Leitsatz (amtlich)
Ist ein Versicherter nach Aussteuerung mit dem Anspruch auf Krankengeld wieder arbeitsfähig geworden, aber noch behandlungsbedürftig geblieben, so hat er, wenn er danach wegen einer neuer Krankheit arbeitsunfähig wird, einen "neuen" Anspruch auf Krankengeld iS des RAM-Erl 1945-11-02 Abschn 1 Nr 2 Buchst a S 2, auch wenn er in der Zeit vor Beginn der neuen Arbeitsunfähigkeit wegen des Aussteuerungsleidens arbeitsunfähig war.
Normenkette
RAMErl 1943-11-02 Abschn. 1 Nr. 2 Buchst. a S. 2
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. Oktober 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin, früher kaufmännische Angestellte, ist seit 1953 Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Sie bezog eine Versorgungsrente; als Versorgungsleiden war "Zustand nach Labyrinthentfernung wegen einer grippösen Mittelohrentzündung" anerkannt. Wegen dieser mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit hatte sie u. a. Krankengeld von der beklagten Ersatzkasse bis zur satzungsmäßigen Höchstdauer bezogen; am 29. Juni 1955 wurde sie ausgesteuert.
Am 8. Mai 1956 trat sie in ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bei der Wäscherei M in Bad L. . Sie wurde am 22. Juni 1956 arbeitsunfähig wegen eines komplexen Leidenszustands, den ihr behandelnder Arzt Dr. M - Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden - wie folgt beschrieb: "Status Labyrinthrez , linkes Ohr, Kraftlosigkeit linker Arm". Auf Grund dieser Bescheinigung und der Mitteilung der beklagten Ersatzkasse, die Klägerin sei wegen eines anerkannten Wehrdienstleidens am 22. Juni 1956 erneut arbeitsunfähig geworden und habe keinen Anspruch mehr auf Barleistungen, bewilligte das Versorgungsamt Versorgungskrankengeld für die Zeit vom 22. Juni bis 3. September 1956. Von diesem Zeitpunkt an war nach Auffassung des versorgungsärztlichen Dienstes das Versorgungsleiden nicht mehr für die Arbeitsunfähigkeit bestimmend. Mit Bescheiden vom 20. Januar 1958 und 28. Januar 1959 hat das Versorgungsamt unter Aufhebung der Anerkennungs- und Bewilligungsbescheide sämtliche Versorgungsleistungen zurückgefordert.
Die Klägerin war über den 3. September 1956 hinaus - nunmehr vor allem wegen ihrer Schultergelenksentzündung - arbeitsunfähig geblieben und zeitweise ambulant, zeitweise stationär behandelt worden. Sie ist der Auffassung, daß die beklagte Ersatzkasse ihr vom 4. September 1956 bis zum Ablauf der 52. Woche die satzungsmäßigen Barleistungen zu gewähren habe. Die beklagte Ersatzkasse lehnte dies ab und wies auch den Widerspruch der Klägerin mit der Begründung zurück, die Klägerin habe am 4. September 1956 keinen neuen Anspruch auf Krankengeld bzw. Krankenhauspflege erwerben können, da sie bis zum Beginn der durch die Schultergelenksentzündung ausgelösten Arbeitsunfähigkeit noch wegen des Versorgungsleidens arbeitsunfähig gewesen und somit nicht eine Zeitlang dazwischen arbeitsfähig gewesen sei (Bescheid vom 27. Dezember 1956).
Das Sozialgericht (SG) hat den angefochtenen Widerspruchsbescheid aufgehoben und die beklagte Ersatzkasse verurteilt, die satzungsmäßigen Leistungen vom 4. September 1956 an bis zur vollendeten 52. Woche zu gewähren (Urteil vom 18. November 1957). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der beklagten Ersatzkasse dieses Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen, weil das Urteil des SG auf wesentlichen Mängeln des Verfahrens beruhe (Urteil vom 25. März 1960). Die hiergegen eingelegte Revision der beklagten Ersatzkasse - 3 RK 40/60 - wurde zurückgenommen.
Am 19. Februar 1962 hob das SG erneut den angefochtenen Widerspruchsbescheid auf und verurteilte die Ersatzkasse, der Klägerin vom 4. September 1956 bis zum 24. Juni 1957 die satzungsmäßigen Leistungen zu gewähren; im übrigen - nämlich wegen Forderungen auf Beitragsrückgewähr und Ersatz außergerichtlicher Kosten - wies es die Klage ab.
Die hiergegen gerichtete Berufung der Ersatzkasse hat das LSG mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß Krankengeld erst vom 7. September 1956 an zu zahlen ist; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 4. Oktober 1963). Das LSG hat als entscheidend angesehen, daß die neue Krankheit, die vom 4. September 1956 an Arbeitsunfähigkeit bedingte, nicht während des Krankengeldbezugs, sondern erst nach der Aussteuerung und nach einer darauf folgenden Zwischenzeit der Arbeitsfähigkeit eingetreten sei (§ 183 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF i. V. m. Abschnitt I Nr. 2 Buchst. a Satz 2 des Erlasses RAM vom 2. November 1943 betr. Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung - Verbesserungserlaß -; AN 1943, 485). Daß die Klägerin während ihrer erneuten Arbeitsunfähigkeit zu deren Beginn Versorgungskrankengeld - später zurückgefordert - bezogen habe, sei unerheblich; denn Versorgungskrankengeld sei kein Krankengeld i. S. des Abschnitts I Nr. 2 Buchst. a des Verbesserungserlasses. Da die Klägerin nach ihrer Aussteuerung wegen des Aussteuerungsleidens zwar noch behandlungsbedürftig, aber eine Zeit lang nicht mehr arbeitsunfähig gewesen sei, habe sie mit der vom 4. September 1956 an auf einer neuen Krankheit beruhenden. Arbeitsunfähigkeit einen neuen Anspruch auf Krankengeld i. S. des Abschnitts I Nr. 2 Buchst. a Satz 2 des Verbesserungserlasses erworben. Zu berücksichtigen sei jedoch, daß Krankengeld nach § 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO aF erst vom vierten Tage der Arbeitsunfähigkeit, also im vorliegenden Fall nicht vom 4., sondern erst vom 7. September 1956 an, zu gewähren sei.
Gegen dieses Urteil hat die beklagte Ersatzkasse Revision mit dem Antrag eingelegt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie hat zur Begründung der Revision im wesentlichen geltend gemacht: Wie der Wortlaut des Abschnitts I Nr. 2 Buchst. a Satz 2 des Verbesserungserlasses zeige, stehe der neue Anspruch auf Krankengeld dem Versicherten nur zu, wenn dieser unmittelbar vor Beginn der auf neuer Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit arbeitsfähig gewesen sei. Außerdem sei erforderlich, daß der Versicherte wegen einer neuen Krankheit arbeitsunfähig "werden" müsse. Die Klägerin sei aber schon aus anderer Ursache arbeitsunfähig geworden.
Die Klägerin hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Der Gesetzgeber habe wohl an den Fall, wie er vorliege, nicht gedacht, daß sich an eine durch ein Aussteuerungsleiden bedingte Arbeitsunfähigkeit eine durch neue Krankheit hervorgerufene Arbeitsunfähigkeit anschließe. Durch Umkehrschluß müsse aus dem Obersatz (Abschnitt I Nr. 2 Buchst. a Satz 1 des Verbesserungserlasses) abgeleitet werden, daß ein neuer Anspruch auf Krankengeld dann entstehe, wenn die neue Krankheit nicht während einer Zeit auftrete, in der bereits Krankengeld gewährt werde.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der beklagten Ersatzkasse ist unbegründet. Zu Recht hat das angefochtene Urteil die Entscheidung des SG insoweit bestätigt, als die Ersatzkasse verurteilt wurde, der Klägerin vom 7. September 1956 bis 24. Juni 1957 die satzungsmäßigen Leistungen (Kranken- und Hausgeld) zu gewähren.
Der Ersatzkasse ist zuzustimmen, wenn sie Abschnitt I Nr. 2 Buchst. a Satz 2 des Verbesserungserlasses als nicht unmittelbar für den vorliegenden Fall passend ansieht. Nach der genannten Bestimmung ist Voraussetzung für den neuen Anspruch auf Krankengeld, daß der Versicherte wieder arbeitsfähig, aber noch - wegen des Aussteuerungsleidens - behandlungsbedürftig ist und wegen einer neuen Krankheit arbeitsunfähig wird. Im vorliegenden Fall lag jedoch zwischen der Zeit, als die Klägerin nach ihrer Aussteuerung wieder arbeitsfähig geworden aber noch behandlungsbedürftig geblieben war, und dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit wegen einer neuen Krankheit (4. September 1956) ein Zeitraum - nämlich vom 22. Juni bis 3. September 1956 -, in dem sie bereits wegen des Aussteuerungsleidens arbeitsunfähig gewesen war.
Mit Recht hat jedoch das LSG angenommen, daß diese Besonderheit des Sachverhalts der Anwendbarkeit des Abschnitts I Nr. 2 Buchst. a Satz 2 des Verbesserungserlasses im vorliegenden Fall nicht entgegensteht. Die "neue Krankheit" löst nur dann keinen neuen Anspruch auf Krankengeld aus, wenn sie während der Zeit auftritt, in der bereits wegen einer auf einer anderen Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit Krankengeld gewährt wird (Abschnitt I Nr. 2 Buchst. a Satz 1 des Verbesserungserlasses). In diesem Falle greift der Grundsatz der "Einheit des Versicherungsfalls" durch: Ist einmal wegen eines Leidenszustands Behandlungsbedürftigkeit eingetreten, so kann das Hinzutreten einer auf anderer Ursache beruhenden Erkrankung nur den bereits als Krankheit bestehenden Zustand erschweren und möglicherweise verlängern, aber nicht unterbrechen; der mit Beginn der Behandlungsbedürftigkeit eingetretene Versicherungsfall findet seinen Abschluß erst mit deren Ende (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 25. Mai 1966 - 3 RK 8/63 - SozR RVO § 182 Nr. 17).
Indessen ist der Grundsatz der Einheit des Versicherungsfalls gerade für den Fall des Abschnitts I Nr. 2 Buchst. a Satz 2 des Verbesserungserlasses durchbrochen (vgl. die angeführte Entscheidung des BSG). Trotz Fortdauer desselben - im vorliegenden Fall bereits durch das Aussteuerungsleiden ausgelösten - Versicherungsfalls wird in diesem Fall ein neuer Anspruch auf Krankengeld gewährt. Hier wird dem Umstand, daß der Versicherte wieder arbeitsfähig geworden - wenngleich behandlungsbedürftig geblieben - ist, in begrenztem Umfang heilende Kraft für die Aussteuerungswirkung zuerkannt. Offenbar liegt dem die Erwägung zugrunde, es würde eine Überspannung des Grundsatzes der Einheit des Versicherungsfalls bedeuten, wenn die sich bei bestimmten Krankheiten nicht selten jahrelang hinziehende Behandlungsbedürftigkeit trotz Wechsels der wesentlichen Ursache des Leidenszustands nicht einmal dann die Entstehung eines neuen Anspruchs auf Krankengeld zuließe, wenn das ursprüngliche Leiden nicht mehr Arbeitsunfähigkeit bedingte. Nach Sinn und Zweck des Abschnittes I Nr. 2 Buchst. a Satz 2 des Verbesserungserlasses ist demnach der Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit der entscheidende Umstand, der der Entstehung eines neuen Anspruchs auf Krankengeld auf der Grundlage einer neuen Krankheit Raum gibt.
Diese wesentliche Voraussetzung ist aber auch im vorliegenden Fall gegeben. Die Klägerin ist in der Zeit vor dem 22. Juni 1956 arbeitsfähig gewesen. Daß sie nach diesem Zeitpunkt bis zum 4. September 1956, dem Beginn der auf einer neuen Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit, noch im wesentlichen wegen des Aussteuerungsleidens arbeitsunfähig gewesen ist, hat die Entstehung des neuen Anspruchs auf Krankengeld nur hinausgeschoben. Die heilende Wirkung der zeitweisen Arbeitsfähigkeit für die Möglichkeit eines neuen Anspruchs ist aber dadurch nicht beseitigt worden.
Demnach steht der Klägerin der Anspruch auf Krankengeld - bzw. Hausgeld für die Zeiten der Krankenhauspflege - in dem vom LSG zuerkannten Umfang zu. Die Revision der Ersatzkasse ist als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen