Leitsatz (amtlich)

Die Berufung ist nach SGG § 145 Nr 4 ausgeschlossen, wenn streitig ist, ob eine nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 % bemessene Dauerrente nach RVO § 587 auf die Vollrente zu erhöhen ist (Anschluß an BSG 1969-08-27 2 RU 84/68 = SozR Nr 18 zu § 145 SGG).

 

Normenkette

SGG § 145 Nr. 4 Fassung: 1958-06-25; RVO § 587 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. November 1968 wird aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. April 1968 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger leidet seit seiner Kindheit an einer Schielschwachsichtigkeit des rechten Auges; dessen Sehschärfe beträgt etwa 50 v.H. Am 27. Dezember 1961 zog er sich als Assessor im Forstdienst der Landwirtschaftskammer H durch einen Arbeitsunfall eine Verletzung des linken, bis dahin voll sehfähigen Auges zu, die praktisch zur Erblindung dieses Auges führte. Er ist nunmehr besonders beim Nahsehen erheblich behindert. Maschinenschrift und Handschriften kann er nur mit einer stark vergrößernden Lupenbrille lesen; Feinheiten in der Schrift erkennt er nur für kurze Zeit und unter erheblichen Anstrengungen. Überanstrengungen beim Lesen führen bei ihm zu Kopfschmerzen und Verschwommensehen.

Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls bewilligte die beklagte landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft dem Kläger vom 15. Mai 1962 an eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 45 v.H. Hiergegen erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg mit dem Antrag, die Rente auf 60 v.H. der Vollrente festzusetzen. Während dieses Verfahren noch schwebte, beantragte er bei der Beklagten, ihm vom 1. Oktober 1964 an - zu diesem Zeitpunkt wurde er aus seinem Beschäftigungsverhältnis bei der Landwirtschaftskammer wegen Dienstunfähigkeit entlassen - auf Grund des § 587 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Vollrente zu gewähren, weil er infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen sei. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 24. Februar 1965 mit der Begründung ab, der Kläger sei dauernd und nicht behebbar arbeitslos.

Nach Erhebung der hiergegen gerichteten Klage haben die Beteiligten in dem Verfahren über die Höhe der MdE am 29. März 1966 einen gerichtlichen Vergleich geschlossen (Az.: L 3 U 121/64 des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen); danach erhält der Kläger eine Teilrente nach einer MdE von 50 v.H. Außerdem bezieht er von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Durch Urteil vom 23. April 1968 hat das SG Lüneburg den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 24. Februar 1965 aufgehoben und diese verurteilt, die Verletztenrente des Klägers vom 1. Oktober 1964 an auf die Vollrente zu erhöhen. Auf die - nicht zugelassene - Berufung der Beklagten hat das LSG Niedersachsen durch Urteil vom 19. November 1968 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage mit der Begründung abgewiesen, daß es für den Kläger trotz seines schlechten Sehvermögens objektiv Arbeitsmöglichkeiten gebe, er also nicht "infolge des Arbeitsunfalls" ohne Arbeitseinkommen sei.

Der Kläger hat - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 587 Abs. 1 RVO und der §§ 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit folgenden Ausführungen: Die Teilrente von 50 v.H. müsse auf die Vollrente erhöht werden, weil die Folgen des Arbeitsunfalls vom 27. Dezember 1961 die allein wesentliche Ursache dafür seien, daß er kein Arbeitseinkommen erziele; denn vor dem Arbeitsunfall habe er trotz seiner Schielschwachsichtigkeit seinen Beruf als Forstassessor ausüben können. Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergebe sich, daß der Verlust des Sehvermögens auf dem linken Auge zu einer erhöhten, nicht kompensierbaren Belastung des rechten Auges geführt habe. Das LSG hätte durch Vernehmung eines Sachverständigen klären müssen, wie sich die Unfallfolgen bei einer beruflichen Dauerbelastung auswirken. Weiter bedürfe es der Prüfung, ob geringfügige Einkünfte als Arbeitseinkommen zu werten seien. Die Feststellung des LSG, der Kläger habe seit 1964 durch Erstattung forstwirtschaftlicher Gutachten Arbeitseinkommen erzielt, beruhe auf unzureichender Sachaufklärung. Ohne Einkommen sei er jedenfalls im Jahre 1965 gewesen. Für die Jahre 1966 und 1967 hätte das LSG zu prüfen gehabt, ob er kontinuierlich Einkommen erzielt habe und - verneinendenfalls - ob er während einkommensloser Zeiten "infolge des Arbeitsunfalls" ohne Einkommen gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG Niedersachsen vom 19. November 1968 nach dem Klageantrag zu erkennen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung insbesondere deshalb für zutreffend, weil der Kläger nicht nur, wie § 587 RVO voraussetze (BSG SozR Nr. 5 zu § 587 RVO), vorübergehend ohne Arbeitseinkommen sei, sondern wegen seiner von Kindheit an bestehenden Schielschwachsichtigkeit des rechten Auges dem Arbeitsmarkt objektiv nicht zur Verfügung stehe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil das LSG zu Unrecht die Berufung der Beklagten als statthaft erachtet und über sie sachlich entschieden hat. Die Statthaftigkeit der Berufung als einer unverzichtbaren Prozeßvoraussetzung, von der das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung des Rechtsmittels in seiner Wirksamkeit abhängt, ist - bei zulässiger Revision - noch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen (BSG 2, 225, 226; 3, 124, 126 und 234, 235; 5, 204, 205).

Der Statthaftigkeit der - vom SG nicht zugelassenen - Berufung steht § 145 Nr. 4 SGG entgegen. Nach dieser Vorschrift, zu welcher Stellung zu nehmen der Senat den Beteiligten Gelegenheit gegeben hatte, ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Berufung ausgeschlossen, soweit sie den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit oder die Neufeststellung von Dauerrenten wegen Änderung der Verhältnisse betrifft, es sei denn, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Rente davon abhängt oder die Änderung durch ein neu hinzugetretenes Leiden verursacht worden ist. Dem LSG ist zwar darin beizupflichten, daß die angeführte Berufungsausschlußvorschrift nicht aus dem Gesichtspunkt eines Streites über den Grad der MdE eingreift; denn der Grad der MdE liegt mit 50 v.H. fest und ist im Berufungsverfahren von keinem der Beteiligten in Zweifel gezogen worden. Dem LSG ist jedoch entgangen, daß die Berufung "die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse" betrifft und somit nach dieser zweiten Alternative des § 145 Nr. 4 SGG nicht statthaft ist. Die Verletztenrente, auf deren Erhöhung das Klagebegehren gerichtet ist, ist eine Dauerrente; sie war als solche schon mit Bescheid vom 22. Mai 1963 bewilligt worden und hat ihren Charakter durch den gerichtlichen Vergleich vom 29. März 1966 nicht geändert. Wie bereits der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch zwei Urteile vom 27. August 1969 - 2 RU 84/68 und 2 RU 195/66 - entschieden hat (SozR Nr. 18 zu § 145 SGG und SozR Nr. 5 zu § 587 RVO), handelt es sich bei der Erhöhung einer Dauerrente auf die Vollrente nach § 587 RVO um eine "Neufeststellung wegen Änderung der Verhältnisse" (ebenso für den - umgekehrten - Fall der Herabsetzung der Vollrente: LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1969, 29). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat nach eigener Prüfung an. Die Änderung der Verhältnisse, die der Kläger zum Anlaß nimmt, eine Neufeststellung in Gestalt einer Erhöhung seiner Dauerrente zu verlangen, liegt im vorliegenden Fall in dem nach seiner Meinung unfallbedingten Verlust seiner Beschäftigung bei der Landwirtschaftskammer. Da vom Streitgegenstand des Berufungsverfahrens die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers nicht abhing und auch der Ausnahmetatbestand der Verursachung der Änderung durch ein neu hinzugetretenes Leiden nicht in Betracht kommt, war die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil nach § 145 Nr. 4 SGG unzulässig.

Die Berufung ist auch nicht nach § 150 SGG zulässig. Die Voraussetzungen der Nummern 2 und 3 dieser Vorschrift sind nicht gegeben; es liegt auch keine Zulassung nach Nr. 1 des § 150 SGG vor. Weder der erkennende Teil des Urteils vom 23. April 1968 noch dessen Entscheidungsgründe enthalten einen Ausspruch über die Zulassung des Rechtsmittels. Lediglich in der Rechtsmittelbelehrung, die als solche zwar nicht durch eine entsprechende Überschrift, aber auch ihren Platz im Anschluß an die Begründung der Kostenentscheidung auszumachen ist, heißt es, gegen das Urteil sei "gemäß §§ 143 ff des Sozialgerichtsgesetzes die Berufung...gegeben". Die Zulassung der Berufung kann allerdings ausnahmsweise auch wirksam sein, wenn sie hinter dem Beginn der Rechtsmittelbelehrung zu finden ist (BSG SozR Nr. 51 zu § 150 SGG in Weiterführung von BSG 2, 67, 69); sie erfordert aber stets einen eindeutigen Ausspruch. Der bloße Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung, das Urteil könne mit der Berufung angefochten werden, reicht nicht aus (BSG 2, 121, 125 und 245, 246; 4, 261, 263; 8, 147). Im vorliegenden Fall läßt sich aus dem ersten Satz der Rechtsmittelbelehrung des SG allenfalls schließen, das Gericht habe die Berufung kraft Gesetzes - nicht kraft Zulassung - als zulässig angesehen. Eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung eröffnet indessen nicht die - ihrem unrichtigen Inhalt entsprechende - Anfechtungsmöglichkeit (BSG SozR Nr. 10 zu § 150 SGG).

Mangels Statthaftigkeit der Berufung muß das Urteil des LSG Niedersachsen aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Lüneburg als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670173

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