Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenentziehung bei Besserung der Erwerbsfähigkeit um 5 vH. Schätzung der MdE
Leitsatz (amtlich)
Eine Änderung der MdE ist nur dann "wesentlich" iS von BVG § 62 Abs 1 S 1, wenn sie mehr als 5 % beträgt; dies gilt auch, wenn die MdE auf 25 % steigt oder daruntersinkt (so auch BSG 1971-03-02 2 RU 39/70 = BSGE 32, 245, BSG 1971-03-02 2 RU 300/68).
Leitsatz (redaktionell)
Die Entziehung der Beschädigtenrente läßt sich nicht mit der Begründung rechtfertigen, die Erwerbsbehinderung habe sich um 5 vH gebessert und erreiche nicht mehr den Grad von 25 vH. Diese Ansicht verstößt gegen die Regel, daß eine Besserung ebenso wie eine Verschlimmerung der Schädigungsfolgen nur dann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62 Abs 1 bedeutet, wenn sich hierdurch der Grad der MdE um mehr als 5 vH senkt oder erhöht. Dieses Prinzip ist im Urteil des BSG vom 1971-03-02 2 RU 39/70 = BSGE, 32, 245 erneut bekräftigt und noch dadurch gefestigt worden, "daß Ausnahmen hiervon nicht mehr anerkannt werden". Die für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung gefundene Leitlinie gilt in gleicher Weise für das Recht der Kriegsopferversorgung (andere Meinung BVGVwV § 62 Nr 3 S 1).
Orientierungssatz
Jede Einschätzung der Erwerbsfähigkeit eines Menschen ist mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor behaftet und insoweit durch einen unvermeidlichen Toleranzbereich gekennzeichnet. Je kleiner die Zahlendifferenz ist, mit der eine solche Bewertung arbeitet, um so geringer ist ihre Überzeugungs- und Beweiskraft.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28, § 30 Abs. 1 Fassung: 1966-12-28, § 31 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Juli 1976 und das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Juli 1974 aufgehoben. Die Bescheide vom 28. Oktober 1969 und 3. Dezember 1971 werden aufgehoben, soweit mit ihnen die Versorgungsbezüge entzogen worden sind.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob es rechtmäßig war, daß dem Kläger die Beschädigtenrente entzogen wurde.
Mit Bescheid vom 30. Juli 1951 war festgestellt worden, daß beim Kläger - geboren im Jahre 1920 - eine Blasenschließmuskelschwäche und der Verdacht auf Nervenwurzelentzündung Folgeerscheinungen von Erkältungen im Winter 1941/42 während des Rußland-Feldzuges seien. Aus einem wechselnden Vorkommen von Erythrozyten im Katheter-Urin war der Verdacht auf einen entzündlichen Prozeß im Bereich der ableitenden Harnwege geschöpft worden. Die Gewährung der Beschädigtenrente wurde jedoch abgelehnt. Hiergegen hatte der Kläger - nach damaligem Verfahrensrecht - Berufung an das Versorgungsgericht eingelegt. Nach nochmaliger medizinischer Begutachtung (Urologe Privatdozent Dr Staehler) bestätigte die Versorgungsverwaltung (Schriftsatz vom 19. Juni 1952) dem Kläger, daß eine chronische Entzündung der Vorsteherdrüse und vegetative Reizerscheinungen der Blase Schädigungsfolgen seien. Der hinzugezogene Sachverständige hatte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen der zuerst genannten Erscheinung auf 5 vH, wegen der anderen auf 15 vH und insgesamt auf 20 vH geschätzt. Zur Erklärung der Versorgungsbehörde, die zugleich als "Angebot" bezeichnet wurde, gab der Kläger keine Stellungnahme ab. Das Versorgungsgericht wies mit Urteil vom 26. November 1952 seine Berufung zurück, soweit sie über das "Angebot" hinausging, nämlich eine höhere Bewertung der anerkannten Leiden und die Berücksichtigung einer Herzschädigung betraf. In den Gründen seiner Entscheidung würdigte es die ärztlichen Stellungnahmen als bedenkenfrei.
Auf Initiative des Klägers wurde er im Jahre 1956 abermals ärztlich untersucht. Fachurologisch wurde keine wesentliche Änderung verzeichnet. Vermerkt wurde nur, daß das Leiden sich nicht sicher "abklären" lasse, weil dazu ein genauer cystoskopischer Befund der Harnblase nötig sei; die Erhebung eines solchen Befundes habe aber der Kläger wiederholt abgelehnt. Als Resultat der Untersuchung stellte die Versorgungsbehörde in dem bindend gewordenen Bescheid vom 4. Januar 1957 chronische Entzündung der Vorsteherdrüse sowie vegetative Reizerscheinungen an der Blase nach Kälteschaden und außerdem als Wehrdienstschädigung eine linksseitige Innenohrschwerhörigkeit fest. Die hierdurch bedingte MdE wurde unter Einschluß des Hörbefundes - dieser mit einer Erwerbseinbuße von 10 vH - insgesamt mit 25 vH bemessen. Der Kläger erhielt daraufhin Beschädigtenrente.
Bei einer Nachuntersuchung im September 1969 befand der Chirurg Dr R., daß die chronische Vorsteherdrüsenentzündung mit Sicherheit nicht mehr vorliege. Die Versorgungsbehörde ließ deshalb - zunächst - nur noch die Innenohrschwerhörigkeit und - im Laufe des gegenwärtigen Prozesses - auch vegetative Reizerscheinungen der Blase als Leidensbezeichnungen gelten. Im übrigen ging sie von einer wesentlichen Besserung im Gesundheitszustand des Klägers aus. Die MdE erreiche nicht mehr 25 vH. Die Versorgungsbezüge wurden zu Ende Dezember 1969 entzogen (Bescheid vom 28. Oktober 1969; Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 1971).
Die Klage ist in den ersten beiden Rechtszügen abgewiesen worden; von dem Landessozialgericht (LSG) aus folgenden Gründen: Durch den Wegfall der Prostatitis habe die Rentenberechtigung des Klägers ihr Ende gefunden. Das jetzt völlig abgeklungene Leiden sei hingegen 1952 aufgrund des Resultats der Palpation und der Untersuchung der Prostataexprimats auf Leukozyten diagnostiziert worden. Diese Erhebungsmethoden habe man damals zur Sicherung der Diagnose einer Entzündung der Vorsteherdrüse als ausreichend angesehen. Dafür bezieht sich das Berufungsgericht auf Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 251. Aufl, Stichwort: Prostatitis; hier: Diagnose. Heute wende man allerdings auch endoskopische und bioptisch-feingewebliche Methoden an. Diese hätten 1973 beim Kläger das Verschwinden der Prostata-Entzündung erkennen lassen. - Das Berufungsgericht hat den Befund des Jahres 1969 mit dem des Jahres 1952 verglichen, obgleich die chronische Entzündung der Vorsteherdrüse durch einen förmlichen Bescheid erst am 4. Januar 1957 als Wehrdienstbeschädigung angeführt worden war. Demgegenüber nahm das Berufungsgericht an, daß die Versorgungsbehörde schriftsätzlich gegenüber dem Versorgungsgericht in dem sogenannten Angebot vom 19. Juni 1952 dieses Leiden als Schädigungsfolge anerkannt hatte. Das "Angebot" habe - so das LSG - Verwaltungsaktcharakter gehabt. - Das Berufungsgericht hat sich an seiner Entscheidung nicht deshalb gehindert gesehen, weil die Erwerbsfähigkeit des Klägers nur um 5vH höher als früher zu veranschlagen sei. Die Judikatur des Bundessozialgerichts (BSG) sehe zwar auf dem Gebiete des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in einem solchen Falle die Änderung der Verhältnisse nicht als wesentlich an (BSGE 32, 245, 247 ff). Dadurch sei jedoch die Entscheidung in der gegenwärtigen Streitsache nicht präjudiziert. Hier sei vielmehr als Besonderheit zu berücksichtigen, daß der Fortfall einer Gesundheitsstörung ohnehin die Neufeststellung der Gesamt-MdE nötig gemacht habe. Diese Neufeststellung habe sich auch nicht durch den Wandel in der ärztlichen Einschätzung ergeben, sondern durch die gänzliche Behebung eines krankhaften Befundes.
Der Kläger hat die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er wendet sich dagegen, daß der Zustand von 1952 als Grundlage für denjenigen Vergleich genommen worden ist, der anzustellen war, um eine Änderung der Verhältnisse annehmen zu können. Das "Angebot" vom 19. Juni 1952 habe - meint er - keine Verbindlichkeit ausgelöst, weil es von ihm nicht angenommen worden sei. Davon sei auch die Versorgungsverwaltung früher selbst ausgegangen; denn nur so sei es verständlich, daß es in einem Bescheid vom 25. Juli 1956 heiße, Art und Umfang der Gesundheitsstörungen seien gegenüber der Feststellung in dem Bescheid vom 30. Juli 1951 die gleichen geblieben. Das Angebot von 1952 sei also überhaupt nicht erwähnt worden und 1951 seien nur Blasenschließmuskelschwäche und Verdacht auf Nervenwurzelentzündung, dagegen nicht die chronische Prostatitis angeführt worden. Wenn die Auffassung des LSG zuträfe, hätte - so der Kläger - die Entzündung der Vorsteherdrüse in dem Bescheid von 1956 erwähnt sein müssen. Gehe man dagegen davon aus, daß die Prostatitis 1957 zum ersten Mal anerkannt worden sei, dann beruhe dieses Anerkenntnis lediglich auf den 1956 erhobenen Tastbefunden. Diese seien jedoch nach dem Gutachten des Urologen Dr Fischer für die gestellte Diagnose unzureichend. Unter den gegebenen Umständen könne nicht ausgeschlossen werden, daß eine Prostatitis 1956 ebensowenig wie 1969 bestanden und daß eine Änderung der Verhältnisse nicht stattgefunden habe. - Ferner verstoße das Berufungsurteil gegen das Gesetz, indem schon in einem Ansteigen der Erwerbsfähigkeit um 5 vH die Basis für eine Rentenentziehung gesehen werde. Hinzu komme, daß bei einem so geringen Meßbereich die medizinische Wertung nicht sicher genug getroffen werden könne. - Außerdem beruhe das Berufungsurteil auf einem Aufklärungsmangel. Die Diagnosen von 1952, 1956 und 1969 und die ihnen vorangegangenen Untersuchungsverfahren hätten - wie der Kläger vergeblich beantragt habe - durch Sachverständige kritisch überprüft werden müssen. Das Berufungsgericht habe nicht an den Einwendungen des - den Kläger behandelnden - Urologen Dr Fischer gegen die früheren Gutachten vorbeigehen dürfen.
Der Kläger beantragt,
die angefochtenen Urteile und die angegriffenen Bescheide des Beklagten aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger weiterhin "chronische Entzündung der Vorsteherdrüse" als Schädigungsfolge iS der Entstehung anzuerkennen sowie Beschädigtenrente nach einer MdE von 25 vH über den 31. Dezember 1969 hinaus zu gewähren;
hilfsweise: die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat sich zur Revisionsbegründung nicht geäußert.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Bei der Untersuchung, ob der Gesundheitszustand des Klägers im Jahre 1969 eine größere Leistungsfähigkeit als früher erwarten lasse, sind die Versorgungsverwaltung und die Vorinstanzen von den dafür zutreffenden tatsächlichen Gegebenheiten ausgegangen. Dem späteren Befund war der des Jahres 1952 gegenüberzustellen. Denn bereits damals hatte die Versorgungsbehörde die Erkrankung der Vorsteherdrüse, also das Leiden als Schädigungsfolge verbindlich festgestellt, das sich nachher nicht mehr nachweisen ließ. Diese Feststellung wurde zwar in dem - in einem früheren Gerichtsverfahren von der Behörde abgegeben - Schriftsatz vom 19. Juni 1952 getroffen. In dieser Beziehung stellte der Schriftsatz aber einen Verwaltungsakt dar (vgl hierzu: BSGE 10, 218, 221; BSG Urteil vom 26. Mai 1965 - 4 RJ 527/63, insoweit in BSGE 23, 89 nicht abgedruckt; 26. Januar 1967 - 3 RK 86/65, in BSGE 26, 73 nicht wiedergegeben; BGH RzW 1973, 173). Er enthält die wesentlichen Merkmale eines Bescheides (vgl § 22 VerwVG; § 45 Gesetz des Landes Württemberg-Hohenzollern über Leistungen an Körpergeschädigte vom 11. Januar 1949, Regierungsblatt für das Land Württemberg-Hohenzollern S 215) und regelt dem Kläger gegenüber materiell unmittelbar, daß die chronische Entzündung der Vorsteherdrüse und vegetative Reizerscheinungen der Blase die Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) seien sowie daß die MdE "nach wie vor unter 25 vH" betrage. Erst im Anschluß an diese schriftsätzliche Erklärung heißt es, "daß die Berufung, soweit über das Angebot hinaus" weitere Ansprüche geltend gemacht würden, zurückzuweisen sei. In eben diesem Sinne entschied dann auch das Versorgungsgericht Reutlingen in dem rechtskräftig gewordenen Urteil vom 26. November 1952. In dieser Entscheidung wurde das Ergebnis des vorausgegangenen Sachverständigenbeweises wiedergegeben und ua festgehalten, daß die Erwerbsbehinderung wegen Entzündung der Vorsteherdrüse auf 5 % und die wegen vegetativer Reizerscheinungen der Blase auf 15 % eingestuft worden seien. Der mit dem Schriftsatz der Versorgungsbehörde zugleich ergangene Bescheid fand also in dem vorerwähnten Urteil - zumindest mittelbar - seine Bestätigung. Er war nur unter den gesetzlich bestimmten Umständen abänderbar. - Demgegenüber verschlägt es nichts, daß in dem späteren Bescheid (4.Januar1957) die bereits früher angegebenen Leidensbezeichnungen, ergänzt um eine weitere, nämlich die Innenohrschwerhörigkeit, abermals aufgenommen wurden. Durch die Wiederholung vorangegangener Feststellungen bei gleichgebliebenem Befund wurde die Beschädigtenversorgung des Klägers insoweit nicht auf eine neue Basis gestellt. Dazu hätte es auch eines Änderungs- oder Berichtigungsbescheides bedurft (§ 62 BVG, §§ 40 f VerwVG). Dem steht auch nicht entgegen, daß die in Prozentzahlen der MdE ausgedrückten Bewertungen und Schädigungsfolgen erst im Jahre 1957 verbindlich geworden sein könnten, weil vorher eine Rentenberechtigung verneint worden war und die Einstufung der MdE damals nicht in Bindungswirkung erwuchs. Wichtig ist hingegen, daß die Bewertung der MdE in dem hier interessierenden Teil gegenüber 1952 gleichblieb und auf denselben Gesundheitsstörungen mit übereinstimmendem Ausmaß wie früher beruhte.
Die Entziehung der Beschädigtenrente ließ sich aber nicht mit der Begründung rechtfertigen, die Erwerbsbehinderung des Klägers habe sich um 5 Hundertstel gebessert und sei demgemäß unter das Minimum dessen gefallen, was Voraussetzung einer Rentenberechtigung sei (§ 31 Abs 1 Satz 1 BVG). Diese Ansicht verstößt gegen die Regel, daß eine Besserung ebenso wie eine Verschlimmerung der Schädigungsfolgen nur dann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs 1 Satz 1 BVG bedeutet, wenn sich hierdurch der Grad der MdE um mehr als 5 vH senkt oder erhöht. Dieses Prinzip ist in BSGE 32, 245 nach vorangegangenen Versuchen seiner Durchbrechung erneut bekräftigt und noch dadurch gefestigt worden, "daß Ausnahmen hiervon nicht mehr anerkannt werden" (BSG aaO, 249). Der 2. Senat des BSG, der dies entschied, hat die angeführte Richtschnur ausdrücklich auf das Beispiel der Herabsetzung oder Nichtmehrgewährung der Rente wegen eines Sachverhaltswandels (§ 622 Abs 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -) bezogen (ebenso BSG Urteil vom 2. März 1971 - 2 RU 186/68). Die für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung gefundene Leitlinie gilt in gleicher Weise für das Recht der Kriegsopferversorgung, weil der für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit angewandte Maßstab hier wie dort im Grundsatz, wenn auch nicht immer in seinen Einzelresultaten, gleich ist (vgl BSG Urteil vom 30. Juli 1964 - 9 RV 1122/60; VersorgB 1964, 127 Nr 133). Eine um 5 vH geringere MdE wird von den im Gesetz jeweils um 10 vH abgestuften Durchschnittssätzen mitumfaßt (§ 31 Abs 2 BVG). § 62 BVG ordnet nichts anderes an. In bezug auf die vom Einkommen beeinflußten Leistungen koppelt Abs 1 Satz 2 dieser Vorschrift zwar eine Neufeststellung an eine Hürde von wenigstens 10,- DM monatlich, "es sei denn, daß eine Neufeststellung einer dieser Leistungen aus anderem Anlaß notwendig wird". Diese Regelung, an die vielleicht das Berufungsgericht gedacht hat, ist indessen mit der hier in Betracht zu ziehenden Sachlage nicht zu vergleichen. Der Unterschied besteht darin, daß das Einkommen in Zahlen klar bemessen ist, während sich die MdE nur überschlägig und umständlich umschreiben oder sinnbildlich in einer Verhältniszahl ausdrücken läßt. Gerade diese unvermeidliche Ungenauigkeit und Ungewißheit beim Erfassen einer Erwerbseinschränkung ist der Grund dafür, daß ein Vom-Hundert-Satz von 5 und weniger rechtlich als ein für allemal unerheblich angesehen wird (BSGE 32, 245, 249; Urteil vom 2. März 1971 - 2 RU 300/68).
Die entgegengesetzte Meinung äußert die Verwaltungsvorschrift Nr 3 Satz 1 zu § 62 BVG (hier in der Fassung vom 26. Juni 1969, BAnz Nr 19). Danach soll eine günstige Entwicklung des Gesundheitsbefundes - auch wenn sie von geringstem Gewicht ist - stets beachtlich sein, wenn dadurch die Erwerbsbeeinträchtigung 25 vH erreicht oder wenn diese Schadensquote unterschritten wird. Bei dieser Verwaltungsbestimmung ist jedoch die neuere Rechtsprechung des BSG vom 2. März 1971 (BSGE 32, 245) nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt, daß allgemein den Verwaltungsvorschriften Rechtsnormen, die für die richterliche Entscheidung richtungsweisend wären, oder autoritative Gesetzesinterpretationen nicht zu entnehmen sind (BSGE 25, 78, 82; 29, 41; 35, 173, 174; BSG SozR Nr 18 zu § 35 BVG; SozR 3100 § 36 Nr 1; BVerwGE 26, 90, 96; Weyreuther, DVBl 1976, 853). Der Richter ist infolgedessen der Aufgabe eigener Auslegung nicht enthoben.
Die Richtigkeit der in BSGE 32, 245 aufgezeigten Leitlinie verdeutlicht die gegenwärtige Streitsache. Selbst wenn unterstellt wird, daß der Kläger früher an einer chronischen Prostatitis gelitten hatte und dieses Leiden später abgeklungen war - gegen diese Feststellungen hat die Revision beachtliche Aufklärungsrügen erhoben -, so leuchtet es nicht ohne weiteres ein, daß sich deshalb auch seine Erwerbsfähigkeit gekräftigt haben soll. Um dies dartun zu können, hätten zumindest die Funktionsausfälle oder Funktionsstörungen der Leiden zu den verschiedenen Zeiten miteinander verglichen werden müssen. Es hätte in Rechnung gestellt werden müssen, daß bei der Art der Befunde der Wegfall des einen Leidens auf das Ausmaß der Erwerbsbehinderung keinen Einfluß zu haben brauchte. Neben der Vorsteherdrüsenentzündung hatten sich - vielleicht in gleicher oder ähnlicher Richtung - vegetative Reizerscheinungen der Blase ausgewirkt. Eine bloße Subtraktion der MdE-Grade war ebensowenig stichhaltig, wie es ihre Addition gewesen war. Der medizinische Sachverständige, der Anfang der 50er Jahre für den einen Körperschaden eine Einbuße des Leistungsvermögens von 5 vH und für den anderen eine solche von 15 vH veranschlagt hatte, teilte damit das Gewicht der von ihm erhobenen Befunde auf. Damit war aber nicht notwendig eine Aussage darüber verbunden, in welchem Ausmaß jede Krankheit für sich allein zu einer Beeinträchtigung im Erwerbsleben führte (vgl BSGE 13, 230). Sicher ist nur, daß der Sachverständige die Gesamtwirkung auf 20 vH bezifferte, und denkbar ist, daß er von daher lediglich rückrechnend die Anteile der Einzelbefunde abwog. Offen ist jedoch, ob ohne den Prostatabefund die Bewertung nicht gleich ausgefallen wäre. Von welcher Betrachtungsweise der Sachverständige sich damals leiten ließ, würde heute, wenn es darauf ankäme, wohl kaum mehr zuverlässig zu klären sein. Dieser Zweifel verstärkt die Unsicherheit, die ohnehin mit der Einschätzung der Erwerbsfähigkeit eines Menschen verknüpft ist, einem Dafürhalten, welches durch einen unvermeidlichen Toleranzbereich gekennzeichnet ist. Je kleiner die Zahlendifferenz ist, mit der eine solche Bewertung arbeitet, um so geringer ist ihre Überzeugungs- und Beweiskraft.
Die hier vertretene Auffassung ist mit der jüngeren Judikatur des BSG vereinbar. Freilich ist dem Berufungsgericht einzuräumen, daß die mit Angelegenheiten der gesetzlichen Unfallversicherung befaßten Senate des BSG die oben erörterte strenge, keine Ausnahme duldende Richtlinie in verschiedenen Bereichen ihres Anwendungsfeldes wieder abgeschwächt haben (BSG 37, 177, 179; 41, 99; SozR 2200 § 622 Nr 8; Urteil vom 28. April 1976 - 2 RU 291/74 und Urteil vom 7. Dezember 1976 - 8 RU 14/76). In BSGE 37, 179 hat es der 8. Senat dahingestellt sein lassen, ob er der Rechtsprechung zustimme, daß "ausnahmslos" nur eine um mehr als 5 vH angestiegene oder zurückgegangene MdE rechtserheblich sei. Jedenfalls sei das Gericht, wenn die Verwaltung eine Rentengewährung deshalb abgelehnt habe, weil die Erwerbsbeeinträchtigung den rentenberechtigenden Grad nicht erreiche, in seiner Schlußfolgerung frei. Die Meinung, die sich die Verwaltung zum Umfang der Leistungseinbuße des einzelnen gebildet habe, sei nicht verbindlich geworden, weil sie nur zur Begründung des ablehnenden Verwaltungsaktes geäußert worden sei (ebenso BSGE 41, 101; Urteile vom 28. April und 7. Dezember 1976). Aber auch der von der Verwaltung zuvor "festgestellte" MdE-Grad habe in der Schwankungsbreite von nur plus oder nur minus 5 vH lediglich dann vor der richterlichen Prüfung Bestand, wenn im Verwaltungsverfahren die Schätzungsgrundlagen richtig ermittelt sowie alle für die Schätzung wesentlichen Umstände hinreichend gewürdigt worden seien und die Schätzung selbst nicht auf falschen oder unsachlichen Erwägungen beruhe. In Verfolgung dieser Gedanken heißt es ua weiter, daß dann, wenn die medizinischen Befunde sich später geändert hätten, "auch eine nur um 5 vH von der Schätzung des Versicherungsträgers abweichende Bewertung der MdE durch das Gericht zulässig" sei (BSG-Urteil vom 7. Dezember 1976 - 8 RU 14/76 - Maschinenschrift S 6). - Dieser - im übrigen das Urteil nicht tragende - Satz muß einschränkend verstanden werden. Er ist dem Urteil des BSG vom 2. März 1971 - 2 RU 300/68 gegenüberzustellen, in dem es um eine Aufstockung der MdE um lediglich 5 vH ging, weil das Sehvermögen eines verletzten Auges zunächst nur um 6/15 herabgesetzt, hernach aber völlig ausgefallen war. Damals wurde die Änderung der für die Rentenbewilligung maßgebend gewesenen Verhältnisse für so geringerachtet, "daß sie nicht wesentlich im Sinne des § 622 Abs 1 RVO" sei. Mit diesem Präjudiz stimmt die gegenwärtige Entscheidung überein. Letztere stößt sich auch nicht an dem in BSGE 41, 99 veröffentlichten Urteil. Dort ist die Ersetzung der Verwaltungsentscheidung über die MdE-Höhe durch das Gericht in Fällen für rechtmäßig angesehen worden, in denen die Abweichung von 5 vH oder weniger auf einem "gefestigten allgemeinen Erfahrungssatz" beruht (zur Suggestion von "Erfahrung", durch welche die MdE-Bemessung und Verschiebungen in der Bewertungsskala als rational kontrolliert erscheinen: BSGE 40, 120, 123 = SozR 3100 § 30 Nr 8 S 40). Dieser Gesichtspunkt greift vorliegend nicht ein. Die hier zu entscheidende Sache wird nicht durch eine generelle Übereinkunft in der Neubewertung von Erwerbsbehinderungen beeinflußt. Vielmehr geht es um die Zumessung von Einzelfallumständen auf die Leistungsfähigkeit eines Beschädigten.
Nach allem lag eine wesentliche Änderung der MdE nicht deshalb vor, weil der spätere Gesundheitszustand des Klägers lediglich eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit um 5 vH hervorgerufen hatte und die Erwerbsbehinderung nicht mehr den Grad von 25 vH erreichte. Die Rentenentziehung ist nicht gutzuheißen. Die vorinstanzlichen Urteile sind aufzuheben.
Damit ist dem Klagebegehren voll stattgegeben. Für die Klage auf Verurteilung des Beklagten zur Weitergewährung der Beschädigtenrente über den 31. Dezember 1969 hinaus ist kein Rechtsschutzbedürfnis gegeben, weil der Bescheid, in dem die Versorgungsverwaltung ihre Leistungspflicht anerkannte, wieder voll wirksam ist (BSG SozR Nr 7 zu § 123 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen