Leitsatz (redaktionell)
Die Vergünstigung des AnVNG Art 2 § 50 Abs 1 setzt eine Beschäftigung oder Tätigkeit voraus, die erst nach der Flucht im Geltungsbereich des Gesetzes aufgenommen worden ist.
Orientierungssatz
Eine Ersatzzeit nach AVG § 28 Abs 1 Nr 6 und eine anschließende versicherungspflichtige Beschäftigung vor der Vertreibung oder Flucht erfüllen die Voraussetzungen des AnVNG Art 2 § 50 nicht.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; AnVNG Art. 2 § 50 Fassung: 1965-06-09; ArVNG Art. 2 § 52 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. April 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, geboren am 8. November 1890, war von 1924 bis 1944 als Selbständiger in Magdeburg tätig. Seit 1. Februar 1946 leistete er als Selbständiger Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ), im Jahre 1953 flüchtete er aus Magdeburg in die Bundesrepublik Deutschland. Nach der Flucht war er nicht mehr versicherungspflichtig beschäftigt.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1957 an das Altersruhegeld; sie rechnete hierbei die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Januar 1946 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) an. Der Kläger wollte dann nach Art. 2 § 50 Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beiträge für die Zeit von 1924 bis 1944 nachentrichten, um einen Anspruch auf ein höheres Altersruhegeld zu erwerben. Die Beklagte verneinte aber mit Bescheid vom 16. Juli 1962 und mit dem Widerspruchsbescheid vom 8. März 1963 die Berechtigung des Klägers zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG, weil der Kläger nach seiner Flucht keine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen habe; sie hielt hieran auch in dem Bescheid vom 31. Dezember 1963 und in dem Widerspruchsbescheid vom 5. März 1964 fest.
Mit der Klage machte der Kläger geltend, die Beklagte habe seine Berechtigung zur Nachentrichtung von Beiträgen zu Unrecht verneint; er - der Kläger - habe sich nach seiner Flucht vergeblich um eine (abhängige) Arbeit bemüht, dies sei der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG gleichzustellen; außerdem habe er im Anschluß an die ihm als Flüchtling zuerkannte Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG, nämlich im Jahre 1946 eine versicherungspflichtige Beschäftigung in der SBZ ausgeübt, dies genüge den Erfordernissen des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG. Das Sozialgericht (SG) Köln wies die Klage durch Urteil vom 9. Juli 1965 ab. Die Berufung des Klägers wies das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 13. April 1966 zurück:
Der Kläger sei nicht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 2 § 50 AnVNG berechtigt, weil er nicht binnen drei Jahren nach seiner Flucht im Jahre 1953 eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen habe; vergebliche Bemühungen um eine abhängige Arbeit könnten die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, wie sie Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG vorschreibt, nicht ersetzen; die vor der Flucht liegende Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG und die daran anschließende versicherungspflichtige Tätigkeit in der SBZ könnten das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen nicht begründen.
Das LSG ließ die Revision zu.
Der Kläger legte fristgemäß und formgerecht Revision ein; er beantragte,
das Urteil des SG Köln vom 9. Juli 1965 und das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. April 1966 aufzuheben sowie die Beklagte - unter Aufhebung ihrer entgegenstehenden Bescheide - zu verurteilen, Beiträge für die Zeit von 1942 bis 1944 nach Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG entgegenzunehmen und diese Beiträge, sobald sie entrichtet sind, bei Berechnung des Altersruhegeldes des Klägers ab 1. Januar 1957 zu berücksichtigen.
Der Kläger rügte, das LSG habe Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG verletzt, es habe zu Unrecht angenommen, daß die versicherungspflichtige Tätigkeit, die er im Anschluß an die Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 seit 1946 in der SBZ ausgeübt habe, den Erfordernissen des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG nicht entspreche.
Die Beklagte beantragte,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist jedoch unbegründet.
Streitig ist, ob der Kläger nach Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG (= Art. 2 § 52 Abs. 1 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz - ArVNG -) Beiträge zur Angestelltenversicherung für die Zeit von 1924 bis 1944 nachentrichten darf, um dadurch einen Anspruch auf ein höheres Altersruhegeld zu erwerben. Diese Frage hat das LSG zu Recht verneint; es hat zu Recht entschieden, daß der Kläger die Vergünstigung des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG nicht beanspruchen kann.
Der Kläger ist Flüchtling im Sinne des § 3 des Bundesvertriebenengesetzes, vor der Flucht aus der SBZ im Jahre 1953 ist er als Selbständiger erwerbstätig gewesen; er gehört damit zwar zu dem Personenkreis des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG; daß er in der SBZ als Selbständiger pflichtversichert gewesen ist, schadet nichts (Urt. des BSG vom 23. Juli 1965, SozR Nr. 7 zu Art. 2 § 52 ArVNG). Der Kläger erfüllt aber die weitere Voraussetzung für die Anwendung des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG nicht, die darin besteht, daß der Flüchtling binnen drei Jahren nach der Flucht eine versicherungspflichtige, d.h. eine mit Pflichtbeiträgen belegte (Urt. des BSG vom 23. März 1965, SozR Nr. 6 zu Art. 2 § 52 ArVNG) Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen haben muß.
Die Voraussetzung der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit ist nicht - wie der Kläger meint - dadurch erfüllt, daß er im Anschluß an die ihm als Flüchtling zuerkannte Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG seit 1946 in der SBZ eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hat, die Vergünstigung des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG setzt eine Beschäftigung oder Tätigkeit voraus, die erst nach der Flucht im Geltungsbereich des Gesetzes aufgenommen worden ist (vgl. auch Urt. des BSG vom 23. Juli 1965, SozR Nr. 7 zu Art. 2 § 52 ArVNG). Das Gesetz knüpft die Vergünstigung für die früher Selbständigen an die Tatbestände der Vertreibung, der Flucht und Evakuierung; es beschränkt sie jedoch auf Personen, die "binnen drei Jahren nach der Vertreibung, Flucht oder der Evakuierung oder nach Beendigung einer Ersatzzeit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen haben". Eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 ist danach nur insofern beachtlich, als sie mit der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung beginnt und sich ihr anschließt. Liegt im Anschluß an die Vertreibung, Flucht oder Evakuierung ein Ersatzzeitentatbestand im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG vor, so wird dadurch der Beginn der Frist für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung aufgeschoben; nur insoweit ist die Ersatzzeit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG für die Anwendung des Art. 2 § 50 AnVNG bedeutsam.
Eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG und eine anschließende versicherungspflichtige Beschäftigung vor der Vertreibung oder Flucht erfüllen die Voraussetzungen des Art. 2 § 50 AnVNG nicht. Das entspricht dem Zweck der Vorschrift; Vertriebene und Flüchtlinge sollen ihren Versicherungsschutz durch Beitragsnachentrichtung erweitern können, wenn sie sich nach dem vertreibungsbedingten oder fluchtbedingten Verlust ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit dem Kreis der rentenversicherungspflichtigen Personen anschließen; erst nach ihrem (alsbaldigen) Eintritt in die Versichertengemeinschaft der neuen Heimat soll ihnen die Vergünstigung der Beitragsnachentrichtung offen stehen.
Sinn und Entstehungsgeschichte des Gesetzes lassen danach, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, deutlich erkennen, daß eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG zwar den Ablauf der dreijährigen Frist für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung aufschieben kann, daß sie aber nichts an dem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal ändert, wonach diese Beschäftigung nach der Vertreibung oder Flucht liegen muß.
Zu Recht hat auch das LSG in der Vorschrift des § 36 Abs.1 Nr. 4 AVG über die Anrechnung der Ausbildung als Ausfallzeit eine Stütze seiner Auffassung gesehen; auch in diesem Falle ist - wie das Gesetz hier ausdrücklich vorschreibt - nur eine sich der Ausbildung anschließende Ersatzzeit erheblich; auch hier hat diese Ersatzzeit die Bedeutung, den Beginn der Frist für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, von der die Anrechnung der Ausfallzeit abhängt, aufzuschieben.
Die Möglichkeit, Beiträge nachzuentrichten, ist durch Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG nur für die Personen geschaffen, die auf Grund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung Pflichtbeiträge geleistet haben (Urt. des BSG vom 23. März 1963, SozR Nr. 6 zu Art. 2 § 52 ArVNG). Der Kläger hat nach seiner Flucht im Jahre 1953 keine Pflichtbeiträge mehr geleistet. Die Leistung mindestens eines Pflichtbeitrages ist aber für die Vergünstigung des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG unerläßlich, das Gesetz läßt insoweit keine "Anpassung an individuelle Einzelumstände" zu; die Frage, aus welchen Gründen der Kläger nach seiner Flucht keine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, ist daher unerheblich.
Da das LSG zutreffend entschieden hat, ist die Revision nicht begründet; sie ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen