Leitsatz (redaktionell)
Auf den mutmaßlichen Willen des Versicherten kommt es bei der Zuordnung seiner freiwilligen Beiträge zur Zeit der Beitragsentrichtung an und nicht zur Zeit des Inkrafttretens der Rentenversicherungsneuregelung von 1957.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Juli 1962 wird aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. Oktober 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die dem Kläger mit Wirkung vom 1. Juli 1959 an bewilligte Rente wegen Berufsunfähigkeit nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften oder - wie es die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid getan hat - nach neuem, d. h. seit Januar 1957 geltendem Recht zu berechnen ist.
Der am 24. Dezember 1890 geborene Kläger war bis 1912 als Schlosser versicherungspflichtig beschäftigt. Nachdem er bis zum Ende des ersten Weltkrieges Wehrdienst geleistet hatte, heiratete er in einen landwirtschaftlichen Betrieb ein und wurde selbständiger Landwirt. Als solcher entrichtete er keine Beiträge mehr zur Invalidenversicherung. Er nahm freiwillige Beitragsleistungen erst im Jahre 1953 auf und entwertete die Marken für 1951 und 1952. Sowohl diese beiden Jahre als auch die folgenden bis einschließlich 1955 sind mit Beiträgen voll belegt, so daß für die Jahre 1951 bis 1955 insgesamt 60 Beitragsmonate zurückgelegt sind; zwei weitere im Jahre 1955 entrichtete Wochenbeiträge rechnete die Beklagte für das Jahr 1956 an.
Am 28. Dezember 1955 beantragte der Kläger erstmalig eine Rente. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 1. Februar 1956 ab, weil der Kläger noch nicht invalide sei und mit den seit 1951 entrichteten Beiträgen die für die Altersrente erforderliche längere Wartezeit von 180 Beitragsmonaten nicht erfüllt habe. Die hiergegen erhobene Klage nahm der Kläger am 7. Dezember 1956 zurück.
Im Jahre 1957 entrichtete der Kläger noch 24 freiwillige Wochenbeiträge und entwertete sie für 1956. Am 10. April 1957 beantragte er erneut Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter. Auch dieser Antrag wurde zunächst abgelehnt. Die hiergegen erhobene Klage führte zu einem Vergleich vom 18. Januar 1960 vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg; die Beklagte verpflichtete sich, Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juli 1959 an zu gewähren. In Ausführung des Vergleichs erteilte die Beklagte den mit der Klage angefochtenen Rentenbescheid vom 25. Februar 1960, in welchem sie die Rente - nach neuem Recht - mit monatlich 13,20 DM berechnete.
Mit der Klage verlangt der Kläger die Durchführung der Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 und Gewährung der Rente nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften. Das SG Lüneburg hat die Klage durch Urteil vom 23. Oktober 1961 mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe keinen Anspruch auf die sog. Vergleichsrente, weil er für die Jahre 1957 und 1958 - die Jahre vor dem Eintritt des Versicherungsfalls - nicht je neun Monatsbeiträge entrichtet habe.
Nachdem der Kläger während des Berufungsverfahrens - im Dezember 1961 - auf Anregung des Gerichts 18 Monatsbeiträge zu je 14,- DM vorsorglich nachentrichtet hatte, hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 25. Juli 1962 die Beklagte verpflichtet, "eine Doppelberechnung der Rente nach altem und neuem Recht vorzunehmen". Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe die Voraussetzungen des Art. 2 § 42 ArVNG erfüllt. Die Anwartschaft zum 1. Januar 1957 sei durch Entrichtung von mindestens 26 Wochenbeiträgen für jedes Kalenderjahr von 1951 an erhalten. Bei freiwilligen Beiträgen entscheide grundsätzlich der Wille des Entrichtenden darüber, für welche Wochen die Beiträge gelten sollten. Dieser Wille sei regelmäßig dahin auszulegen, daß die Beiträge innerhalb der Grenzen des § 1442 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF zur Heilung von Anwartschaftsmängeln anzurechnen seien; die auf den Marken angegebenen Entwertungstage seien nicht ausschließlich maßgebend. Als mutmaßlicher Wille des Klägers am 1. Januar 1957 müsse daher angesehen werden, daß von den im Jahre 1955 erworbenen und entwerteten Beiträgen nicht nur zwei, sondern 26 Beiträge für das Jahr 1956 anzurechnen seien. - Die für die Jahre 1957 und 1958 zu fordernden je neun Monatsbeiträge habe der Kläger noch im Dezember 1961 - innerhalb der wegen des von April 1957 bis Januar 1960 schwebenden Rentenverfahrens verlängerten Nachentrichtungsfrist - wirksam nachentrichtet.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte - die vom LSG zugelassene- Revision eingelegt. Sie hält die Voraussetzungen für die Durchführung der Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG nicht für erfüllt. Vor allem sei, so führt sie aus, die Anwartschaft zum 1. Januar 1957 aus den vorher entrichteten Beiträgen nicht erhalten gewesen. Dem LSG sei zwar darin beizupflichten, daß bei freiwilligen Beiträgen nicht in erster Linie das Entwertungsdatum, sondern der Wille des Versicherten darüber entscheide, für welche Zeit die Beiträge anzurechnen seien. Das LSG habe jedoch verkannt, daß es bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens auf die Zeit der Beitragsverwendung - hier das Jahr 1955 - ankomme. Damals habe der Kläger aber eindeutig die Absicht gehabt, durch Vollbelegung der Jahre von 1951 an möglichst bald und vor Eintritt der Invalidität die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten zu erfüllen, um überhaupt in den Genuß einer Rente kommen zu können. Dies ergebe sich auch daraus, daß er bereits am 28. Dezember 1955 einen Antrag auf Gewährung von Invalidenrente gestellt und den ablehnenden Bescheid vom 1. Februar 1956 mit der Klage angefochten habe. Deshalb hätte das LSG nicht von den für das Jahr 1955 entwerteten Beiträgen 24 für das Jahr 1956 anrechnen dürfen. Somit sei, weil der Kläger bis zum 1. Januar 1957 nicht mindestens 26 Wochenbeiträge für das Kalenderjahr 1956 entrichtet habe und die später entrichteten Beiträge nicht als im Jahre 1956 entrichtet gelten könnten, schon die erste Voraussetzung für die Vergleichsberechnung nicht erfüllt.
Außerdem fehle es an der wirksamen Entrichtung von je neun Monatsbeiträgen für die Jahre 1957 und 1958. Das Gesetz lasse es nicht zu, solche Beiträge noch nach dem Eintritt des Versicherungsfalles nachzuentrichten.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 23. Oktober 1961 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er pflichtet dem Urteil des LSG bei.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat schon deshalb keinen Anspruch auf die Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG, weil aus den vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen die Anwartschaft zu diesem Zeitpunkt nach den bis dahin geltenden Vorschriften nicht erhalten war.
Nach den Vorschriften über die Halbdeckung (§ 1265 RVO aF) war die Anwartschaft unstreitig nicht erhalten. Der Kläger hätte daher bis zum 31. Dezember 1956 für jedes Kalenderjahr mindestens 26 Wochenbeiträge entrichten müssen (§ 1264 Abs. 1 RVO aF). An diesem Erfordernis fehlt es jedoch für das Jahr 1956. In diesem Jahre hat der Kläger weder Beitragsmarken erworben noch hat er solche für das Jahr 1956 entwertet. Gleichwohl könnten - darin ist dem LSG beizupflichten - in den früheren Jahren entrichtete und damals zur Erhaltung der Anwartschaft nicht benötigte Beiträge für das Jahr 1956 angerechnet werden, sofern dies dem Interesse des Klägers und damit seinem mutmaßlichen Willen entspräche. Der mutmaßliche Wille des Versicherten für die zeitliche Zuordnung freiwilliger Beiträge ist jedoch entgegen der Rechtsauffassung des LSG nicht aus der Sicht der am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Rentenversicherungsneuregelung zu beurteilen, vielmehr ist dabei auf die Zeit der Beitragsentrichtung abzustellen. Wie das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt entschieden hat, kann Inhalt des mutmaßlichen Willens nur das sein, was eine die Verhältnisse überschauende Person zur Zeit der Markenentwertung erkennen konnte (BSG SozR RVO § 1264 aF Nrn. 5 und 6). Ende des Jahres 1955 mußte nach dem feststehenden Sachverhalt der Wille des Klägers darauf gerichtet sein, die bis dahin entrichteten freiwilligen Beiträge - abgesehen von zwei überzähligen Wochenbeiträgen - ausnahmslos für die Vergangenheit gelten zu lassen; denn anderenfalls hätte er mit seinem Antrag vom 28. Dezember 1955 auf Rentengewährung schon deshalb keinen Erfolg haben können, weil die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten nicht erfüllt gewesen wäre. Daß er sich hierüber auch im klaren war, hat der Kläger in seinem Schriftsatz vom 7. Januar 1963 eindeutig bestätigt; danach wollte er nach Entrichtung von 60 Monatsbeiträgen vom 1.1.1956 an rentenberechtigt sein. Das LSG hätte also über die bereits von der Beklagten berücksichtigten zwei Wochenbeiträge hinaus keine weiteren Beiträge des Klägers aus dem Jahre 1955 für das Jahr 1956 anrechnen dürfen.
Die 24 freiwilligen Wochenbeiträge, die der Kläger im Jahre 1957 für 1956 nachentrichtet hat, können nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nicht als anwartschaftserhaltend im Sinne des Art. 2 § 42 ArVNG angesehen werden (vgl. BSG 10, 139; 15, 271, 274), dies auch nicht aus dem Gesichtspunkt eines schwebenden Rentenverfahrens (vgl. BSG SozR ArVNG Art. 2 § 42 Nr. 9); denn das durch den Antrag des Klägers vom 28. Dezember 1955 in Gang gekommene Verfahren hatte am 7. Dezember 1956 durch Klagerücknahme seine Erledigung gefunden, so daß der Kläger hiernach noch Gelegenheit hatte, die zur Erhaltung der Anwartschaft fehlenden Beiträge im Jahre 1956 zu entrichten. Ob die Post in der Zeit zwischen dem 7. und 31. Dezember 1956 Beitragsmarken der für den Kläger in Betracht kommenden Klasse vorrätig hatte, bedarf keiner Prüfung. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wären die erst im Jahre 1957 nachentrichteten Beiträge nicht anwartschaftserhaltend zu berücksichtigen (BSG 15, 267; SozR ArVNG Art. 2 § 42 Nr. 13).
Ob es einer Beitragsentrichtung im Jahre 1956 gleichzuerachten wäre, wenn der Kläger sich vor dem 1. Januar 1957 bereit erklärt hätte, die zur Erhaltung seiner Anwartschaft zu diesem Zeitpunkt erforderlichen Beiträge nachzuentrichten, kann dahinstehen, weil eine solche Bereiterklärung weder vom LSG festgestellt noch vom Kläger behauptet worden ist.
Hiernach war am 1. Januar 1957 die Anwartschaft aus den bis zum Beginn des Jahres 1956 entrichteten Beiträgen erloschen; erhalten war sie nur aus zwei zulässigerweise für 1956 angerechneten Wochenbeiträgen. Diese vermögen aber nicht zur Rentenberechnung nach altem Recht zu führen, weil sie keine neue Wartezeit erfüllen, dies auch nicht unter Hinzurechnung der für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 entrichteten Beiträge (vgl. BSG 15, 271).
Die Klage ist somit unbegründet; ob die weitere Voraussetzung für die Vergleichsberechnung - wirksame Entrichtung von neun Monatsbeiträgen für jedes Kalenderjahr seit 1957 vor dem Eintritt des Versicherungsfalles - erfüllt ist, kann unentschieden bleiben. Das Urteil des LSG muß aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen