Leitsatz (amtlich)
"Letzter Beitrag" iS der RVO § 1311 Abs 1 S 1, AVG § 90 Abs 1 S 1 ist der Beitrag, der zur Zeit der Antragstellung der Letzte ist.
Normenkette
RVO § 1311 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-07-27; AVG § 90 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-07-27
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. März 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) und die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) streiten darüber, was unter "letztem Beitrag" im Sinne des § 1311 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 90 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu verstehen ist und wer von ihnen dem Kläger Rente zu gewähren hat.
Für den wegen eines aktiven rechtsseitigen Lungenprozesses von Februar 1954 bis Mai 1956 in verschiedenen Krankenhäusern und Heilanstalten behandelten und schließlich operierten Kläger sind Pflichtbeiträge bis zum 1. Februar 1954 zur Invalidenversicherung (JV) und vom 13. September 1957 an zur Angestelltenversicherung (AnV) auf Grund einer Tätigkeit als technischer Zeichner entrichtet. Die Beklagte lehnte den am 25. Juli 1957 bei ihr gestellten Rentenantrag des Klägers ab, weil bereits seit 1954 Invalidität vorliege und mit den bis dahin entrichteten Beiträgen die gesetzliche Wartezeit nicht erfüllt sei (Bescheid vom 24. Mai 1960).
Das Sozialgericht (SG) hat auf die dagegen erhobene Klage die Beklagte antragsgemäß verurteilt, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. November 1959 an zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 28. März 1963). Die Vorinstanzen haben den Kläger als spätestens von August 1958 an wieder berufsfähig angesehen; erst im November 1959 sei er erneut erwerbsunfähig geworden, so daß mit den inzwischen zur AnV entrichteten Beiträgen nunmehr die Wartezeit erfüllt sei. Für die Feststellung und Zahlung der Leistung hielten sie die beklagte LVA für zuständig und passiv legitimiert, da im Zeitpunkt der Antragstellung der letzte Beitrag des Klägers zur Arbeiterrentenversicherung (ArV) entrichtet war; auch nach dem vor der jetzigen Zuständigkeitsregelung des § 1311 RVO und § 90 AVG geltenden Wanderversicherungsabkommen vom 12. Juni 1944 habe sich die Zuständigkeit danach bestimmt, an welchen Versicherungsträger der letzte Beitrag vor der Antragstellung entrichtet worden sei.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision. Der "letzte Beitrag" sei, so meint sie, derjenige im Zeitpunkt der Bescheiderteilung.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. März 1963 sowie des Sozialgerichts Hamburg vom 14. Juni 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens dem unterliegenden Versicherungsträger aufzuerlegen.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Nach § 1311 Abs. 1 Satz 1 RVO, § 90 Abs. 1 Satz 1 AVG ist bei Wanderversicherten für die Feststellung und Zahlung der Leistung der Träger des Versicherungszweiges zuständig, an den der letzte Beitrag entrichtet ist. Diese Vorschriften lassen offen, ob "letzter Beitrag" der letzte Beitrag im Zeitpunkt der Antragstellung oder derjenige im Zeitpunkt der Bescheiderteilung ist. Hierfür ist von Bedeutung, was im vorliegenden Zusammenhang unter "Feststellung" zu verstehen ist. Der Begriff "Feststellung" wird in der RVO sowohl für das gesamte Verfahren zur Feststellung der Leistungen durch die Versicherungsträger gebraucht (zu vgl. die Überschriften vor § 1545 RVO) als auch für die Entscheidung des Versicherungsträgers (§§ 1568 ff und 1630 ff RVO). Daß im vorliegenden Zusammenhang jedoch mit "Feststellung" das gesamte, in den Rentenversicherungen der Arbeiter wie der Angestellten mit dem Leistungsantrag beginnende Feststellungsverfahren gemeint ist, und daß "letzter Beitrag" der letzte Beitrag im Zeitpunkt der Antragstellung ist, ergibt sich einmal daraus, daß nur diese Auslegung sinnvoll ist und zu zweckmäßigen Ergebnissen führt. Würde man unter "letztem Beitrag" denjenigen im Zeitpunkt der Bescheiderteilung verstehen, müßten Beiträge, die für den Versicherten zwischen der Antragstellung und der Bescheiderteilung an einen Träger eines anderen Versicherungszweiges entrichtet wären, zwangsläufig einen Zuständigkeitswechsel des Versicherungsträgers herbeiführen. Außerdem wären alsdann vor jeder Bescheiderteilung durch den angegangenen Versicherungsträger noch Ermittlungen darüber erforderlich, ob der Versicherte bis zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung etwa an den Träger eines anderen Versicherungszweiges noch Beiträge entrichtet hätte.
Das bei dieser Auslegung gewonnene Ergebnis, daß die mit der Antragstellung begründete Zuständigkeit während des Feststellungs- und Zahlungsverfahrens unverändert fortdauert, steht auch mit dem sonst im Verfahrensrecht bekannten Grundsatz, eine einmal begründete Zuständigkeit bei Veränderung der sie begründenden Umstände bestehen zu lassen - perpetuatio fori - (z. B. § 263 Abs. 2 Nr. 2 der Zivilprozeßordnung, §§ 43, 45 Abs. 5 des Gesetzes über Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit - FGG -, § 90 Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VerwGO -, § 94 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, §§ 326, 325 des Lastenausgleichsgesetzes - LAG -) in Einklang (vgl. Komm. zur RVO, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 6. Aufl., Anm. 4 zu § 1311).
Die Auslegung, daß "letzter Beitrag" nur derjenige im Zeitpunkt der Antragstellung ist, findet zudem eine Stütze in § 1311 Abs. 1 Satz 2 RVO und § 90 Abs. 1 Satz 2 AVG, wonach bei der letzten gleichzeitigen Beitragsentrichtung an mehrere Versicherungszweige der zuerst angegangene Versicherungsträger zuständig ist. Auch hier ist die Zuständigkeit aus Gründen der Zweckmäßigkeit von der Tatsache der Antragstellung, also von dem Beginn des Feststellungsverfahrens, abhängig gemacht.
Der Senat sieht sich in seiner Auslegung bestätigt durch die bis zu dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze (1. Januar 1957) gültige Regelung der Nr. 1 Abs. 1 letzter Satz des Wanderversicherungsabkommens vom 12. Juni 1944 - AN 1944, 246 -, wonach, sofern nicht mindestens 60 Beiträge zur AnV nachgewiesen waren, die zur Zeit der Antragstellung entrichteten Beiträge für die Zuständigkeit des Versicherungsträgers maßgebend waren. Es ist nämlich kein Grund dafür ersichtlich, daß der Gesetzgeber durch § 1311 Abs. 1 Satz 1 RVO, § 90 Abs. 1 Satz 1 AVG von dieser einfachen und zweckmäßigen Regelung abgehen wollte.
Diesem Auslegungsergebnis stehen die Entscheidungen des 1. Senats des Bundessozialgerichts vom 15. März 1961 - 1 RA 173/57 - (BSG 14, 86, 90) und des 4. Senats des BSG vom 1. Juli 1965 - 4 RJ 7/61 - (SozR § 1311 Nr. 5) nicht entgegen. In diesen Entscheidungen ist lediglich ausgesprochen, daß spätere Ereignisse, die nach Ergehen des Bescheides im Laufe des Rentenstreitverfahrens eintreten, die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers nicht beeinflussen können.
Auch aus dem Rentenversicherungs-Finanzausgleichsgesetz vom 23. Dezember 1964 (BGBl I 1090) ergibt sich nichts Gegenteiliges. Dieses Gesetz berührt die Zuständigkeit eines Rentenversicherungsträgers für die Feststellung und Zahlung einer Leistung nicht. Es regelt allein die Aufteilung der Bundeszuschüsse neu (vgl. Schewe, Das Rentenversicherungs-Finanzausgleichsgesetz, BABl 1965, 139).
Da der Kläger im Zeitpunkt der Antragstellung Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtet hatte, war die Beklagte gemäß §§ 1311 Abs. 1 Satz 1 RVO, 90 Abs. 1 Satz 1 AVG dafür zuständig, die Rente des Klägers wegen Erwerbsunfähigkeit festzustellen und sie ihm zu zahlen. Dies hat das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend ausgesprochen. Deshalb mußte die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen