Leitsatz (amtlich)
Ist die Witwenrente - ausnahmsweise - höher als die Rente ohne Kinderzuschuß, die dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes zustand, so ist schon für das Sterbevierteljahr die Witwenrente zu gewähren.
Normenkette
RVO § 1268 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Sprungrevision gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 8. Dezember 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Es ist streitig, welche Leistungen die Klägerin aus der Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes für die ersten drei Monate nach seinem Tode (Sterbevierteljahr) zu beanspruchen hat.
Der Versicherte starb im Mai 1960; er hatte bis dahin Invalidenrente bezogen, zuletzt 135,60 DM monatlich. Die Beklagte gewährte der Klägerin zunächst die Rentenbezüge des Versicherten für das Sterbevierteljahr. Dann bewilligte sie ihr - auf den am 2. Juni 1960 gestellten Antrag hin - mit Bescheid vom 29. August 1960 die Witwenrente vom 1. September 1960 an in Höhe von 154,30 DM monatlich.
Mit der Klage begehrt die Klägerin die Witwenrente bereits vom 1. Juni 1960 an. Sie ist der Auffassung, die Versichertenrente dürfe, wenn sie ausnahmsweise niedriger sei als die Witwenrente, entgegen dem Wortlaut des § 1268 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht an deren Stelle treten.
Das Sozialgericht (SG) Köln hat durch Urteil vom 8. Dezember 1961 den angefochtenen Bescheid dahin geändert, daß "die Witwenrente der Klägerin am 1. Juni 1960 beginnt, unter Anrechnung der gezahlten Bezüge für das Sterbevierteljahr". Es hat ausgeführt: § 1268 Abs. 5 RVO verfolge den Zweck, die Witwe während einer Übergangszeit nach dem Tode des Ernährers günstiger zu stellen, als dies in der Regel durch die Gewährung von Witwenrente geschehe; dies werde im allgemeinen durch die befristete Weiterzahlung der Versichertenrente erreicht. Dieser Zweck würde aber vereitelt werden, wenn man sich in einem Falle wie dem zu entscheidenden nach dem Wortlaut des Gesetzes richte. Wortlaut und innerer Sinn des Gesetzes ständen sich entgegen. Dem Sinn des Gesetzes sei der Vorzug zu geben.
Das SG hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage die Berufung zugelassen.
Die Beklagte hat Sprungrevision eingelegt unter Beifügung der Einverständniserklärung der Klägerin. Sie tritt der Auffassung des SG, daß nach dem Sinn des Gesetzes die Witwe während des Sterbevierteljahres habe besser gestellt werden sollen, nicht entgegen, glaubt aber, daß der Wortlaut des Gesetzes eine solche Entscheidung nicht zulasse.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Sprungrevision ist zulässig, aber unbegründet.
Nach § 1268 Abs. 5 RVO tritt für das Sterbevierteljahr an die Stelle der Witwenrente die Rente - ohne Kinderzuschuß -, die dem Versicherten zur Zeit seines Todes zustand. Daraus entnimmt die Beklagte zu Unrecht, daß die Versichertenrente ausnahmslos, also auch wenn sie niedriger ist als die Witwenrente, diese Leistung ersetze. Gegen diese Auffassung ergeben sich schon aus der Systematik des Gesetzes Bedenken. Während die Absätze 1 und 2 des § 1268 RVO den Grundsatz aufstellen, daß die Witwenrente (nur) sechs Zehntel der Versichertenrente beträgt, normiert Abs. 5 eine die Witwe begünstigende Abweichung von jenem Grundsatz für das Sterbevierteljahr. Für diesen Zeitraum sollen also die sich aus der Grundregel ergebenden Bezüge der Witwe verbessert werden. Dieser Sinn des Gesetzes wird durch die Materialien zur Rentenversicherungsneuregelung des Jahres 1957 bestätigt. In der Begründung zu § 1272 Abs. 4 des Gesetzentwurfs (= § 1268 Abs. 5 des Gesetzes) ist ausgeführt, die in Anlehnung an das Recht der Beamtenversorgung (§ 122 aF des Bundesbeamtengesetzes) getroffene Neuregelung stelle eine wesentliche Leistungsverbesserung dar (Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, Drucksache 3080 S. 64 und zu Drucksache 3080 S. 15). Dieses sog. Gnadenvierteljahr dient mit zur Deckung der Kosten der letzten Krankheit und der Beerdigung, außerdem der Umstellung der Hinterbliebenen auf neue Lebensverhältnisse. Hiernach liegt dem § 1268 Abs. 5 RVO der Zweck zugrunde, die Witwe besser zu stellen als sie bei Anwendung der Absätze 1 und 2 stehen würde; dagegen hat der Gesetzgeber nicht beabsichtigt, die Leistungen für das Sterbevierteljahr nach oben unter allen Umständen auf den Betrag der Versichertenrente zu begrenzen. Ist die Witwenrente - ausnahmsweise - höher als die Versichertenrente und sind diese höheren Bezüge der Witwe jedenfalls vom vierten Monat nach dem Tode des Versicherten an zu gewähren, so würde eine Auslegung, welche die Witwe während des Sterbevierteljahres von den höheren Bezügen ausschließt, den Zweck des Gesetzes verfehlen. § 1268 Abs. 5 RVO muß daher so verstanden werden, daß er nur für den Regelfall gilt, nämlich für den Fall, daß die Witwenrente niedriger ist als die Versichertenrente. Wenn dies im Gesetz nicht eindeutig zum Ausdruck gekommen ist, so ist dies augenscheinlich darauf zurückzuführen, daß man bei der Fassung des Gesetzes nicht mit der Möglichkeit gerechnet hat, die Witwenrente werde in einzelnen, seltenen Fällen über den Betrag der Versichertenrente hinausgehen können. Die Versichertenrente darf daher nicht an die Stelle der Witwenrente treten, wenn sie niedriger ist als diese Rente. Die gegenteilige Auffassung wäre auch kaum damit zu vereinbaren, daß eine nach § 1265 RVO rentenberechtigte geschiedene Frau - sie ist in § 1268 Abs. 5 RVO nicht aufgeführt - schon im ersten Monat nach dem Tode des Versicherten die Hinterbliebenenrente auch dann in voller Höhe erhält, wenn diese Rente die Versichertenrente übersteigt. Es ist kein Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, die Witwe gegenüber der geschiedenen Frau zu benachteiligen.
Daß die vom Senat vertretene Auffassung der Vorstellung zumindest der Bundesregierung als des Initiators der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze von 1957 entspricht, bestätigt der Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen (Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/2572). Dieser will durch eine entsprechende Ergänzung des § 1268 Abs. 5 RVO "sicherstellen", daß die Versichertenrente nur dann während des Sterbevierteljahres an die Stelle der Witwenrente tritt, wenn diese niedriger ist als die Versichertenrente (Art. 1 § 1 Nr. 15 Buchst. c des Entwurfs).
Hiernach muß die Sprungrevision der Beklagten zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen