Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragszeit neben Ausfallzeit
Leitsatz (amtlich)
Eine unter der Geltung des § 1227 Abs 1 S 1 Nr 8a Buchst c RVO (in der bis 31.12.1983 gültigen Fassung) durchgeführte büropraktische Ausbildung ist keine Ausfallzeit iS des § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 Buchst a oder Nr 4 Buchst b RVO, wenn sie bloß Teil einer - noch andere Ausbildungsabschnitte umfassenden - Rehabilitationsgesamtmaßnahme (Umschulung zum Bürokaufmann) war.
Orientierungssatz
Pflichtbeiträge schließen das Vorhandensein einer Ausfallzeit für dieselbe Zeit nicht schlechthin aus (vgl BSG vom 21.2.1985 11 RA 16/84 = SozR 2200 § 1259 Nr 90 und BSG vom 3.10.1984 5b RJ 96/83 = SozR 2200 § 1255 Nr 21).
Normenkette
RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 8a Buchst c Fassung: 1974-08-07, § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 Buchst a, § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b, § 1255 Abs 7 S 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 15.01.1987; Aktenzeichen L 3 J 196/86) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 12.03.1986; Aktenzeichen S 2 J 96/84) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger unter Anerkennung einer büropraktischen Ausbildung als Ausfallzeit iS des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1a oder Nr 4b der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine höhere Erwerbsunfähigkeitsrente zu zahlen ist.
Die büropraktische Ausbildung des Klägers bei der St. G. - S. in H. vom 1. November 1974 bis 31. Oktober 1975 war Teil einer Umschulung zum Bürokaufmann, die die Beklagte dem Kläger als Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation in der Zeit vom November 1974 bis April 1978 gewährte. Der büropraktischen Ausbildung schloß sich ein Praktikum in einem Umschulungsbetrieb an, das von einem rund 700 Stunden umfassenden Unterricht begleitet wurde. Die Umschulung wurde nach Auskunft der St. G. -S. am 18. April 1978 mit der Kaufmannsgehilfenprüfung vor der Handelskammer Hamburg abgeschlossen. Der Kläger erhielt während der Umschulung Übergangsgeld, für das Pflichtbeiträge entrichtet wurden.
Mit Bescheid vom 16. Juni 1983 gewährte die Beklagte dem Kläger aufgrund eines Versicherungsfalles vom 4. Januar 1982 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Den vom Kläger gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch mit der Begründung, die büropraktische Ausbildung müsse zu seinen Gunsten rentensteigernd berücksichtigt werden, wies die Beklagte mit Bescheid vom 3. Februar 1984 zurück.
Auf die vom Kläger dagegen erhobene Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 12. März 1986 die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 16. Juni 1983 und 3. Februar 1984, die Zeit vom 1. November 1974 bis 31. Oktober 1975 als Fachschulausbildung iS der Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 zu § 1255a Abs 2 RVO anzuerkennen und dem Kläger die Rente gemäß Satz 3 dieser Vorschrift neu zu berechnen, ferner die Zeit vom 1. November 1974 bis 31. Oktober 1975 neben den entrichteten Pflichtbeiträgen als Ausfallzeit unter Anwendung von § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO zu berücksichtigen. Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Zur Begründung führte es an, eine Fachschulzeit könne nicht zu einer Höherbewertung im Rahmen des § 1255a Abs 2 RVO führen, wenn sie nach dem 1. Januar 1965 durchgeführt worden sei. Die Vergleichsberechnung nach § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO sei unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4b RVO vorliegen, nicht möglich, weil wegen der gleichzeitigen Entrichtung von Pflichtbeiträgen nach § 1227 Abs 1 Nr 8a RVO in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung keine anrechenbare Ausfallzeit vorliegen könne. Eine Verdrängung von Beitragszeiten durch Ausfallzeiten nach § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO komme nur in Ausnahmefällen in Betracht. Ein solcher liege nicht vor (Urteil vom 15. Januar 1987).
Mit der vom Revisionsgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung durch das Revisionsgericht statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Kläger kann von der Beklagten weder aufgrund von § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO noch gemäß der Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 zu § 1255a Abs 1 bis 3 RVO verlangen, die Zeit vom 1. November 1974 bis 31. Oktober 1975 rentensteigernd zu berücksichtigen.
Nach § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO bleiben Beiträge, die (ua) während einer anzurechnenden Ausfallzeit entrichtet worden sind, bei der Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage nach den Absätzen 1 und 3 der Vorschrift unberücksichtigt, wenn dies eine höhere Rente, bei Anwendung der Vorschriften über die Wanderversicherung eine höhere Gesamtleistung ergibt. Aufgrund von § 1255a Abs 1 RVO sind bei der Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage nach § 1255 RVO für jeden Kalendermonat (ua) Ausfallzeiten bestimmte, in Absätzen 2 und 3 der Vorschrift einzeln bezifferte Werte zugrunde zu legen. Das in beiden Vorschriften als Rechtsfolgenvoraussetzung genannte Tatbestandsmerkmal der Ausfallzeit, an das allein im Fall des Klägers eine Anwendung der Vorschriften anknüpfen könnte, ist nicht erfüllt. Die streitige Zeit ist keine Ausfallzeit iS des § 1259 RVO.
Eine Anerkennung als Ausfallzeit gemäß § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1a RVO scheidet aus. Nach dieser Vorschrift liegt eine Ausfallzeit ua dann vor, wenn eine versicherungspflichtige Beschäftigung durch Maßnahmen zur Rehabilitation vor dem 1. Januar 1984 unterbrochen worden ist und in der Zeit vom 1. Oktober 1974 bis 31. Dezember 1983 wegen des Bezuges von Übergangsgeld Versicherungspflicht nicht bestanden hat. Gemäß § 1227 Abs 1 Nr 8a Buchst c) RVO in der bis zur Aufhebung dieser Vorschrift mit Wirkung vom 1. Januar 1984 durch Art 1 Nr 25 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I S 1532) geltenden Fassung (= aF) waren Personen für die Zeit des Bezuges von Übergangsgeld pflichtversichert, denen ein sonstiger Träger der Rehabilitation mindestens einen Kalendermonat Übergangsgeld zahlte. Nach den mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit für das Revisionsgericht gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG ist an den Kläger während der Zeit seiner Umschulung in den Jahren 1974 bis 1978 Übergangsgeld gezahlt worden. Er war somit im streitigen Zeitraum pflichtversichert, so daß insoweit eine rentensteigernde Berücksichtigung einer Ausfallzeit iS des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1a RVO nicht in Betracht kommt.
Die büropraktische Ausbildung des Klägers bis Oktober 1975 kann auch nicht als Ausfallzeit iS des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4b RVO anerkannt werden, weil für diese Zeit Versicherungspflicht wegen des Bezuges von Übergangsgeld gemäß § 1227 Abs 1 Nr 8a Buchst c) RVO aF bestand. Insoweit besteht allerdings kein dahingehender Grundsatz, daß durch eine Versicherungspflicht eine Ausfallzeit stets ausgeschlossen sei. Zwar hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) ausgesprochen, daß keine Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1 RVO vorliegen könne, wenn für die fragliche Zeit Pflichtbeiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entrichtet worden seien. Er hat dies auch für die Nrn 2 bis 3 der Vorschrift angenommen (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 13). Im Anschluß hieran hat aber der 11. Senat des BSG entschieden, daß es nach dem Tatbestand des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG- (= § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4b RVO) nicht darauf ankomme, daß zur selben Zeit keine versicherungspflichtige Beschäftigung verrichtet worden ist. Er hat daraus den Schluß gezogen, daß eine Zeit ihrem Charakter nach sowohl Beitragszeit als auch Ausfallzeit sein kann, und daß Pflichtbeiträge das Vorhandensein einer Ausfallzeit für dieselbe Zeit nicht schlechthin ausschließen (vgl BSG SozR 2200 § 1259 Nrn 82 und 90). Der erkennende Senat hat sich in seinem Urteil vom 3. Oktober 1984 - Az: 5b RJ 96/83; SozR 2200 § 1255 Nr 21 - dieser Auffassung angeschlossen und hält hieran fest. Wie der 11. Senat indes ebenfalls ausgeführt hat, sind Ausbildungszeiten, die innerhalb eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zurückgelegt werden, keine Ausfallzeiten, sofern die Ausbildung im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses Inhalt der Arbeitspflicht ist. Daraus folgt, daß es lediglich bei einem bloßen Nebeneinander von Ausbildungszeit und Beschäftigungsverhältnis nicht ausgeschlossen ist, eine Ausfallzeit wegen Ausbildung anzunehmen. Dementsprechend hat der 11. Senat des BSG eine Ausfallzeit bejaht, wenn der Versicherte während der Zeit des Schulbesuches ohne gleichzeitige Arbeitsverpflichtung von seinem Arbeitgeber weitere Zahlungen erhielt, von denen Beiträge zur Pflichtversicherung abgeführt wurden (SozR 2200 § 1259 Nr 82), oder wenn der Versicherte während einer Studienzeit in Ost-Berlin pflichtversichert war, ohne daß gleichzeitig ein Beschäftigungsverhältnis bestand (SozR 2200 § 1259 Nr 90).
Ein gleichgelagerter und dementsprechend im selben Sinn zu entscheidender Fall lag beim Kläger nicht vor. Nach den mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG gehörte die zwölfmonatige büropraktische Ausbildung des Klägers bei der St. G. -S. zu einer rund vierjährigen Umschulung zum Bürokaufmann, die daneben ein Praktikum in einem Umschulungsbetrieb und weiteren theoretischen Unterricht umfaßte. Unabhängig von der Frage, ob die büropraktische Ausbildung zur Arbeitspflicht im Rahmen des Praktikums innerhalb des Umschulungsbetriebes gehörte, kann hier von einem bloßen Nebeneinander von Ausbildungszeit und Beschäftigungsverhältnis iS der oben zitierten Rechtsprechung nicht gesprochen werden. Die Versicherungspflicht ergab sich auch nicht allein aus dem Umfang der Ausbildung selbst, wie im genannten Fall des versicherten Ostberliner Studenten. Die Versicherungspflicht nach § 1227 Abs 1 Nr 8a Buchst c) RVO aF knüpfte vielmehr an den Bezug von Übergangsgeld im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme an. Zu Recht hat daher das LSG ausgeführt, daß hierdurch die gesamte Rehabilitationsmaßnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt wurde. Die büropraktische Ausbildung in der St. G. -S. bildete lediglich einen Teil dieser Rehabilitationsmaßnahme, der nicht isoliert für sich betrachtet werden kann. Die Folge ist, daß die streitige Zeit von November 1974 bis Oktober 1975 nicht als Ausfallzeit angesehen werden kann.
Nach alledem konnte die Revision des Klägers keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen