlußgesetzes vom 14. September 1965, der verfolgten Frauen, die sich in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft ihre Beiträge wegen Heirat haben erstatten lassen, das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung und sogar zu einer sehr weitgehenden Nachentrichtung von Beiträgen eingeräumt habe, zu dem Schluß, daß für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 10 AVG die verfolgungsbedingten Ersatzzeiten als Vorversicherungszeit mit zu berücksichtigen seien. Die gegenteilige Auffassung, die der erkennende Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in den Urteilen vom 28. Juni und vom 21. September 1966 vertreten habe, werde der Stellung der Verfolgten nicht gerecht.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), sie ist aber nicht begründet.

Der Kläger darf sich nicht nach § 10 Abs. 1 AVG weiterversichern, weil er nicht "während mindestens 60 Kalendermonaten Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat"; das Recht zur Weiterversicherung steht ihm auch nicht nach Art. 2 § 5 Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) zu, weil er bis zum Inkrafttreten des AnVNG von der in § 21 AVG aF eingeräumten Befugnis zur freiwilligen Versicherung keinen Gebrauch gemacht hat.

Die Einwände des Klägers gegen die Urteile des Senats vom 28. Juni 1966 (SozR Nr. 6 zu § 1233 RVO = § 10 AVG) und vom 21. September 1966 - 11 RA 340/65 -, die die gleiche Rechtsfrage betreffen, geben dem Senat auch nach erneuter Prüfung keinen Anlaß, die dort vertretene Rechtsansicht aufzugeben. Zwar ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber - wie dies in dem Urteil des BSG vom 16. September 1966 (BSG 13, 67, 70) dargelegt ist - die Verfolgten in der Rentenversicherung grundsätzlich so stellen will, als ob sie während der Verfolgungszeit versicherungspflichtig beschäftigt geblieben wären. Es ist jedoch auch Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, inwieweit dieser Grundsatz im einzelnen verwirklicht werden soll. Gerade für den Anwendungsbereich des § 10 AVG ist aber anzunehmen, daß der Gesetzgeber die Verfolgungszeiten nicht den Pflichtbeitragszeiten hat gleichstellen wollen. Er hat sich sowohl bei der Entstehung der Vorschrift (vgl. Urteil des BSG vom 23. März 1961 - BSG 14, 133, 135 ff -) als auch bei ihrer Änderung durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 gegen eine Anrechnung von Ersatzzeiten auf die für die Weiterversicherung erforderlichen Mindestbeitragszeiten entschieden. Hätte er die verfolgungsbedingten Ersatzzeiten (§ 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG) anders behandeln wollen als die übrigen Ersatzzeiten, so hätte er dies ausdrücklich sagen müssen. Dies ist nicht geschehen. Auch das Entschädigungsrecht enthält insoweit keine besondere Regelung; das Bundesentschädigungsschlußgesetz vom 14. September 1965 - BGBl I 1375 - sieht in Art. ... eine Sonderregelung für Verfolgte nur für den Fall vor, daß in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 an Frauen Beiträge wegen Heirat erstattet worden sind; hier kann die Verfolgte abweichend von § 140 AVG Beiträge für die Zeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück nachentrichten. Darüber hinausgehende Erleichterungen für Verfolgte enthält auch das Bundesentschädigungs-Schlußgesetz nicht; dieses Gesetz aber stellt, zeitlich gesehen, die letzte Stellungnahme des Gesetzgebers zur Frage der Entschädigung der Verfolgten dar.

Da das LSG sonach die Rechtslage zutreffend beurteilt hat, ist die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2347531

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